Anfänge bürgerlicher Ideologie

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von Dr. Anton Szanya

 

Der Sturz des Weltenherrn

Im Morgengrauen des 7.9.1303 drangen einige Gruppen Bewaffneter in die mittelitalienische Stadt Anagni ein, deren Stadttore durch Verrat geöffnet worden waren. In wildem Häuserkampf eroberten sie nach und nach die Paläste einiger Kardinäle, denen in einigen Fällen nur die Flucht durch die Latrinen das Leben rettete. Am Abend fiel schließlich auch der hartnäckig verteidigte Palast des Papstes in die Hände der Angreifer. Einer ihrer Anführer, Giacomo „Sciarra“ COLONNA, nahm den ihm in vollem Ornat entgegentretenden Papst BONIFATIUS VIII.1 gefangen, wobei er ihn hart zu Boden schlug und nur das Dazwischentreten des französischen Kanzlers Guilleaume de NOGARET, der den Papst seinem König lebend vorführen wollte, jenem das Leben rettete.2

Mit der Gefangennahme des Papstes brach der von ihm noch im Jahr zuvor in der Bulle „Unam sanctam“ erhobene Anspruch, nicht nur geistlicher, sondern auch weltlicher Oberherr der Christenheit zu sein, über Nacht zusammen. Der zweite Nachfolger BONIFATIUS’ VIII., CLEMENS V.3 verlegte seinen Sitz nach Avignon in der Provence, damit aller Welt anzeigend, daß das Papsttum zum Vasallen des französischen Königs geworden war. Bis zum Jahr 1377 residierten die Päpste in Avignon. Die Rückkehr des Papstes GREGORIUS XI.4 nach Rom führte nach seinem kurz danach eingetretenen Tod zu einer Spaltung der Kirche, da die französischen Kardinäle die Wahl von URBANUS VI.5 nach einigem Zögern nicht anerkannten, sondern den Kardinal ROBERT von Genf zum Papst wählten, der den Namen CLEMENS VII.6 annahm und seinen Sitz wieder in Avignon nahm. Bis zum Jahre 1417 regierten zwei Päpste, jeweils einer in Rom und einer in Avignon, von denen jeder von sich behauptete, der rechtmäßige Papst zu sein und den jeweils anderen mit dem Bannfluch belegte. Um dieser Doppelherrschaft ein Ende zu machen, beriefen schließlich die Kardinäle beider Päpste im Jahre 1409 ein Konzil nach Pisa ein, das beide Päpste für abgesetzt erklärte. Jedoch weigerten sich beide abzudanken. Mit der Wahl von ALEXANDER V.7 und von JOHANNES XXIII.8 durch das Konzil von Pisa wurde die Situation noch verschlimmert, denn nun gab es drei Päpste.

Als es auf dem Konzil von Konstanz gelang, mit MARTINUS V.9 einen allgemein anerkannten Papst zu wählen und damit die Spaltung der römischen Kirche zu beenden, waren die Risse in der westlichen Christenheit allerdings nicht mehr zu kitten.

Die Krise der Kirche zog auch die allgemeine Gültigkeit und Verbindlichkeit der kirchlichen Interpretation der christlichen Lehren in Mitleidenschaft. Die intellektuell führenden Köpfe Europas suchten nach anderen Wertesystemen, die in diesen wirren Zeiten Halt und Orientierung geben könnten. Wie häufig in derartigen historischen Situationen wurde der Blick bei dieser Suche auch damals zuerst in die Vergangenheit gerichtet.

Die eine Möglichkeit einer Rückschau war die auf die Fundamente der christlichen Religion, beziehungsweise auf das, was man damals allgemein dafür hielt. Viele Gelehrte wandten ihre Aufmerksamkeit verstärkt der Bibel zu und zogen im Lichte der politischen Situation neuartige Schlußfolgerungen. So kam etwa der englische Geistliche John WICLIF (1328 - 1384) unter der Annahme, mit der Bibel Gottes Wort vor sich zu haben, zu der Erkenntnis, daß die wahre Kirche allein die spirituelle Gemeinschaft der Gläubigen in Christo sei, während Papsttum, Hierarchie und Dogma Werke des Antichrist sein müßten. Um seinen Ansichten eine allgemeine Verbreitung zu ermöglichen, übersetzte er die Bibel ins Englische und er fand auch in den „Lollharden“ eine breite Anhängerschaft, deren Unruhen und Aufstände die römische Kirche in England nachhaltig erschütterten.

Die Theorien WICLIFS wurden vor allem durch den tschechischen Priester Ján HUS (1369 - 1415) in Mitteleuropa und hier vor allem in Böhmen verbreitet. Auch dort führten die Predigten von HUS und seinen Anhängern zu Tumulten und Unruhen. In Verkennung der gesellschaftlichen Sprengkraft der HUSschen Lehren glaubte die Kirchenführung auf dem Konzil von Konstanz, wohin HUS unter Zusicherung freien Geleits vorgeladen worden war, die Bewegung mit der Tötung ihres führenden Mannes unterdrücken zu können. Das Gegenteil war der Fall. Mit seiner Verbrennung als Ketzer wurde HUS zum Märtyrer des tschechischen Volkes, das sich ab dem Jahr 1419 in den fast zwanzig Jahre dauernden Hussitenkriegen gegen das römische Papsttum und seinen weltlichen Arm, das römische Kaisertum, zur Wehr setzte.

Das „Rinascimento“

Im Falle Italiens - wobei in jener Zeit unter Italien eine geographische Einheit, aber kein einheitlicher Staat zu verstehen war -, das als Hauptland des Papsttums besonders stark von dessen Zerrüttung betroffen war, fiel der suchende Blick in die Vergangenheit gewissermaßen selbstverständlich auf die Epoche der Antike, die als Bestandteil der eigenen Geschichte aufgefaßt wurde. Mit verstärktem Interesse wandten sich die Gelehrten der antiken Philosophie und Geschichte zu. Diese Beschäftigung mit der Antike brachte vor allem zwei Wertvorstellungen jener Zeit wieder in das allgemeine Bewußtsein zurück: den Ruhm und die Gemeinschaft der Bürger, die civitas.

DER „MYTHOS VOM RUHM“

Der Verfall der kirchlichen Lehre und die daraus sich ergebenden Zweifel an ihrer Wahrheit blieb nicht ohne Auswirkungen auf die Lebenseinstellungen breiterer Kreise. Die Unsicherheit über ein allfälliges Weiterleben nach dem Tode im Sinne der christlichen Lehren, wonach ein gemäß den moralischen Regeln geführtes Leben auf Erden der Seele den Einzug in das himmlische Paradies und ein ewiges Leben in seliger Anschauung Gottes erwirken würde, ließ das narzißtische Streben in den Menschen nach Unsterblichkeit10 nach

 


 

1 Benedetto CAETANO, 1235 - 1303; Papst seit 1294.
2 Johannes Haller: Das Papsttum; Idee und Wirklichkeit. Bd V: Der Einsturz (1943). Reinbek: Rowohlt 1965. S. 156 f.
3 Raymond Bertrand de GOT, ? - 1314; Papst seit 1305.
4 Pierre Roger de BEAUFORT, 1329 - 1378; Papst seit 1370.
5 Bartolomeo PRIGNANO, 1318 - 1389; Papst seit 1378.
6 1342 - 1394; Papst seit 1378.
7 Petros PHILARGIS, 1340 - 1410; Papst seit 1409.
8 Baldassarre COSSA, 1370 - 1419; Papst 1410 - 1415.
9 Oddone COLONNA, 1368 - 1431; Papst seit 1417.
10 Vergleiche dazu Anton Szanya: Magische Helfer, strahlende Helden, finstere Gesellen; Betrachtungen zur politischen Bildersprache, in: der freidenker 1(1997. S. 32 ff.


anderen Möglichkeiten seiner Befriedigung suchen. Die Rückbesinnung auf die klassische Antike brachte für die Angehörigen der damals führenden Schichten denn auch eine recht zufriedenstellende Lösung dieses Problems zustande, nämlich den „Mythos vom Ruhm“11. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts begannen vereinzelte Machthaber, ihre Grabmale aus den Kirchen hinaus ins Freie zu verlegen. Das bekannteste Beispiel dafür lieferten die Herren von Verona CANGRANDE (gestorben 1329), ALBERTO und MASTINO II. (gestorben 1351) aus der Familie della SCALA, deren prunkvolle Grabstätten neben der Kirche Santa Maria Antica stehen und zu einer das Stadtbild prägenden architektonischen Einheit zusammengewachsen sind. Eine andere Ausdrucksform des Mythos vom Ruhm war der Aufschwung der Porträtmalerei und Porträtskulptur, weil viele bedeutende oder sich für bedeutend haltende Männer mit ihrer Hilfe ihre leibliche Erscheinung über die Zeiten hinweg bewahrt sahen.

DER BÜRGERHUMANISMUS

Der Blick zurück in die Antike hatte jedoch in dem Maße auch unmittelbar politische Auswirkungen, indem er sich vom Glanz des römischen Imperatorentums nicht mehr blenden ließ und der republikanischen Staatsform Roms und mit zunehmender Kenntnis der griechischen Geschichte auch des demokratischen Athens ansichtig wurde. Es waren vor allem die besonderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse Nord- und Mittelitaliens, die den Blick für diesen frühen Abschnitt der antiken Geschichte schärften. Seit dem 11. Jahrhundert erlebten diese Regionen Italiens einen stetigen Bevölkerungszuwachs. In seiner Folge kam es einerseits zu einem verstärkten Zuzug von Menschen in die Städte, von denen viele ihren Ursprung bis in die Antike zurückführen konnten, und zu umfangreichen Bodenverbesserungs- und Rodungsmaßnahmen, die von diesen Städten in ihrem Umland durchgeführt wurden, um dem steigenden Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten nachzukommen. Die daraus erwachsende Notwendigkeit, allfällige Überschußgüter auszuführen beziehungsweise in Mangelzeiten anderswoher die erforderlichen Güter zu bekommen, bewirkte die Ausgestaltung eines regen Handelsverkehrs, der im Verein mit dem Fernhandel zwischen dem Nahen Osten und Westeuropa, für den die italienischen Städte besonders seit den Kreuzzügen des 12. und 13. Jahrhunderts wichtige Umschlagplätze wurden, zur Ausbildung zweier Gesellschaftsschichten führte, deren Lebensinteressen zunehmend um irdische Dinge kreisten. der Kaufleute und der Juristen.12 Zur Bedeutung der Juristen der Juristen, die für die Beurkundung der Handelsgeschäfte und die Regelung von Streitfällen unentbehrlich waren, schrieb Denys HAY: „Die Wichtigkeit des Juristenberufs bedeutet auch, daß das Hauptinteresse in Italien auf das Konkrete gerichtet war, eher auf die praktischen Probleme der Regierung und Verwaltung als auf metaphysische und theologische Fragen. Das heißt auch, daß der Unterricht an den Universitäten auf ältere Studenten abgestimmt war und daß er sich zur praktischen Anwendung für die Erlernung der Redekunst vor Gericht eine Verknüpfung von Grammatik und Rhetorik zum Ziel gesetzt hat. Das bedeutet auch, daß die meisten dieser Studenten nicht einmal eigentlich Geistliche waren ... Die Betonung der Rechtsstudien begünstigte einen weltlichen Zug im geistigen Leben der Halbinsel, wenn nicht gar umgekehrt diese Betonung daraus entsprungen war.“13

Die Weiterentwicklung des allgemeinen Bildungs- und Wissensinteresses an der Antike zur politischen Ideologie erfolgte dann in Florenz, als die Stadtrepublik in den Jahren von 1397 bis 1402 fast allein auf sich gestellt den Angriffen des Giangaleazzo VISCONTI (1351 - 1402; Herr von Mailand seit 1378, Herzog seit 1395) standhielt und damit die Aufrichtung eines norditalienischen Königreiches vereitelte. Unter dem Eindruck dieser Kriegsjahre entstand die Ideologie des Bürgerhumanismus14, derzufolge allein die klassische Bildung und die daraus abgeleitete Staatsbürgertugend des Bürgertums zur Übernahme eines politischen Amtes und zur Ausübung von Macht berechtigten.

Coluccio Salutati - ein Mann zwischen Mittelalter und Neuzeit

Mit Coluccio SALUTATI (1331 - 1406) wurde die Hinwendung zur Antike für das politische Denken des 14. Jahrhunderts nachhaltig und für lange Zeit fruchtbar. Nach seinen juristischen Studien in Bologna schlug SALUTATI wie die meisten Männer seines Faches die politische Laufbahn in der Art ein, daß er in verschiedenen Orten Ober- und Mittelitaliens Notariatsstellen, Richterposten und Kanzlerämter bekleidete. Im Jahre 1375 wurde er zum Kanzler der Republik Florenz bestellt und hatte diese Stelle bis zu seinem Tode inne. Aus dem umfangreichen Schrifttum, das Coluccio SALUTATI hinterlassen hat, läßt sich sein Weg von der christlich-mittelalterlichen Lebensauffassung zu den neuen Bildungsinhalten beispielhaft nachvollziehen.

Von der „vita contemplativa“ zur „vita activa“

Coluccio SALUTATI war sich des Widerspruchs zwischen seinem Leben in der Öffentlichkeit und dem Leitbild eines Lebens in klösterlicher Weltabgeschiedenheit, wie es der nach dem Grundsatz des „vacare Deo“, des Freiseins für Gott, lebende, sich als „status perfectionis“, als der Stand der Vollkommenheit, verstehende Mönchsstand vorzeigte, bewußt. Immer wieder kreisten daher seine Gedankengänge auf der Suche nach einer sittlichen Begründung für sein politisches Wirken um diesen Widerspruch.

In seinen diesbezüglichen Überlegungen ging SALUTATI von einem idealen Urzustand aus, den er sowohl im Alten Testament als auch bei den antiken Schriftstellern beschrieben fand: dort ist es das Paradies, hier das Goldene Zeitalter. Trotz aller Unterschiede in der Darstellung dieser glücklichen Urzeit des Menschengeschlechts fand er zwei Gemeinsamkeiten: Die Menschen ernährten sich von den Früchten der Natur und sie mußten infolgedessen nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Die Menschen folgten in dieser fernen Vergangenheit daher noch ihrer gottgewollten Bestimmung und widmeten sich der Betrachtung der ewigen Dinge. Die Anachoreten der frühchristlichen Zeit, von denen wahre Wunder an Weltentsagung berichtet werden, und die Einsiedler in seiner Gegenwart strebten daher nach SALUTATIS Ansicht richtigerweise danach, diesem Idealzustand wieder möglichst nahe zu kommen, denn eine Lebensführung, die über eine Beschränkung auf das Notwendigste hinausgeht, ist vom Bösen.15

 


 

11 Ruggiero Romano, Alberto Tenenti: Die Grundlegung der modernen Welt; Spätmittelalter, Renaissance, Reformation. Frankfurt am Main: Fischer 1967. S. 124/125. (= Fischer Weltgeschichte, Bd 12.)
12 Ausführlicher über diese Entwicklung Daniel Waley: Die italineischen Stadtstaaten (The Italian City Republics). München: Kindler 1969. S. 13 - 56.
13 Denys Hay: Geschichte Italiens in der Renaissance (The Italian Renaissance in Its Historical Background, 1961). Stuttgart: Kohlhammer 1992. S. 66/67.
14 Dieser Begriff wurde in englischer Sprache („civic humanism“) geprägt von Hans Baron: The Crisis of the Early Italian Renaissance; Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. Princeton, NJ, 2 Bde 1955.
15 „Quicquid ultra est a malo.“ [Coluccio Salutati: De seculo et religione, ed. B. L. Ullman. Firenze o.J. S. 80. (= Nuova collezione di testi umanistici inediti o rari, Bd 12.)]


SALUTATI hing in dieser Hinsicht einer kulturfeindlichen Haltung an, da ohne Arbeit, die auf mehr als die kärglichste Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzielt, keine Kultur möglich ist. Arbeit, die über dieses Mindestmaß hinausgeht, ist zwangsläufig auf irdische Ziele gerichtet und darum auch eine Verfallserscheinung im Vergleich zur idealen Urzeit, weil sie die Menschen von ihrer alleinigen Sorge um ihr Seelenheil ablenkt und, indem sie Eigentum und Besitz schafft, auch noch voneinander trennt. „Damals wurden die früher nicht bekannten streitbehafteten Wörter eingeführt, die den Frieden der Sterblichen stören und auch den Menschen den Weg in den Himmel versperren, die Wörter, die die Urheber der Ruhmsucht und Streitsucht sind, nämlich ‘mein’ und ‘dein’.“16

Wenngleich der glückliche Urzustand ein für allemal vorbei ist und nicht mehr wiederhergestellt werden kann, sah sich SALUTATI als Christ dennoch verpflichtet, der ursprünglichen Berufung des Menschen nachzukommen. Diese liegt in der jedweder irdischen Tätigkeit abgewandten Betrachtung der ewigen Ding, in der „vita contemplativa“: „Ich weiß ..., daß das Leben jener, die die göttlichen Dinge, die über alles und vor allem zu schätzen wir angehalten und verpflichtet sind, betrachten, erhabener und vollkommener ist als das derer, die von Geschäftigkeit erfüllt sind. Weil jene Gott schauen und betrachten, diese aber ... dem Geschaffenen dienen und fronen ... Das beschauliche Leben ist vollkommener, ja es ist sogar von ununterbrochener Dauer, weil, wie die Wahrheit sagt, Maria den besten Teil gewählt hat, der nicht von ihr genommen werden wird ..., es ist erhabener durch die Höhe der Gedanken, es ist lieblicher durch die Süße der Ruhe und Meditation ..., es ist göttlicher, da es ja Göttliches eher als Menschliches zum Inhalt seiner Betrachtungen hat, es ist auch edler, da es den Verstand, den edleren Teil der Seele, übt, der einzig und allein dem Menschen zukommt unter den Lebewesen ...“17 SALUTATI gab sich dementsprechend auch sehr zerknirscht darüber, daß er nicht das bessere Leben gewählt hatte. „Ich schäme mich daher, ich schäme mich ..., das Unsterbliche dem Sterblichen zu unterwerfen, dem Fleische zu verfallen und der Vernunft nicht zu glauben. Ich schäme mich deswegen, weil es die Art der Tiere ist, von den Sinnen gelenkt zu werden, es aber eine Eigenschaft des Menschen ist, dessen erhobenes Antlitz in den Himmel blickt, die Sinne zu besiegen, der Welt zu entsagen und den Himmel zu erstreben.“18 Ganz in der Tradition der christlichen Weltanschauung war für Coluccio SALUTATI die „vita contemplativa“ die vollkommene Lebensform des Menschen, die ihm allein angemessen wäre. Er erhob sie in die Sphäre der Engelsgleichheit: „Wenn aber der Trieb ohne Zwang widerstandslos mit dem Verstande zusammenwirkt, dann geht dieses Leben über das Maß des Menschen hinaus und es muß engelsgleich genannt werden und nicht menschlich.“19

Unversehens klang da in SALUTATIS Hohem Lied der „vita contemplativa“ ein falscher Ton an. Hier, an dieser Stelle, setzte auch die Wende in SALUTATIS Denken ein. Denn welcher Mensch kommt schon der Seelenstärke und Erkenntnisfähigkeit eines Engels nahe? Keiner. Somit erscheint auch kein Mensch zum kontemplativen Leben berufen. Wenn diese Lebensform ein so hohes, so unerreichbares Ideal ist, dann ist es letzten Endes auch unvernünftig, seine Bemühungen auf die Erreichung dieses Zieles zu richten. So kam SALUTATI denn auch zu dem Schluß: „Ich gebe zu, daß das beschauliche Leben wohl besser, doch nicht immer und für alle annehmbarer ist. Von geringerem Wert ist das tätige Leben, aber für den, der vor die Wahl gestellt ist, viel öfter vorzuziehen.“20

Wenn nun das Ideal der „vita contemplativa“ fragwürdig zu sein schien, mußte die tatsächliche Bestimmung des Menschen doch in der „vita activa“ liegen. Ja mehr noch, es schien SALUTATI auch gar nicht wünschenswert, daß sich jemand in so vollkommenem Maß der Kontemplation verschreibt. „Wird nicht ein in Betrachtung Versunkener“, so fragte er, „ein ganz Gott Zugewandter, so sein, daß ihn das Unglück seines Nächsten nicht bewegt, daß er über den Tod seiner Angehörigen nicht trauert, daß er über den Untergang des Vaterlandes nicht klagt? Wer schließlich so wird und sich so vom Umgang mit den Sterblichen fernhält, der kann nicht als Mensch angesehen werden, sondern nur mehr als ein Baumstamm und unnützes Holz, als steinige Klippe und härtester Fels ...“21

Dieser Zweifel SALUTATIS am Wert der „vita contemplativa“ wurde aus zwei Quellen gespeist. Die eine war die christliche Nächstenliebe, die eine Weltabgewandtheit, die zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Los der Nächsten führt, für bedenklich halten mußte. Die andere entsprang der antiken Philosophie, die den Menschen als gesellschaftsverbundenes Wesen ansah, dem das Schicksal der Gemeinschaft, in der er lebt, ein Anliegen sein muß. Auf diesen beiden Ebenen entfaltete SALUTATI seine Verteidigung der „vita activa“:

Von christlicher Warte aus gesehen, wäre die Entscheidung eines Menschen für die „vita contemplativa“ nur zu billigen, wenn das beschauliche Leben dem Seelenheil wirklich dienlich wäre. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn man sich aus unrechten Motiven aus der

 


 

16 „Sublata tunc erant, imo nondum reperta, illa duo litigiosa vocabula que mortalium pacem perturbant queve claudunt hominibus viam in celum, que sunt avaricie famites et contentionum autores, scilicet ‘meum’ et ‘tuum’.“ (Coluccio Salutati: De seculo, a.a.O. S. 81)
17 „scio ... sublimiorem et perfectiorem esse vitam contemplantium illud divinum obiectum, quod super et ante omnia debemus et iubemur diligere, quam eorum qui sunt in actionibus occupati. Siquidem illi Deum contemplantur et amant; isti vero ... ministrant et serviunt creature, .,.. sit contemplativa perfectior, quoniam sit adeo durationis continue, quod, sicut inquit Veritas, Maria optimam partem elegit, que non auferetur ab ea; ... sit sublimior altitudine cogitationum; sit suavior dulcedine tranquillitatis et meditationis; ... sit divinior, quoniam divina potius quam humana consideret; sit et nobilior, quoniam intellectum, nobiliorem anime partem, exerceat, qui singulariter inter animantia soli convenit homini, ...“ [Coluccio Salutati: Epistolario, ed. Franceso Novati. Roma 4 Bde 1891 - 1911. Bd III. S. 305. (= Fonti per la storia d’Italia, Bde 15 - 18)] Mit „Veritas“ meint SALUTATI Jesus Christus, mit Maria meint er die Schwester der Martha aus dem Evangelium nach Lukas (Lk 10; 38-42). Die Episode der Begegnung Jesu mit den Schwestern Maria und Martha wurde vorzugsweise als Allegorie für das Verhältnis des beschaulichen und des tätigen Lebens zueinander gedeutet. Die Stelle lautet: „Als dies geschehen ist, gingen sie weg und er kam in ein Dorf. Eine Frau, eine gewisse Martha mit Namen, nahm ihn in ihr Haus auf. Dort war auch ihre Schwester mit Namen Maria, die, während sie zu seinen Füßen saß, seinem Wort lauschte. Martha aber, die von der Bedienung ziemlich in Anspruch genommen war, stellte sich hin und sagte: ‘Herr, kümmert es dich nicht, daß es meine Schwester ganz mir überläßt, zu bedienen? Sage ihr, daß sie mir helfen möge.’ Und antwortend sagte ihr der Herr: ‘Martha, Martha, du bist geschäftig und sorgst dich um vieles, aber eines nur ist notwendig. Maria hat den besten Teil gewählt, der nicht von ihr genommen werden wird.’“ („factum est autem dum irent et ipse intravit in quoddam castellum et mulier quaedam Martha nomine excepit illum in domum suam et huic erat soror nomine Maria quae etiam sedens secus pedes Domini audiebat verbum illius Martha autem satagebat circa frequens ministerium quae stetit et ait Domine non est tibi curae quod soror mea reliquit me solam ministrare dic ergo illi ut me adiuvet et respondens dixit illi Dominus Martha Martha sollicita es et turbaris erga plurima porro unum est necessarium Maria optimam partem elegit quae non auferetur ab ea“ Lk 10; 38-42)
18 „Pudeat igitur, pudeat ... mortali immortale subicere, cedere carni, et non credere rationi. Pudeat quidem quia bestiarum est sensibus trahi, hominis vero, cuius facies in celum erecta conspicitur, proprium est vincere sensus, dimittere mundum, petere celum.“ (Coluccio Salutati: De seculo, a.a.O. S. 101/102.)
19 „Si autem imperio rationis ocioso appetitus cooperetur sine resistentia rationi supra statum hominis hec vita est et que angelica dici debeat, non humana.“ Coluccio Salutati: De laboribus Herculis, ed. B. L. Ullman. Turici 1951. S. 217. (= Thesaurus mundi; Bibliotheca scriptorum Latinorum mediae et recentioris aetatis)
20  „melior est contemplativa, fateor; non tamen semper nec omnibus eligibilior. inferior est activa, sed eligendo multotiens preferenda.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd III, a.a.O. S. 305.)
21 „eritne taliter contemplativus, totus conversus in Deum, quod super calamitate proximi non commoveatur, quod de morte coniunctorum non doleat et super excidio patrie non fremiscat? qui profecto talis foret et in hac conversatione mortalium se talem exhiberet, non homo reputandus esset, sed truncus et inutile lignum, lapidea rupes et durissimum saxum ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario. Bd III, a.a.O. S. 306/307.)
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Welt zurückziehen wollte. Denn auch in der Einsamkeit wäre man vor den Einflüssen der Welt nicht sicher. Der Weg ins Kloster oder in die Einsiedelei wäre daher nicht in jedem Fall der richtige Weg zum Seelenheil. Vielmehr sollte sich der Mensch freimachen von bösen Gedanken, denn es hätte keinen Sinn, sich in die Einsamkeit zu flüchten, aber alle irdischen Wünsche mitzunehmen. Als Ergebnis dieser Überlegungen kam SALUTATI zu einer Erkenntnis, die für ihn als immer noch dem Christentum verbundenen Menschen von unschätzbarer Bedeutung war: Der Begriff der Gottnähe sei nämlich nicht räumlich, sondern geistlich zu verstehen: „Gott ist der Mittelpunkt, der zugleich in der unendlichen Ausdehnung besteht und dem, da er allgegenwärtig ist, niemand näher und niemand ferner sein kann. Es macht nicht so einen Unterschied in der Lebensweise aus, daß der, welcher den Mönchsstand wählte, nicht doch zuweilen - wäre es doch nicht so viel öfter! - Gott ferner sein kann als diejenigen, welche in dieser Welt gefährdet erscheinen. Der Geist ist es, der mit Gott verbunden wird, und aus welcher Lebenslage er auch immer rufen mag, er wird jenen finden, der ja niemals abwesend ist...“22

Könnte schon aus diesen Gründen der „vita contemplativa“ kaum mehr eine besondere Verdienstlichkeit zugeschrieben werden, erschien sie für SALUTATI im Hinblick auf ihre Verdienstlichkeit für die Sündenvergebung sogar gefährlich, bedurfte es doch nach katholischer Anschauung dazu neben der Reue auch der guten Werke. Die „vita contemplativa“ böte aber zu diesen kaum Gelegenheit, sodaß SALUTATI zu dem Ergebnis kam , daß sie sogar dem Willen Gottes widerspräche. Denn „wer nämlich den Nackten bekleidet, dem Hungernden zu essen, dem Dürstenden zu trinken gegeben, den Toten beerdigt, den Gefangenen befreit, den Kranken besucht und den Fremden aufgenommen hat, wird jenes so beglückende Wort hören: ‘Kommt, Gesegnete meines Vaters, und nehmt in Besitz das Reich, das euch seit der Erschaffung der Welt bereitet ist.’“23

SALUTATI unterstützte seine bis dahin ausschließlich auf christlichem Boden stehende Beweisführung zugunsten der „vita activa“ auch noch mit dem berühmten Diktum des ARISTOTELES (384 - 322 v.u.Z.) aus dessen „Polítika“ vom Menschen als einem zwon politikon, indem er meinte, „daß der Mensch dermaßen ein geselliges Wesen ist, daß es keinen von solch ungeselligem Wesen gebe, der nicht an einem Menschen seine Freude habe“.24 In ihrer Herausarbeitung der geselligen Natur des Menschen stand die antike Philosophie für SALUTATI im Einklang mit der christlichen Religion. „Denn wie die christliche Religion in vollkommenster Weise befiehlt, daß man sogar die Feinde in wahrhaftem Überfluß der Nächstenliebe lieben muß, so bewirkt die Natur, welche uns als politische und gesellige Wesen erzeugt hat, da der Mensch des Menschen wegen geschaffen ist, unbemerkt, daß wir natürlich alle, von denen wir geliebt werden möchten oder annehmen geliebt zu werden, selbst lieben.“25

Hier sind nun der christliche und der antike Strang im Denken SALUTATIS zur Begründung der sozialen Natur des Menschen miteinander verflochten worden. Die Schlußfolgerung, daß diese Natur des Menschen, da gottgewollt, an sich gut sei und keiner Vervollkommnung durch eine „vita contemplativa“ mehr bedürfte, lag nahe. SALUTATI sprach sie auch tatsächlich aus, als er sagte: „Wenn wir nun zum ewigen Ruhm bestimmt sind und, wie wir rechtgläubig annehmen, zur Ergänzung der Engelssitze vorgesehen, hätte uns die Natur als Gemeinschaftswesen erschaffen, wenn der Umgang mit den Menschen nicht zum Heil hinführte?“26

Damit hatte SALUTATI die Schwelle überschritten, jenseits derer der „vita contemplativa“ kein Wert mehr zugemessen werden konnte. Der im antiken Sinn tugendhafte und von christlicher Nächstenliebe bestimmte Lebenswandel erschien ihm nun als der wahre und rechte Weg des Menschen zu seiner Bestimmung, die darin bestand, „sich gewissenhaft mit den weltlichen Dingen zu beschäftigen“27

Die Berufung des Menschen zu politischem Handeln

Mochte die Berufung des Menschen auch in der „vita activa“ liegen, so war für Coluccio SALUTATI doch nicht jede Tätigkeit gleichermaßen wertvoll. Handel, Gewerbe und Landwirtschaft waren für ihn zu sehr auf Gewinn ausgerichtet, wodurch derjenige, der diese betrieb, allzu leicht geneigt wäre, seine Kunden oder Geschäftspartner übervorteilen zu wollen. Nach Ansicht SALUTATIS sollte die Tätigkeit, die ein Mensch ausübt, diesem Gelegenheit geben, seine Tugenden zu üben und möglichst vielen nützlich zu sein. Indem SALUTATI christliche Nächstenliebe und antikes Staatsdenken zusammenführte, gab es für ihn nur eine Tätigkeit, die in seinen Augen Wertschätzung verdiente, nämlich die politische. Er begründet dies folgendermaßen: „Aber Du wirst wohl sagen: welche Schlechtigkeit, Ehrlosigkeit und Schimpflichkeit sehe ich mit dem größten Unwillen unter meinen Mitbürgern, was alles ich in fremden Ländern und bei fremden Völkern nicht in solchem Ausmaß sehen würde; so groß ist nämlich Deine Liebe zum Vaterland, daß die Freude an seinen Vorzügen größer, aber der Schmerz über seine Mängel stechender ist. Deine Heimatliebe ist groß, und aus diesem Grunde, wenn Du es recht bedenken wolltest, sollst Du das Vaterland nicht länger meiden, sondern Dich zu seinem um so willigeren Einwohner wandeln, damit Du, wozu jeder beliebige tüchtige Bürger verpflichtet ist, um so mehr dem Vaterland nützlich bist, je mehr Du die anderen übertriffst. Denn da wir auch ohne Unterschied ob Jude oder Barbar, Lateiner oder Grieche alle Brüder in Christus sein sollen, müssen wir unter diesen Umständen doch alle Menschen gleichermaßen lieben, weil wir für alle zusammen das Heil, die Vollkommenheit in allem Guten und die gleiche Ehre wünschen sollen. Es gilt eben als alleinige Definition der Nächstenliebe, daß wir den Nächsten lieben wollen wie uns selbst. Dennoch muß man in der Beschaffenheit oder in den Werken der Nächstenliebe Abstufungen vornehmen, je nachdem wie nahe uns der Betreffende steht. Zwar darf in dem, was wir den anderen wünschen müssen, wohin auch immer Du Dich wenden möchtest, das gebe ich zu, keine Verschiedenheit aufkommen; aber da wir als gemäß der

 


 

22 „...Deus centrum est infinitis circunferentiis coexistens, cui, cum ubique sit, nulla proprior nullaque distantior dici potest. non est ... tanta vivendi differentia, quod qui religionem elegit non aliquando, et utinam multotiens!, longinquior sit a Deo quam qui videntur inter hoc secularia periclitari. mens est que Deo coniungitur et de quocumque statu vite clamaverit, quoniam ipse nusquam abest, invenit illum ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd III, a.a.O. S. 541.)
23 „nam qui nudum induerit, famescentem paverit, sitibundum potaverit, humaverit mortuum, carceratum solverit, infirmum visitaverit et susceperit peregrinum, audiet felicissimum verbum illud: venite, benedictis patris mei: possidete vobis regnum paratum a constitutione mundi.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd III, a.a.o. S. 307.
24 „... hominem sic animal esse politicum, quod nullus tam solitarie conversationis sit, qui non homine delectatur.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd III, a.a.O. S. 520.) 25 „nam sicut perfectissime iubet Christiana religio etiam inimicos ess
e quadam caritatis redundantia diligendos, ita natura, que nos politicos et associabiles genuit, cum homo propter hominem sit creatus, latenter efficit ut omnes a quibus amemur vel presumamus amari, naturaliter diligamus.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II, a.a.O. S. 318/319.)
26 „cum ad eternam gloriam nati simus et, ut orthodoxe credimus, ad replandas sedes angelorum instituti, non produxisset nos natura politicos, hoc est associabiles, siconversatio prorsus non diriget ad salutem.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd III, a.a.O. S. 51.
27 „sancte inter mundana versari ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II, a.a.O. S. 453.)


Nächstenliebe Handelnde, was die Tätigkeit und das Werk betrifft, stufenweise vorgehen müssen, sodaß wir zuerst uns, dann den Eltern, drittens den Kindern, viertens den Brüdern und darüber hinaus den entfernteren Angehörigen verpflichtet und bei fehlenden Blutsbanden zuerst den Mitbürgern und dann erst den Fremden verbunden sind; und da der Mensch nicht zum Mitleiden durch die Fehler oder zum Ärgern über die Grobheiten der Mitmenschen, sondern als seine Stütze geschaffen ist, ist Dir, wenn Du es recht bedächtest, eine große Verpflichtung auferlegt, in das Vaterland zurückzukehren, damit Du nicht allein Dir, sondern auch den anderen dienest und damit Du dort begännest, wo feststeht, daß Du mehr tun mußt, weil du natürlicherweise zu Anstrengungen verpflichtet bist, sei es aus Gründen de Blutes oder der Hilfsbereitschaft.“28

Wiewohl SALUTATI bei der Begründung seiner Auffassung von der Berufung des Menschen zur politischen Tätigkeit sich noch sehr stark auf die Verpflichtung des Christen zur Nächstenliebe berief, schimmerten in seiner Beharrlichkeit, mit der er darauf besteht, daß man die Nächstenliebe abgestuft auf die Mitmenschen anwenden müsse, auch noch andere Vorstellungen durch. Es ist der antike Patriotismus, den SALUTATI mit zahlreichen Beispielen aus der römischen Geschichte rechtfertigte und begründete. Am Patriotismus der alten Römer entzündete sich bei SALUTATI die Begeisterung. Ja, er fühlt sich als Italiener selbst als Nachfahre dieses großen römischen Volkes, dessen Größe für ihn gleichbedeutend mit der vergangenen Größe Italiens war. Aus dieser Empfindung heraus sprach er von den Römern als von „unseren Vätern aus römischem Geschlecht.“29  Er war von diesem Fühlen so ergriffen, daß er seine italienischen Landsleute, wenn er sich mit besonderer Eindringlichkeit an sie wandte, als „Abkömmlinge und Erben der Römer“30 anredete. Bei dem Gedanken an seine römischen Vorfahren schwoll seine Brust vor römischem Bürgerstolz. So entschlüpfte ihm denn auch in einem unbedachten Augenblick in einem Nebensatz die Behauptung, daß die Bürgergemeinschaft das höchste Band sei, das die Menschen miteinander verbände , während er die Gemeinschaft der christlichen Religion, auf die er sonst großen Wert legte, ganz außer acht ließ. Im Überschwang rhetorischen Eifers verstieg sich SALUTATI sogar zu wahren Ungeheuerlichkeiten, wie etwa in einem Brief an einen gewissen Ser ANDREA: „Ich sehe, Du weißt nicht, wie süß die Vaterlandsliebe ist; wenn es für seinen Schutz oder auch für seine Ausbreitung nützlich wäre, schiene es mir nicht als schwere oder schreckliche Untat,den Schädel des Vaters mit einem Beil einzuschlagen, die Brüder auf dem Boden zu zerschmettern, der Gattin mit dem Schwert das Kind aus dem Leib zu reißen.“32

Doch dieser Ausspruch blieb vereinzelt, und SALUTATI wurde nicht zu einer reißenden Bestie. Im übrigen äußerte er sich maßvoller über die Verpflichtungen, die der Mensch gegenüber seinem Vaterland hätte. Nach dem Beispiel der von ihm so verehrten Römer wollte SALUTATI dem Vaterland dienen: „Aber für das Vaterland, ... dem wir nicht nur alles über das Leben Hinausgehende verdanken, sondern sogar das Leben selbst, arbeite ich soviel ich kann mit Ratschlägen und mit meinem ganzen Verstand, und ich trachte danach, daß es klug geführt werde; wenn ich etwas dazu beitragen kann, will ich mich gern darum bemühen.“33 Mit dem Bild des Vaterlandes als Spender alles Lebens griff SALUTATI eine Vorstellung auf, die später, wie noch gezeigt werden wird, durch Lionardo BRUNI eine Ausgestaltung im Sinne eines Allgewaltsanspruches des Staates über seine Bürger erhalten sollte.

Leitlinien für die Ausübung eines politischen Amtes

Coluccio SALUTATI sah es als die Pflicht jedes verantwortungsbewußten Bürgers an, sich um das Wohl der Allgemeinheit und des Staates zu kümmern. Hierin stimmte er mit PLATON (427 - 347 v.u.Z.)34 überein, der gefordert hatte, daß die „weisen“ das Ruder des Staatsschiffes nicht anderen überlassen dürften, die das Volk dann ins Unglück stürzten.35

Entsprechend seiner hohen Auffassung von den bürgerlichen Pflichten verlangte SALUTATI auch, daß die Motive für die Annahme eines öffentlichen Amtes nur selbstloser Natur sein dürften. Jeder Amtsträger sollte nur das Wohl des Staates im Auge haben und sich vor dem Fehler der Ämtersucht hüten.36 . Entschieden verwahrte sich SALUTATI dagegen, daß man bei der Ausübung eines politischen Amtes an den Erwerb irdischen Ruhms dächte, denn dieser wäre vergänglich,37 wie auch der Gedanke an ein Fortleben des eigenen Namens in der Nachwelt als unchristlich abzulehnen wäre.38 Ebenso müßte man sich davor in acht nehmen, in den Fehler der Eitelkeit zu verfallen und sich an der mit dem Amt verbundenen Macht zu berauschen.39 Damit widersprach SALUTATI aus der christlichen Grundlage seiner

 


 

28 „sed dices: que mala, inhonesta aut flagitiosa inter meos cives et in patria maxima cum indignatione conspicio, ea apud exteras nationes et gentes non tanta conturbatione concerno; tantus est enim amor patrie, quod in eius bonis amplior sit leticia et im malis pungentior dolor. fateor magnam esse patrie caritatem, et ob id, si recte sentire volueris, non iam patriam fugere debes, sed ad eius animari propensius incolatum, sicut quilibet civis optimus obligatur, tanto magis patrie prosis, quanto magis ultra alios profecisti. nam quanvis sine differentia Iudei vel barbari, Latini vel Greci, omnes simus fratres in Christo, ita tamen homines sunt equaliter diligendi, quod cunctis salutem et omnem in bonum perfetionem et parem gloriam exoptemus. una quidem sola est diffinitio dilectionis ad proximos, ut tanquam nosmetipsos proximum diligamus. debet tamen esse in affectione vel in opere caritatis gradus secundum differentiam proximorum. in ipso autem quod aliis est optandum, quocunque te verteris, nulla, fateor, prorsus disparitas abhibenda; sed cum quoad effectum et opus, secundum caritatem operantes, gradatim incedere debeamus ut primo nobis, deinde parentibus, tertio filiis, quarto fratribus et ulterius proximoribus obligemur, et, iunctura sanguinis deficiente, prius concivibus quam extraneis teneamur, et homo, non ad compatiendum lapsis vel crassantibus irascendum, sed ad adiutorium hominis sit productus, magna tibi, si considerare velis, indicta necessitas in patriam redeundi, ut aliquid non solum tibi sed aliis opereris et ibi incipias quod naturaliter teneris impendere, ubi te constat, tum sanguinis tum civilitatis necessitudine plus debere.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd I. S. 310/311.)
29 „patres nostri, romanum genus ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd IV: S. 29) 30 „o viri Romanorum de semine procreati aut Romanorum heredes ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 85)
31 „... concivilitate, que est maximum mortalium vinculum ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd I. S. 16.)
32 „video ignoras quam sit dulcis amor patrie: si pro illa tutenda augendave expediret, non videretur molestum nec grave vel facinus paterno capiti securim iniicere, fratres obterrere, per uxoris uterum ferro abortum educere ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd I. S. 28.)
33 „pro patria autem, ... cui non solum plus quam vitam debemus, sed etiam ipsam vitam, quantum possum consiliis et mente laboro eamque appeto feliciter dirigi et in hoc, si quid possem, libenter impenderem et impendo.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 133.)
34 PLATON, zu deutsch etwa „der Breite“, war ursprünglich nur der „Kriegsname“ des adeligen Jünglings ARISTOKLES, als er noch Ringer werden wollte, um bei den Olympischen Spielen einen Sieg zu erringen. Unter dem Einfluß des SOKRATES (470 - 399 v.u.Z.) wandte er sich schließlich der Philosophie zu, behielt aber den Namen PLATON bei.
35 „platonicum, imo ipsius philosophie oraculum est, sapientibus necessariam causam esse capessende reipublice, ne improbis flagitiosisque civibus urbium relicta gubernacula pestem bonis ac perniciem ferant.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 454.)
36 „noli querere honores...“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 448/449.)
37 „ad gloriam, fateor, nati sumus, sed ad eternam, non ad hanc mundanam, fragilem et caducam.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 425.
38 „quid enim minus homine, christiano presertim, dignum, quam gloria permoveri?“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd III. S. 349.)
39 „quod si ex officio forsitan intumescas, non officii, sed culpa tua fuerit; presertim cum officia non geras presidatus, sed servitutis.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 454.)


Weltanschauung heraus der zu seiner Zeit zunehmend stärker werdenden Akzeptanz von Ruhm und Macht als lohnender Ziele politischer Tätigkeit.

Wenn auch Ehre, Würde und Macht für das Seelenheil eines Menschen gefährlich sein könnten, würde dadurch der Wert eines öffentlichen Amtes in den Augen SALUTATIS nicht gemindert, denn ein solches böte auch Gelegenheit, sich in den christlichen Tugenden zu üben. „Bei Ämtern ist es notwendig“, meinte SALUTATI in dieser Hinsicht, „daß du Bescheidenheit lernst und Gehorsam zeigst. Diese haben, wenn sie sich hier auch auf Menschen und nicht auf Gott beziehen, dennoch keine geringe Verbindung mit den wahren Tugenden und die Amtshandlungen sind nicht ohne Verdienst, wenn Du sie, soweit Du kannst, auf Gott ausrichtest. ... Ich möchte nicht, daß Du ein Amt als Ehre annimmst, ich will auch nicht, daß Du eines ablehnst in Hinblick auf Dein Seelenheil, sondern ich möchte, daß Du ehrenhaft lebst, auf einwandfreie Art Gewinne erzielst, vielen nützest und nicht allein für Dich lebst, sondern für das Vaterland, für die Verwandten und die Freunde. ... Und du sollst nicht erschrecken, wenn ich Dich zu einem ehrenvollen Amt und zu einer tugendhaften Amtsführung ermuntere; denn der Apostel sagte über die Bedenken so vieler Freunde: ‘Wer das Amt des Bischofs anstrebt, strebt nach einem guten Werk.’ Denn die Würde verdirbt nicht den Menschen, sondern vervollkommnet ihn.“40

Die Ausübung eines öffentlichen Amtes wäre gemäß diesen Ausführungen SALUTATIS dem Seelenheil sogar förderlich. Sie stärkte die Tugend und außerdem böte ein öffentliches Amt auch reichlich Gelegenheit zur Wohltätigkeit.41 Aus diesen Gründen müßte es für einen verantwortungsbewußten Bürger eine Selbstverständlichkeit sein, ein angebotenes Amt auch anzunehmen. 42

Salutatis Einschätzung der politischen Tätigkeit

Wenn man SALUTATI zuhört, wie er so eindringlich und wiederholt für den Dienst an Staat und Vaterland eintritt, ist man vielleicht geneigt anzunehmen, er vertrete eine etwas idealisierte und wirklichkeitsfremde Anschauung von der politischen Tätigkeit. Doch SALUTATI war Realpolitiker genug, um sich keinen falschen Wunschvorstellungen über den Beruf des Politikers hinzugeben. Wohl stellte er gerne die berühmten Gestalten der römischen Geschichte, die für ihn ja auch die Geschichte des italienischen Volkes war, als leuchtende Vorbilder heraus, aber er wußte auch genau, daß kaum ein Politiker seiner Zeit das Format zu ähnlich großen Taten hatte. SALUTATI WAR sich dessen bewußt, daß der Politikerberuf ein Beruf ist wie jeder andere auch, in dem die durchschnittliche Begabung die Normalität bezeichnet.

„Natürlich wissen nur Unwissende nicht“, führte SALUTATI bei einer Gelegenheit aus, „was für ein großes und vielköpfiges Untier jeder beliebige Staat ist, und sei er auch klein, da in jedem viele Menschen mit verschiedenen Charakteren und einander widersprechenden Meinungen leben. Und da die meisten möchten, daß die Staatsverwaltung zu ihrem Vorteil gelenkt werde, verstehen sie nur das gutzuheißen, was sie als für sich nützlich erachten. Daher kommt es, daß kaum oder niemals etwas von den Führern eines Staates angeordnet wird, das nicht mehr Nörgler fände als Befürworter. ... In dieser Weise spricht man auch über die Lenker der Staaten, welchen es zukommt, unter den unsteten und keine Unterscheidung treffenden Vorlieben der Völker mit vieler und sorgenvoller Arbeit und auch Nachteilen das Schifflein des Vaterlandes zu lenken, und von denen man dennoch im Volk denkt, daß sie gewissermaßen im Schatten ihres Ansehens faulenzten und glücklich und froh Nutzen aus dem Staate zögen. Und in der Tat halte ich jene für glücklich und für Nutznießer der Güter des Staates und glaube nicht, daß das Volk in dieser Ansicht irrt, wenn sie mit mir übereinstimmen wollten, was als Gewinn aus dem Staate einzuschätzen sei. Aber sie wollen die Ausplünderung des Staatsschatzes, die Ämtersucht, die Erpressung der Ohnmächtigen, die Straflosigkeit der Verbrechen, die Käuflichkeit aller Dinge und das übrige, worin durch Machtmißbrauch die Nichtsnutzigkeit der Menschen verstrickt wird, als Vorteile aus dem Staat hinstellen. Ich aber denke bei weitem anders und das Genannte sehe ich in keiner Weise als den Vorteil an, den einem der Staat bietet, sondern als Verbrechen, Schändlichkeit, ja überhaupt als das Höchste dessen, was man über die Regierung eines Staates Übles sagen kann.“43

Dieser Zornesausbruch SALUTATIS über diejnigen, die den Staat nur zu ihrem eigenen Vorteil ausplündern wollten, ist ein frühes Beispiel für die Ausführungen von Karl MARX (1818 - 1883) und Friedrich ENGELS (1820 - 1895) über die Rolle der Intellektuellen innerhalb der herrschenden Klasse: „Die Teilung der Arbeit ... äußert sich nun auch in der herrschenden Klasse als Teilung der geistigen und materiellen Arbeit, so daß innerhalb dieser Klasse der eine Teil als die Denker dieser Klasse auftritt (die aktiven konzeptiven Ideologen derselben, welche die Ausbildung der Illusion dieser Klasse über sich zu ihrem Hauptnahrungszweige machen), während die Andern sich zu diesen Gedanken und Illusionen mehr passiv und rezeptiv verhalten, weil sie in der Wirklichkeit die aktiven Mitglieder dieser Klasse sind und weniger Zeit dazu haben, sich Illusionen und Gedanken über sich selbst zu machen. Innerhalb dieser Klasse kann diese Spaltung derselben sich sogar zu einer gewissen Entgegensetzung und Feindschaft beider Teile entwickeln ...“44 Genau so verhielt es sich denn auch. Denn nur aus reiner Menschenfreundlichkeit gingen die Kaufherren und Großgrundbesitzer, also die Angehörigen der Großen Familien der Stadtrepublik Florenz, nicht in die Politik. Es lag vielmehr im Wesen der florentinischen Gesellschaft, die ohne weiteres als Beispiel für die

 


 

40 „... in quibus (officiis; A.S.) te oporteat humilitatem addiscere et obedientiam profiteri. que, licet homines respiciant et non Deum, habent tamen cum veris illis virtutibus non mediocre commertium nec immeritori sunt actus, si dirigas ispos quantumque potes in Deum. ... nec velim quod honorem acceptes, nolo etiam quod recuses ad gloriam, sed ut honeste vivas, lucreris innnocue, multis prosis, nec solum tibi vivas, sed patrie, consanguineis et amicis. ... nec horreas, si te exhorter ad honestum officium et exercitum virtuosum; nam ut inquit Apostolus, qui de conscientia tanti hospitis loquebatur: qui episcopatum desiderat, bonum opus desiderat. non corrumpunt enim hominem dignitates, sed perficiunt.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 454/455.) Mit dem „Apostel“ bezieht sich SALUTATI auf PAULUS (1 Tim 3,1).
41 „est enim, ni fallor, officium illud venerationis et in quo possis licite lucrari, ut pauperibus subvenias, et honeste sancteque versari, ut pluribus prosis.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 444.)
42 „noli querere honores, sed nec velis etiam obvios recusare.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 448/449.)
43 „inexperti nempe solum ignorant quanta quoticepsque sit bellua quecunque, licet parva, respublica, cum tamen in qualibet sint multi mortales, varia ingenia dissoneque sententis, et cum plurimi ad privata commoda urbium regimina dirigi cupiant, solum illud approbare noverunt, quod sibi utilius arbitrantur. quo fit, ut vix aut numquam a reipublice ducibus quid sanctitur, quod detractores non plures inveniat quam fautores. ... sic de primoribus urbium contigit, quos inter populorum diversa indiscretaque studia oportet multis anxiisque laboribus ac damnis patrie naviculam regere, qui tamen quadam auctoritatis umbra vulgo quieti putantur felices et leti fructum de republica reportare. et profecto felices iudicio et bonorum reipublice fructicipes, nec in hac sententia puto vulgus errare, si tamen illi mecum conveniant quid fructus sit reipublice iudicandum, sed illi volunt expilationem erarii, ambitionem magistratuum, impotentium compressiones, impunitatem scelerum et omnium rerum venalitatem et cetera, quibus per abusum potentie nequicia mortalium implicatur, in fructibus rerum ponere publicarum: ego vero longe aliter sentio, et ista non modo non fructum iudicio, sed scelera, flagitia et denique maius quod potest de cuiuscunque reipublice regimine incommodum reportari.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd I. S. 193/194.)
44 Karl Marx, Friedrich Engels: Feuerbach; 1. Teil der „Deutschen Ideologie“ (1845/46). In: Iring Fetscher (Hg.):Karl Marx, Friedrich Engels; Studienausgabe in 4 Bänden. Bd 1: Philosophie. Frankfurt am Main: Fischer 1971. S. 110


vielen kleinen und großen Kommunen Italiens mit republikanischer Verfassung herangezogen werden kann, daß eine Familie, wollte sie eine angesehene und einflußreiche Position in der Stadt einnehmen und behaupten, sich politisch betätigen mußte. „Weder Reichtum allein, noch allein eine angesehene Stellung in der Stadt waren gewöhnlich ausreichend, einen hohen gesellschaftlichen Rang zu erreichen. Beide, Reichtum und politisches Amt, mußten miteinander verbunden werden“, beschrieb Lauro MARTINES45 diese Situation. Wo sich nun Reichtum und Politik verbinden, wird letztere nach den wirtschaftlichen Interessen der maßgeblichen Leute gemacht. SALUTATI hat diesen Umstand zwar wohl erkannt, wie ja seine Zornesrede zeigt, aber seine moralisierende Sicht der Dinge hinderte ihn an der Erkenntnis der Unvermeidlichkeit eines derartigen Handelns der „aktiven Mitglieder“ seiner Klasse. Politik war im Florenz seiner Zeit auch ein beständiger Kampf um Sein oder Nichtsein. Viele der Großen Familien in Florenz sind in den politischen Machtkämpfen des 14. und 15. Jahrhunderts durch Verbannung und Vermögenskonfiskation ruiniert worden. Die Namen ACCIAIUOLI, ALBERTI oder RINUCCINI seien stellvertretend für viele andere genannt. Mit dem Bild vom Staat als einer vielköpfigen Hydra beschrieb SALUTATI sehr anschaulich die Situation eines Politikers, den die vielfältigen Parteiegoismen und Familiengegensätze in den Oligarchien der Stadtrepubliken hin und her rissen. Mit welchen Mitteln da Politik gemacht wurde, ließ SALUTATI erahnen, als er aufzählte, was seiner Meinung nach fälschlicherweise aber nichtsdestoweniger allgemein als Nutzen der politischen Tätigkeit angesehen wurde. Das düstere Bild, das nach dem Zeugnis SALUTATIS das Volk von den Oligarchen hatte, wird so fern der Wirklichkeit nicht gewesen sein.

Es war vor allem seine moralische Beurteilung der Zeitumstände, die Salutati immer wieder dazu bewogen, das politische Freibeutertum mit heftigen Worten zu geißeln. Zum einen konnte es ihm als politisch Tätigem aus den bereits dargelegten ethischen Gründen wie auch im Interesse der Wahrung seines persönlichen Ansehens nicht recht sein, in derart schlechtem Ruf zu stehen. Zum anderen haben ihm seine klassische Bildung und seine Kenntnis der römischen Geschichte, auch und weil er sie nur in der zu seiner Zeit noch nicht kritisch hinterfragten schönfärberischen Überlieferung der römischen Geschichtsschreiber kannte, den Blick für große Politik geöffnet, sodaß er die Einstellung seiner Zeitgenossen, für die Politik nur ein Mittel zur Durchsetzung egoistischer Partialinteressen war, vom Standpunkt seiner ethischen Überlegenheit aus zurückweisen konnte.

Salutatis Stellung zum Staat

Ebenso wie sein Verhältnis zur Politik war auch SALUTATIS Verhältnis zum Staat ein moralisches, und zwar ein vorwiegend christlich-moralisches. Ausgehend von seiner juristischen Ausbildung setzten SALUTATIS Überlegungen bei Recht und Gesetz an. Sie waren für ihn die unentbehrlichen Grundlagen jeglicher Art des gemeinschaftlichen Zusammenlebens der Menschen. Doch weit über diese Funktion hinaus lag die Bedeutung von Recht und Gesetz darin, daß sie als Ausfluß der sittlichen und göttlichen Gebote aufzufassen waren. „Denn das göttliche Gesetz setzt fest, das Naturgesetz lenkt und das menschliche Gesetz verkündet und befiehlt. Es ist aber dasselbe, was befohlen wird, wozu hingelenkt wird und was festgesetzt ist. Denn das göttliche Gesetz steht fest und ist deutlich sichtbar, das Naturgesetz empfängt und bewegt, das menschliche Gesetz aber verkündet und verpflichtet.“46

Aus dieser vorausgesetzten engen und unlösbaren Verbindung der drei Stufen des Rechts - göttliches Recht, Naturrecht, menschliches Recht - ergab sich für SALUTATI klar und unabweislich, daß ein Rechtsstaat nach seinem Verständnis nur auf dem Gesetz der christlichen Religion aufbauen konnte. „Was nämlich üblicherweise als sarazenisches Gesetz, tartarisches Gesetz oder wie in alter Zeit samaritanisches Gesetz bezeichnet zu werden pflegt“, äußerte sich SALUTATI hierzu unmißverständlich, „kann vernünftigerweise nicht als Gesetz bezeichnet werden. Jene sind nämlich nicht Gesetze des Heils, sondern des Verderbens, sie sind nicht heilig, sondern gotteslästerlich, sie sind nicht vom Glauben, sondern vom Aberglauben. Wir alle sollen uns nämlich dem evangelischen Gesetz der christlichen Lehre unterwerfen.“47 Nur Gesetze, die auf der jüdisch-christlichen Verkündigung beruhen, können nach Meinung SALUTATIS Anspruch auf bindende Kraft erheben. „Es stellt in der Tat die größte Bedeutung und den unschätzbaren Ruhm der Gesetze dar“, führt er diesbezüglich aus, „daß sie Gott und nicht irgendeinen Menschen als Ursprung hatten. Jene nämlich hat Gott auf die Tafeln geschrieben und dem lauschenden Volk auf wunderbare Weise unter Blitz und Donner verkündet. Diese empfing die Nachkommenschaft Abrahams, in dessen gesegnetem Samen alle Stämme und in der Folge das ganze Menschengeschlecht enthalten waren. ... Es gibt kein Gesetz, das das göttliche nicht nachahmt ... und die Einrichtungen des göttlichen Gesetzes nicht vorwegnimmt und verehrt.“48

Daraus folgerte SALUTATI, daß nicht jedes formell gültige Gesetz wirklich zu Recht bestehe, als er ausführte: „Es ist etwas Verschiedenes, die Kraft eines Gesetzes zu haben oder ein Gesetz zu sein. Was nämlich ungerecht ist, mag ... als Gesetz befolgt werden, weil es Gesetzeskraft hat, ein Gesetz ist es dennoch keineswegs.“49 Demnach wäre, wie SALUTATI weiter fortsetzte, den Gesetzen des Staates nur dann unbedingter Gehorsam zu leisten, wenn es sich um Gesetze im vorhin beschriebenen Sinn handelte. „Wir wollen der Obrigkeit gehorchen, denn da alle Obrigkeit von Gott kommt, widersetzt sich derjenige, welcher sich der Obrigkeit widersetzt, wie der Apostel sagt, der göttlichen Ordnung. Gehorcht euren Vorgesetzten und unterwerft euch ihnen; sie selbst nämlich, wie der Lehrer der Völker bezeugt, wachen gleichsam über eure Seelen und müssen Rechenschaft darüber ablegen. Wir sind ja durch Gott der ganzen Schöpfung unterworfen, aber, damit wir es nicht vielleicht vergessen, man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Dumm ist nämlich der

 


 

45 „Neither wealth alone, nor civil eminence alone, normally sufficed to attain high social rank. The two, walth and office, hat to be combined; ...“ (Lauro Martines: The Social World of the Florentine Humanists 1390 - 1460. London 1963. S. 55.)
46 „Divina quidem lex instituit, naturalis inclinat, humana promulgat et iubet. Idem autem est, quod iubetur, et ad quod inclinatur, et quod institutum est. Divina quidem lex instat et eminet, naturalis recipit atque movet, humana vero promulgat et obligat.“ [Coluccio Salutati: De nobilitate legum et medicinae. Zitiert in Alfred von Martin: Coluccio Salutati und das humanistische Lebensideal; Ein Kapitel aus der Genesis der Renaissance. Leipzig, Berlin 1916. S. 132, Anm. 7 (= Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Bd 23.)]
47 „Nam quod vulgo dici solet lex Saracenica, lex Tartarica vel (ut antiquitus) lex Samaritanorum, non potest rationabiliter dici. Non enim sunt leges ille salutis, sed perditionis, non sacre, sed sacrilege, non religionis, sed superstitionis. Omnes enim christiani preceptis legis evangelice subiacemus.“ [Coluccio Salutati: De nobilitate ... Zitiert in: Alfred von Martin: Mittelalterliche Welt- und Lebensanschauung im Spiegel der Schriften Coluccio Salutatis. München, Berlin 1913. S. 154. (= Historische Bibliothek, Bd 33)]
48 „Verum maxima legum auctoritas et inextimabilis gloria est ... Deum habuisse, non hominem quempiam, inventorem. illas quidem Deus scripsit in tabulis et audienti populo mirabiliter in coruscantionibus promulgavit. Hac accepit posteritas Abrahe, in cuius semine benedicende fuerant omnes gentes et per consequens totum humanum genus. ... Nulla quidem lex est, que divinam non imitetur ... queve divine legis instituta non precipiat, non andorat.“ (Coluccio Salutati: De nobilitate ... in: Alfred von Martin: Mittelalterliche, a.a.O. S. 155.)
49 „... aliud est legis habere vigorem, aliud legem esse. Quod enim iniustum est, licet ... pro lege servetur, legis quidem vigorem habet, lex tamen omnino non est.“ (Coluccio Salutati: De nobilitate ... in: Alfred von Martin: Coluccio Salutati, a.a.O. S. 136, Anm. 6.)


Gehorsam und nicht ohne Beleidigung der göttlichen Majestät, den wir Geschöpfen und Menschen erweisen, während wir Gott, den Schöpfer, beiseite lassen. Man muß auch dem Gesetz mehr gehorchen als dem Vorgesetzten und dem König. Derart müssen wir nämlich der Obrigkeit unterworfen sein und derart den Befehlen gehorchen, daß uns die Bereitschaft zum Gehorsam nicht zur Verletzung des Gesetzes, sondern allein zu guten Werken bereit finden soll.“50

Der Rechtsstaat war damit für Coluccio SALUTATI zugleich auch der sittliche Staat, da das wahre, mit dem göttlichen Recht übereinstimmende menschliche Recht sich mit der Moral deckt, und zwar mit der christlichen Moral, die ihren Ursprung in ebendemselben Gott hat. Es sei daher die Aufgabe des Rechtsstaates, das sittlich Gute zu fördern und das Übel zu bekämpfen. Der Mensch, der sich dem Dienst am Staat verschreibt, habe sich in den Dienst dieser Aufgabe zu stellen.

Die Betonung des sittlichen Charakters des Rechtsstaates bewirkte bei Coluccio SALUTATI eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Frage nach der Staatsform. Ob ein Staat eine Republik oder eine Monarchie war, war für SALUTATI von verhältnismäßig untergeordneter Bedeutung. Beide konnten gleichermaßen zur Tyrannei entarten, wenn der Monarch oder ein führender Politiker einer Republik ihre Macht in unsittlicher Weise mißbrauchten. In beiden Fällen traf auf sie SALUTATIS Definition des Tyrannen zu, wonach „der ein Tyrann ist, der die Macht an sich reißt und keinen Rechtstitel für seine Herrschaft hat, und ... der ein Tyrann ist, der hochmütig herrscht oder Ungerechtigkeiten begeht oder Recht und Gesetz nicht achtet.“51

Aus dieser Überlegung heraus war für SALUTATI die Regierungsform eines Staates nicht so wichtig, wichtig war nur, daß ein Staat nach den sittlich richtigen Gesetzen regiert werde. Daher konnte SALUTATI auch Königreiche und Republiken gleichwertig nebeneinander nennen, als er ausrief: „O glückliche Republiken, o glückliche Königreiche, deren Führer und Könige gerecht sind und sich den Gesetzen beugen ...“52 Wenn also an der Spitze eines Staates, sei es nun eine Republik oder eine Monarchie, gerechte Führer standen, waren für SALUTATI, der hierin ganz der Auffassung PLATONS folgt, beide Staatsformen einander gleichwertig und keine verdiente einen Vorzug gegenüber der anderen. Diese paulinisch-platonische Staatsauffassung blieb in der christlichen Staatslehre bis in das 20. Jahrhundert lebendig, wo sie in Gestalt des Klerikofaschismus, ideologisch gestützt durch die Enzyklika „Quadragesimo anno“ Papst PIUS’ XI.53 aus dem Jahr1931, ihre vorläufig letzte Ausformung erfuhr.

Die Bedeutung von Tugend und Bildung

Diese Bezugnahme SALUTATIS auf das Staatsideal PLATONS, wonach entweder die Weisen Könige oder die Könige Weise sein sollten, erweist sich in Anbetracht der Rahmenbedingungen seines politischen Handelns geradezu als revolutionär. Wenn es nämlich allein darauf ankommt, daß tugendhaft regiert werde, und wenn weiters in Rechnung gestellt wird, daß Tugend nicht ererbt, sondern nur durch eigenes Bemühen erworben werden kann, ergibt sich bei folgerichtiger Weiterführung der daraus sich ergebenden Erwägungen die Ablehnung der zur Zeit SALUTATIS in weiten Teilen Europas herrschenden Gesellschaftsordnung des Feudalismus. Wenn sich nämlich ein Mensch allein durch seine Tugend und seine Bildung - wobei nach Meinung SALUTATIS die erstere als Folge der letzteren zu sehen ist - von seinen Mitmenschen in positivem Sinn abheben kann, werden hohe Abkunft, Reichtum, Würde und alle die anderen bis dahin üblichen Auszeichnungen zu Nebensächlichkeiten. „Und da ich selbst ein großer Liebhaber der Studien bin“, schrieb SALUTATI diesbezüglich einmal, „ärgere ich mich immer wieder, daß entweder durch Vermögen oder Herkunft berühmte Männer die Studien derartig als völlig nutzlos und schädlich ablehnen; zumal fast das ganze Menschengeschlecht zu Geld und zur Anhäufung von Reichtümern hingezogen wird, welche es noch obendrein als vergänglich erkannt hat, und darin fortfährt, jene mit aller Kraft zusammenzuraffen. Es ist nicht verwunderlich, daß die träge Masse nicht an die Tugend denkt, sondern die Pracht der Gewänder, die Schar der Bedienten und den Prunk der Pferde allzu sehr bewundert. Dadurch kommt es, daß die Menschen, erfüllt von der Meinung des niederen Volkes, nicht die Absicht haben, der Tugend zu folgen, der man keinen Wert beimißt, sondern nach Reichtum trachten, mit welchem irrigerweise die Ehre der Menschen gleichgestellt wird.“54

SALUTATI sah somit nur zwei Gruppen von Menschen: zum einen die tugendhaften, weil gebildeten und zum anderen das ungebildete, gemeine Volk, aus dessen Verachtung er kein Hehl machte, wobei er Adelige und Reiche, die sich an Luxus und Prachtentfaltung erfreuten, durchaus dem gemeinen Volk zurechnete. In einem Brief an den römischen Patrizier Niccolò ORSINI ließ er an dieser seiner Einstellung auch keinen Zweifel aufkommen, wenn er ihm eröffnete: „Ich bewundere weder Deinen Reichtum noch den adeligen Glanz Deines Blutes, wovon der eine ein Geschenk des gütigen Schicksals, der andere eine Gabe sowohl Gottes als auch der Natur ist, sondern ich bewundere Deine Tugend, in der Du alle übertriffst ...“55

SALUTATI maß also den überkommenen Ansichten über Geltung und Würde unter den Menschen keine Bedeutung mehr bei, ja er lehnte sie sogar ab. Seiner Meinung nach durfte man sich keinesfalls im Glanz berühmter Ahnen sonnen, sondern mußte stets darauf achten,

 


 

50 „Obediamus et potestatibus, nam cum omnis potestas a deo sit, qui potestati resistit, ut inquit apostolus, dei ordinatione resisitit. Obedite et prepositis vestris et subiacete eis; ipsi enim, ut testatur doctor gentium, pervigilant quasi rationem pro animabus vestris reddituri. Quin etiam subditi simus omni creature propter deum, sed, ne forte decipiamur, obedire oportet deo magis quam hominibus. Stulta quidem est obedientia et non sine divine maiestatis iniuria quam relicto deo creatore creaturis et hominibus exhibemus. Parendum est legi potius quam prepositis atque regi. Sic enim subditi potestatibus esse debeamus sicque iussionibus obedire quod non ad prevaricationem legis sed ad omne bonum opus inveniat obedientie sedulitas nos paratos.“ (Coluccio Salutati: De seculo, a.a.O. S. 135/136.) SALUTATI bezog sich mit diesen Ausführungen einerseits auf PAULUS (Röm 13,1-7), andererseits auch auf die Apostelgeschichte (Apg 5,29). Um den Widersprüchen zwischen den beiden dort genannten Anweisungen - einerseits Unterwerfung unter die Obrigkeit um fast jeden Preis, andererseits größere Gehorsamspflicht gegenüber Gott als gegenüber den Menschen - zu entkommen, wich SALUTATI auf seine bereits dargelegten Ansichten über juristische und göttliche Gesetze aus, anscheinend ohne zu bemerken, daß er auch damit keinen festen Boden unter den Füßen gewinnen konnte.
51 „... tyrannum esse qui invadit imperium et iustum non titulum dominandi, et quod tyrannus est qui superbe dominatur aut iniustitiam facit vel iura legesque non observat.“ [Coluccio Salutati: Tractatus de tyranno, ed. Francesco Ercole. Berlin, Leipzig 1914. S. XV. (= Quellen der Rechtspohilosophie, Bd I.)]
52 „o beatas respublicas, felicia regna, quorum reges et principes iusti sunt et sic se legibus subiciunt ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 34.)
53 Achille RATTI, 1857 - 1939; Papst seit 1922.
54 „et maxime cum ipse idem illorum studiosissimus sim et sepius mecum ipse stomacari soleam preclaros viros tum fortuna tum sanguine huiusmodi studia admodum iniuria quadam damnanda negligare; quippe cum pene omnium mortalium genus ad nummos et cumulandas divitias, quas etiam perituras cognoverit, occupatur illasque congerere summo opere connitatur. nec mirum, cum vulgus ignarum non virtutem consideret, sed vestium ornamenta, famulorum turbam et equorum apparatum nimium admiretur. ex quo fit ut homines, vulgarium opinione imbuti, non virtutem, que iam nullo in precio est, sed divitias, quibus omnis honos mortalium errore conferetur, consequi moliantur.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd I. S. 51.)
55 „ne ego vel fortunam tuam admiror vel sanguinis nobilem fomitem, quorum unum benigne sortis, liud seu Dei seu nature munus est; sed tuam virtutem, qua cunctis excellis ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd I. S. 57.)


durch eigen Bemühung zu Ansehen zu kommen. Berühmte Vorfahren verpflichteten dabei sogar zu noch stärkeren Anstrengungen. „Aber sage mir, fällt Dir nicht auf“, fragte er diesbezüglich einen seiner Briefpartner, „daß, wie Cicero vermutet, die Menschen am Beginn der Welt keine dem Gesetz entsprechenden ehelichen Verbindungen kannten? Daher muß es gewiß sein, daß jene ersten Menschen nicht den Glanz der Abstammung, die dem Gesetz entsprechenden Ehen der Eltern, die bei ihnen ja nichts galten, sondern allein die Tugend sich zur Ehre anrechneten. Was ja sehr richtig ist, da Du, wenn Du der Vernunft zustimmen möchtest, niemanden wegen seiner Familie und seiner Abkunft, sondern wegen seiner Tugend und seinen Verdiensten empfehlen wirst. Von diesem oder jenem von uns abzustammen ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk und eine Gabe des Zufalls. Allein die Tugend ist unser und widerstrahlt durch ihren Glanz. Daß aber der Ruhm der Eltern in unsere Ehre verwandelt wird, kann durch keinerlei Vernunftgründe gestützt werden. Ja sogar wenn Du tugendhaft gewesen bist, aber auch tugendhafte Vorfahren gehabt hast, ist Deine Ehre geringer, so wie auch der Glanz dessen geringer ist, der in das väterliche Besitztum eintritt, als die Ehre dessen, der es als erster erwarb; wie man auch feststellen muß, daß den Söhnen tugendhafter Ahnen eine größere Verpflichtung auferlegt ist, nach Tugend zu streben, als jenen, denen kein Glanz der Ahnen vorangeht.“56

Nicht Reichtum, nicht edle Abstammung, sondern nur die Tugend adelte in SALUTATIS Augen den Menschen. Im Vollbesitz dieser Tugend waren seiner Ansicht nach nur die Gebildeten, und zwar die humanistisch Gebildeten. Der Gebildete allein konnte als wahrer Adeliger gelten, und die Gemeinschaft der Gebildeten bildete den wahren Adel der Menschheit. Dies brachte SALUTATI gegenüber einem seiner Briefpartner auch ganz deutlich zum Ausdruck, als er ihm schrieb: „Man muß zugeben, daß Du weniger im Lichte Deiner Würde und Deines Standes glänzest als in dem von Tugend und Bildung, die beide in dem einzigartigen Wort ‘Humanität’ ausgedrückt werden. Denn nicht allein jene Tugend, die man auch Güte zu nennen pflegt, wird durch dieses Wort bezeichnet, sondern auch der Kenntnisreichtum und die Bildung; denn durch das Wort ‘Humanität’ wird mehr ausgedrückt als man gemeinhin denkt. So verwendeten die hervorragendsten der antiken Schriftsteller, sowohl Cicero als auch mehrere andere, dieses Wort für Bildung und Sittlichkeit; und das ist nicht erstaunlich. Denn außer dem Menschen gibt es kein bildungsfähiges Wesen, sodaß sich die Alten, weil es eine menschliche Eigenschaft ist zu lernen und Gebildete in höherem Maße Menschen sind als Ungebildete, durch Humanität und Bildung auszeichneten.“57

Eine Frühform bürgerlichen Leistungsdenkens

Dieser Adel des Menschen beruhte auf der eigenen Anstrengung und der eigenen Leistung eines jeden Angehörigen dieser neuen Adelsschicht, worauf sie auch in hohem Maße stolz waren. Wie sehr dieses Leistungsstreben als vorbildhaft angesehen wurde, zeigt sich beispielsweise an den vielen Lebensbeschreibungen von Humanisten, in denen deren Fleiß und sparsamer Umgang mit ihrer Zeit bei ihren Studien immer besonders lobend hervorgehoben wird.58 Hier sind bereits die ersten Ansätze des bürgerlichen Leistungsdenkens erkennbar, das zwei bis drei Jahrhunderte später, überformt durch den calvinistischen Protestantismus, die ideologische Begründung der kapitalistischen Wirtschaftsform bilden wird.59

Bildung adelt

Doch zurück zu Coluccio SALUTATI. Zwar beinhalteten seine Anschauungen, wie bereits gesagt wurde, durchaus revolutionäre Elemente hinsichtlich der Kritik an der bevorrechteten gesellschaftlichen Stellung von Geburts- und Geldadel. Diese wurden aber teilweise wieder gemildert, indem SALUTATI dem hierarchisch gegliederten Gesellschaftsmodell seiner Zeit insoweit verhaftet blieb, als er den Adelsstand und seinen Standesdünkel nur mit einer neuen Legitimation versah. Hatte nämlich der alte Adel verächtlich auf das niedere, elende Volk herabgesehen, so sah der Gelehrtenadel SALUTATIscher Prägung verächtlich auf das niedere, ungebildete Volk herab.

Aus dieser seiner Vorstellung vom wahren Adel erklärt sich SALUTATIS Gleichgültigkeit gegenüber der Regierungsform eines Staates. Die bis dahin gängige Vorstellung von der durch Geburt und Erbschaft begründeten Legitimation zur Herrschaft wurde zwar von SALUTATI nicht mehr anerkannt. Er kam aber deshalb durchaus noch nicht zur Ablehnung der Monarchie an sich, sondern höchstens zur Ablehnung der Erbmonarchie. Denn nicht jeder, der den Königstitel führt, ist deshalb auch schon ein „wahrer“ König - hier liegt eine Parallel zu SALUTATIS weiter vorne dargelegtem Denken über die Doppelnatur des Begriffes „Gesetz“ vor. Einer Wahlmonarchie hingegen, an deren Spitze der jeweils Tugendhafteste und Gebildetste eines Volkes stände, konnte SALUTATI durchaus etwas abgewinnen. Diese Ansicht fand er auch durch sein großes Vorbild PLATON bestätigt, dem er sich mit den Worten anschloß: „Halte ... mich für einen Platoniker, schließlich sagt dieses Orakel der Philosophie selbst, daß es für die Weisen eine Sache der Notwendigkeit sei, die politische Laufbahn einzuschlagen, damit nicht die verlassenen Steuerruder der Staaten von unredlichen und schändlichen Bürgern zu Schaden und Verderben für die guten gewendet werden.“60

 


 

56 „sed dic michi: nonne venit in mentem quod, sicut opinatur Cicero, mortales ab initio rerum nuptias legitimas non noscebant? ut tibi certum esse debat priscos illos homines non splendore natalium, non legitimis parentum coniugiis, que nulla apud ipsos erant, sed sola virtute sibi gloriam reputasse. Quod quidem usque adeo verum est, quod si rationi volueris acquiescere, nullum prosapia et sanguine, sed virtute et meritis commendabis. nasci quidem ex hoc vel illo nostrorum non est meritum, sed munus donusque fortune. solo vero virtus nostra est et suo resplendet lumine. quod autem parentum laudes in gloriam versentur nostram, nulla ratione firmari potest, imo, virtuosus fueris et progenitores habueris virtuosos, minor est tua gloria, sicuti minus est eius, qui in paternum successerit regnum, decus quam eius, qui primo quesiverit. quanvis fateri necesse sit maiorem impositam necessitatem virtuosorum filiis ad virtutem anhelare, quam illis, quos nullus maiorum splendor antecedit.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd III. S. 270.)
57 „quo fateri oportet te non in maiore dignitatis et status luce versari, quam virtutis atque doctrine, que duo unicum illud humanitatis vocabulum representat. nam non solum illa virtus, que etiam benignitas dici solet, hoc nomine significatur, sed etiam peritia et doctrina; plus igitur humanitatis importatur verbo quam communiter cogitetur. optimi quidem auctorum, tam Cicero quam alii plures, hoc vocabulo pro doctrina moralique scientia usi sunt; nec mirum. preter hominem quidem nullum animal doctrinabile reperitur. ut, cum homini proprium sit doceri et docti plus hominis habeant quam indocti, convenientissime prisci per humanitatem significaverint et doctrinam.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd III. S. 536.)
58 Ein schönes Beispiel hierfür bietet Eugenio Garin: Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik. Bd 2: Humanismus (L’educazione in Europa. Vol II: L’umanesimo, 1957). Reinbek: Rowohlt 1966. S. 25 ff. mit der Lebensbeschreibung des Gianozzo MANETTI.
59 Die ausführliche Darstellung dieser Entwicklung findet sich bei Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd 1. Tübingen: Mohr 1920. S. 17 - 206.
60 „... asseras me ... platonicum, imo ipsius philosophie oraculum est, sapientibus necessariam causa esse capessende reipublice, ne improbis flagitiosisque civibus urbium relicta gubernbacula pestem bonis ac perniciem ferant.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd II. S. 454.)


Rückblick

Coluccio SALUTATIS Lebensanschauung war vom Leitwert der Tugend geprägt war. Nach ihr zu streben, sollte man stets bemüht sein. Nur wer auf dem Pfad der Tugend wandelt, werde die ewige Seligkeit, die einzige und wahre Berufung des Menschen, erlangen. Die Tugend wäre auch die einzige Zier des Menschen, während Adel und Reichtum nur Talmi und Tand wären. Daneben zeigte SALUTATIS Tugendbegriff aber auch noch weitere Facetten, so etwa eine Ähnlichkeit mit dem der Stoa61. Demnach wäre Tugend erlernbar und auf das engste mit Bildung verbunden. Ohne Bildung sah SALUTATI in der Tat für den Menschen keinen Weg zu einem tugendhaften Leben.

Bis in ihre letzten Konsequenzen wollte Coluccio SALUTATI die stoische Tugendlehre aber doch nicht verfolgen. Konnte er der tugendhaften Selbstgenügsamkeit, der autarkeia, noch zustimmen, lehnte er das Ideal der Unempfindlichkeit gegen den Wechselfällen des Schicksals, die apaqeia, als letzten Endes unmenschlich ab, da daraus auch eine Gefühllosigkeit gegenüber den Mitmenschen erwachsen könnte. Der Mensch wäre vielmehr ein Gemeinschaftswesen, ein zvon politikon stimmte SALUTATI mit ARISTOTELES überein. Als solches sollte sich sein Bestreben auf das Wohl des Vaterlandes richten. Hierin zeigte sich SALUTATI von den römischen Vorstellungen der politischen Staatsbürgertugend beeinflußt. „Für das Vaterland leben“ - das war der Wahlspruch, den er seinen Freunden und Bekannten als Leitlinie des Lebens anzubieten nicht müde wurde. Es wäre eben falsch, sich aus der Gemeinschaft zurückzuziehen, um sich eigenbrötlerisch der Betrachtung und Spekulation hinzugeben.

Es wäre aber genauso falsch, nach Ruhm zu streben. Damit lehnte SALUTATI die wichtigste Triebkraft des antiken römischen Patriotismus und auch des politischen Handelns in seiner Zeit, nämlich den Ruhm in der Nachwelt, ab. SALUTATI begründete die Verpflichtung des Menschen zur politischen Tätigkeit mit der christlichen Nächstenliebe. Diese Nächstenliebe sollte sich aber nicht darauf beschränken, durch individuelle Almosen einzelnen kurzzeitige Linderung ihrer Notlage zu verschaffen, sondern in der Form der Wirksamkeit im Staate sollte sie die Wohlfahrt aller ermöglichen. Da der Staat die höchste Form der menschlichen Gemeinschaft wäre, wäre somit auch der Dienst am Staat die umfassendste Form der Nächstenliebe.

Diese Auffassung verrät deutlich ihre Herkunft aus den Verhältnissen eines Stadtstaates. Nur dort, wo mehr oder weniger jeder jeden kennt, wo aus diesem Grunde auch die Verbindung zwischen den Staatsbewohnern und der Staatsverwaltung noch unmittelbar war und auf persönlicher Bekanntschaft beruht, kann sich eine derartige politische Philosophie ausbilden. Weitaus anders waren und sind die Verhältnisse in den großen Territorialstaaten gelagert. Hier tritt der Staat als unpersönliche, stets fordernde Körperschaft dem einzelnen gegenüber, der oft genug nicht weiß, welchen Zielen die von ihm verlangten Anstrengungen und Leistungen dienen.

Durch das enge Naheverhältnis zwischen politischer Tätigkeit und christlicher Nächstenliebe, wie es nach der Auffassung SALUTATIS bestand, gewann jene für ihn fast eine religiöse Weihe. Der Staatsdienst wurde ihm gleichsam zum Gottesdienst, indem er seine Kräfte zum Wohle der Gottesgabe Vaterland einsetzte. Damit erwies sich SALUTATI als Mann zwischen zwei geistigen Welten. In seiner Jugend hatten die christlich-mittelalterlichen Überlieferungen noch stark seine persönliche Entwicklung mitgeformt. Bei SALUTATIS Geburt war Dante ALIGHIERI (1265 - 1321), der letzte große christliche Dichter Italiens, erst seit zehn Jahren tot, lag die Heiligsprechung des THOMAS aus Aquino (1225 - 1274), des bedeutendsten Vertreters der scholastischen Theologie, erst acht Jahre zurück. Als SALUTATI in Bologna studierte, stand dort die Pflege des kanonischen Rechts in Blüte. Andererseits meldete sich in seinen Überlegungen und Gedankengängen doch auch schon oft der antike Geist zu Wort. Immer wieder sprach SALUTATI Ideen aus, die der weltflüchtigen Askese der christlichen Tradition widersprachen. Vor allem dann, wenn er betonte, daß der Mensch sich nicht sosehr durch Glaube und Frömmigkeit, sondern durch - staatsbürgerliche - Tugend auszeichne, daß nicht die stille Betrachtung, sondern ein tatenfrohes Leben zum Heil führe. Wie überhaupt zu bemerken ist, daß SALUTATI sich vorwiegend in seinen umfangreichen Studien und Abhandlungen auf dem Boden der christlichen Lehre bewegte, während in seinen Briefen seine Belesenheit in der antiken Philosophie und Geschichte viel stärker zum Ausdruck kam.

„Ex oriente lux“

Das Studium der Antike erhielt in den letzten Lebensjahren SALUTATIS mit der Zuwanderung griechischer Gelehrter und Theologen aus dem untergehenden romäischen Reich neue und fruchtbare Anregungen. Im Jahre 1389 war in der Schlacht auf dem Kosovo polje, dem Amselfeld, der letzte Widerstand der slawischen Balkanvölker gegen den Vormarsch der muslimischen Osmanen zerschlagen worden. Fünf Jahre später, im Jahre 1394, schloß sich zum ersten Mal ein osmanischer Belagerungsring um Konstantinopolis. Nach dem osmanischen Sieg über ein vom ungarischen König SIGISMUND62 geführtes europäisches Kreuzheer bei Nikopolis im Jahre 1396 war das Ende des romäischen Reiches abzusehen. Als Mitglieder der Gesandtschaften, die im Auftrage der romäischen Kaiser JOHANNES V.63 und MANUEL II.64 bei den beiden Päpsten und bei den europäischen Herrschern um Unterstützung gegen die Osmanen baten, kamen viele griechische Gelehrte mit ihren Bücherschätzen und blieben in Italien, wo ihnen die neu erwachte Begeisterung für die Philosophie und Geschichte der alten Griechen eine neue Lebensgrundlage zu bieten versprach. Unter den vielen sei besonders Manuel CHRYSOLORAS (gestorben 1415) hervorgehoben, der ab dem Jahre 1400 in Florenz als Lehrer für griechische Sprache und Philosophie neben vielen anderen den alten Coluccio SALUTATI und den jungen Lionardo BRUNI aus Arezzo, vom dem noch die Rede sein wird, beeindruckte.

Der endgültige Untergang des romäischen Kaiserreiches, das ohnehin nur mehr aus der engeren Umgebung der Hauptstadt Konstantinopolis, einigen Inseln und Küstenstädten am Ägäischen Meer und dem Despotat Mistra auf der Peloponnes bestand, wurde durch den Einfall des TIMUR LENG65  in Kleinasien hinausgezögert. In der Schlacht bei Ankara im Jahr

 


 

61 Von ZENON aus Kition (335 - 262 v.u.Z.) um 300 v.u.Z. gegründete, nach ihrem Versammlungsort, der Stoa piokilé, einer Säulenhalle auf der Agora Athens, benannte griechische Philosophenschule, die bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts bestand. Oberste Maxime der stoischen Ethik war die Forderung, Neigungen und Affekte als der Vernunft zuwiderlaufend und die Einsicht behindernd zu bekämpfen und zur apaqeia, zur Leidenschaftslosigkeit, zu gelangen. Die Blütezeit der stoischen Philosophie lag im 1. Jahrhundert. Später ging sie im Neuplatonismus auf.
62 1368 - 1437; 1387 König von Ungarn, 1410 deutscher König, 1431 römischer Kaiser.
63 1332 - 1391; Kaiser 1341 - 1376 und 1379 - 1391.
64 1350 - 1425; Kaiser seit 1391.
65 1336 - 1405; Sultan in Samarkand seit 1370.


1402 zertrümmerte er das osmanische Reich, das für einige Jahre in Thronkämpfe der verschiedenen Söhne des gefangen weggeführten Sultans BAJEZID I. Yildirim66 versank.

In dem für die romäischen Reichsteile folgenden ruhigen zwei Jahrzehnten kam es in Mistra zu einer späten Nachblüte des Hellenismus. Angeregt durch die unmittelbare Nähe Mistras zum antiken Sparta entwickelte der neuplatonische Philosoph Georgios GEMISTOS PLETHON (1360? - 1450?) nach dem Vorbild der „Politeia“ PLATONS den Plan für einen griechischen Musterstaat auf der Peloponnes, von dem eine Wiedergeburt des Griechentums ausgehen sollte. Neben Anregungen für eine wirtschaftliche und militärische Neuordnung schlug er auch vor, daß die Griechen zum Glauben an die alten Götter zurückkehren sollten. Es ist daher nicht verwunderlich, daß der Patriarch von Konstantinopolis die Schriften PLETHONS dem Feuer überantwortete.67

Mit dem Regierungsantritt Sultan MURADS II. (1404 - 1451; Sultan seit 1421) war die ruhige Zeit vorbei. In den Jahren 1423 und 1425 durchzogen osmanische Heere Griechenland und die Peloponnes, eine Spur der Verwüstung hinter sich lassend. PLETHON ging nach Italien; mit ihm und nach ihm noch andere wie Johannes ARGYROPOULOS, Theodoros GAZA, GREGORIOS aus Trapezunt oder Konstantinos LASKARIS. Dort gaben sie den „Humanistischen Studien, wie die Beschäftigung mit Sprache, Philosophie und Geschichte der Antike zusammenfassend genannt wurde, neuen Auftrieb und damit auch der Herausbildung eines weitverzweigten Privatschulwesens. Durch dieses Bildungssystem wesentlich geformt wurde neben vielen anderen auch Lionardo BRUNI.

Lionardo Bruni - der homo politicus

Lionardo BRUNI (1369 - 1444), geboren in der toskanischen Stadt Arezzo, geriet schon in jungen Jahren in den Bannkreis der humanistischen Bildung, als er neben seinen juristischen Studien in Florenz die Vorlesungen des romäischen Gelehrten Manuel CHRYSOLORAS über griechische Sprache und Philosophie hörte. Im Kreise der an der klassischen Bildung interessierten Florentiner erregte der junge BRUNI die Aufmerksamkeit Coluccio SALUTATIS. Beide Männer kamen einander näher, und SALUTATI gewährte dem vaterlosen BRUNI ausreichende materielle Unterstützungen, um ihm seine Studien zu ermöglichen. BRUNI hat sich nach dem Tode SALUTATIS dafür erkenntlich gezeigt, indem er einem seiner Söhne, der an einem Augenleiden litt, zwei kirchliche Pfründen verschaffte, die ihm eine angemessene Lebensführung ermöglichten.

Im Jahre 1405 erlangte BRUNI eine Sekretärsstelle an der römischen Kurie unter Papst INNOCENTIUS VII.68 in deren Ausübung er nicht nur den diplomatischen Schriftwechsel, sondern auch verschiedene politische und militärische Aufgaben zu erledigen hatte. Die Übertragung eines Bistums als Anerkennung für seine Dienste lehnte BRUNI jedoch ab; er bevorzugte ein Leben im Laienstand. Als sich mit der Absetzung des Papstes GREGORIUS XII.69 durch das Konzil von Pisa im Jahre 1409 die Situation der römischen Kurie prekär zu gestalten begann, suchte BRUNI einen ehrenvollen Weg, um aus dem kurialen Dienst auszuscheiden, der sich ihm im Jahre 1410 mit der Berufung zum Kanzler von Florenz eröffnete. Allerdings war diese Stelle wesentlich geringer dotiert als seine frühere an der Kurie, sodaß BRUNI Florenz nach wenigen Monaten wieder verließ, um einen Posten bei dem auf dem Konzil von Pisa gewählten Papst JOHANNES XXIII. anzunehmen. Das bedeutendste Ereignis im Dienste dieses neuen Papstes war die Reise zum Konzil von Konstanz und der Aufenthalt in dieser Stadt, wovon BRUNI ausführliche Berichte an seine Freunde und Bekannten gab. Als die Verhandlungen des Konzils erkennen ließen, daß die Tage JOHANNES’ XXIII. als Papst gezählt waren, verließ BRUNI den kurialen Dienst erneut und kehrte im Jahre 1415 nach Florenz zurück.

Dort führte BRUNI in den folgenden Jahren das Leben eines Privatgelehrten und arbeitete an seinem Hauptwerk, einer „Geschichte der Stadt Florenz“, das ihm nach seiner Fertigstellung große Ehrungen von seiten der Stadtregierung und eine Befreiung von allen Abgaben einbrachte, weil er darin den Nachweis erbracht hatte, daß die Stadt nicht von C. IULIUS Caesar (100 - 44 v.u.Z.), der als Begründer des römischen Kaisertums galt, sondern bereits in der Zeit der römischen Republik von Lucius CORNELIUS Sulla (138 - 78 v.u.Z.) gegründet worden war. Daneben vertiefte er sich in umfangreiche Studien der griechischen Philosophie, vor allem des ARISTOTELES, vom dem er einige Werke neu ins Lateinische übersetzte. Als im Jahre 1427 das Amt des Kanzlers von Florenz wieder frei wurde, nahm BRUNI es ein zweites Mal an und bekleidete es bis zu seinem Tode im Jahre 1444.

Brunis Stellung zu Bildung und Philosophie

Die vollkommene Beherrschung der beiden antiken Sprachen und die daraus gewonnene Kenntnis der Alten Geschichte bestärkten Lionardo BRUNI in der Meinung, daß alle echte Bildung nur in einer Aneignung der klassischen Bildungsideale zu finden sei. Ein Vergleich seiner Gegenwart mit der Welt der Antike zeigte in seinen Augen eindeutig die Überlegenheit der letzteren über die erstere. „... weder im Kriegswesen noch in der Staatsführung, weder in der Redekunst noch im Studium der schönen Künste entsprechen unsere Zeiten den Alten. Es sei denn unser Zeitalter könnte einem Platon, Aristoteles oder Karneades oder vielen anderen Alten in Weisheit und Gelehrsamkeit, einem Demosthenes oder Tullius in der Redekunst, oder in der Staatsführung einem Perikles, Solon oder Cato, oder selbst in der Kriegskunst, worüber wir hier schreiben, einem Pyrrhos oder Hannibal, einem Fabius Maximus oder Marcus Marcellus oder einem Caius Iulius Caesar gleichwertige oder vergleichbare Männer gegenüberstellen.“70

Allein durch beständiges und eingehendes Studium der alten Schriftsteller könne man für sich die Bildung und die Fülle der Kenntnisse erwerben, die notwendig wären, um diesen großen Männern nahe zu kommen. Vor allem aber, und hier schlug der Philologe und Stilist in BRUNI durch, sollte man ständig seine Ausdrucksfähigkeit schulen. „Denn was nützt es, Vieles und Schönes zu kennen, wenn man weder würdig darüber sprechen noch sich dem Papier

 


 

66 1347? - 1403; Sultan seit 1389.
67 Zu Mistra am Beginn des 15. Jahrhunderts siehe: Georg Ostrogorsky: Geschichte des byzantinischen Staates (1940). München: Beck 1980. S. 487/488. Und: Franz Georg Maier: Byzanz. Frankfurt am Main: Fischer 1976. S. 299/300 (= Fischer Weltgeschichte. Bd 13)
68 Cosimo MIGLIORATI, 1336 - 1406; Papst seit 1404.
69 Angelo CORRER, 1325 - 1417; Papst 1406 - 1415.
70 „... nec in re militari nec in gubernatione rerum publicarum nec in eloquentia nec in studiis bonarum artium tempora nostra antiquis respondere. Nisi forte Platoni aut Aristoteli aut Carneadi aut multis aliis veteribus in sapientia et doctrinis, aut Demostheni et Tullio in eloquentia, aut in gubernatione rerum publicarum Pericli, Soloni et Catoni, aut in has ipsa, de qua contendimus, militari arte Pyrrho aut Hannibali aut Fabio Maximo aut M. Marcello aut C. Iulio Caesari saecula nostra pares aliquos aut comparandos queunt proferre! [Hans Baron: Leonardo Bruni Aretino; Humanistisch-philosophische Schriften mit einer Chronologie seiner Werke und Briefe. Leipzig, Berlin 1928. S. 124/125. (= Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Bd 1.)]


anvertrauen kann, ohne daß man lächerlich wirkt?“71 Schließlich seien Bildung und Ausdrucksfähigkeit untrennbar miteinander verbunden. „Denn literarische Fähigkeiten ohne Sachkenntnis sind fruchtlos und unnütz, und Sachkenntnis, mag sie auch noch so umfassend sein, erscheint, wenn sie einer glanzvollen Darstellung entbehrt, irgendwie armselig und unverständlich.“72

Hinwendung zur Philosophie des Aristoteles

Seine profunde Kenntnis der griechischen Sprache ermöglichte es Lionardo BRUNI auch, die griechische Philosophie gründlicher zu studieren als dies bis zu seiner Zeit im vorwiegend lateinisch sprechenden und schreibenden Westen der Fall gewesen war. Er lernte auf diese Weise Philosophen kennen, die vor ihm weithin unbekannt waren wie beispielsweise XENOPHON (430 - 355/354 v.u.Z.)73 Entscheidend für seine weitere persönliche Entwicklung wurde für BRUNI seine Übersetzung der „Ethik“ des ARISTOTELES ins Lateinische etwa um das Jahr 1417.

Bis dahin hatte er noch einem Stoizismus gehuldigt, wie er, vermittelt durch die Werke des Marcus TULLIUS Cicero (106 - 43 v.u.Z.) und des Lucius ANNAEUS Seneca (4 v.u.Z. - 65), Coluccio SALUTATI und seine Generation geprägt hatte. Auch pries er bis dahin auch noch PLATON wegen des Umstandes, daß er in seiner Philosophie der christlichen Lehre so nahe gekommen wäre und er darum ein Philosoph sei, „der in keiner Weise von der christlichen Religion abspenstig macht, sondern so viel Übereinstimmung mit ihr zeigt, daß die Grundlagen seiner Lehren aus unseren Büchern entnommen zu sein scheinen.“74

Unter dem Einfluß seiner wachsenden Kenntnis des ARISTOTELES wandte sich Lionardo BRUNI zunehmend von PLATON ab. Mit der Hinwendung zu ARISTOTELES verbunden war bei BRUNI auch eine neue Lebensanschauung. Er verschrieb sich der aristotelischen Güterlehre, die dem Genuß und der Verwendung irdischer Güter ihr Recht gibt und nicht das tätige Leben und die natürlichen Leidenschaften geringschätzig abtat, worin sich stoische Apathie und christliche Askese in gleicher Weise gefielen. Hatte zum Beispiel SALUTATI noch den Reichtum als Quelle des Lasters verachtet, so fand BRUNI durchaus lobende Worte für ihn: „Es gibt aber auch nützlichen Reichtum, da er sowohl seinem Besitzer zur Zier gereicht als auch Gelegenheit zur Ausübung der Tugend bietet. Er nützt auch den Söhnen, die durch ihn leichter zu Ehren und Würden aufsteigen.“75

Brunis Menschenbild

Mit „Ehren und Würden“ sind die Stichworte gefallen, warum BRUNIS Hinwendung zu ARISTOTELES für die Beleuchtung der Ursprünge der politischen Bildung so bedeutsam ist.

Die aristotelische Philosophie kam BRUNIS Neigung zur politischen Tätigkeit sehr entgegen. BRUNI war ebenso wie sein Lehrer SALUTATI ein durch und durch politischer Mensch. Während aber SALUTATI, in seiner Jugend noch entscheidend von den Idealen eines asketischen Christentums geprägt und von stoischen Lehren beeindruckt, noch um die Rechtfertigung dafür gerungen hat, nicht weltflüchtig die Einsamkeit gesucht, sondern sich in den Trubel der politischen Auseinandersetzung begeben zu haben, fand BRUNI in der aristotelischen Ethik und Güterlehre die Bestätigung seiner Ablehnung der „vita contemplativa“. Er fand sie dort um so leichter als er in der Theologie seiner Zeit keine ihn beeindruckende Gelehrsamkeit mehr sah, ja überhaupt ihre Wissenschaftlichkeit in Zweifel zog, wenn er an einer Stelle bemerkte: „Aber ich spreche nicht von jener gewöhnlichen und verworrenen Gelehrsamkeit, die diejenigen besitzen, die sich heute mit Theologie beschäftigen, sondern von jener rechtmäßigen und echten Bildung, die eine echte Verbindung herzustellen sucht zwischen der Kenntnis der literarischen Überlieferung und den Gebieten der Wissenschaften ...“76 In diesem Zusammenhang sei auch darauf hingewiesen, daß BRUNI zur Ausgestaltung und Untermauerung seiner Darlegungen fast nie Bibelstellen oder Zitate aus den Kirchenlehrern heranzog, wie dies SALUTATI noch vielfach getan hatte.

Eben weil der Mensch ein geselliges Wesen, einzvon politikon, ist, war für BRUNI ein tätiges Leben dem beschaulichen vorzuziehen. „Das beschauliche Leben ist zwar gewiß gottähnlicher und seltener, das tätige Leben aber im allgemeinen Nutzen hervorragender“, stellte er lapidar fest. BRUNI ging sogar noch weiter, indem er am Beispiel des Lebens Dante ALIGHIERIS seine Verachtung derer, die sich der Kontemplation verschrieben haben, Ausdruck gibt. „Dieses Beispiel ist eine vollkommene Widerlegung jenes Irrglaubens, in dem so viele Unwissende nur denjenigen für einen Jünger der Wissenschaft erachten, der sich in Abgeschiedenheit und Müßigkeit verkriecht. Ich für meinen Teil habe unter diesen Stubenhockern, die den Verkehr mit den Menschen meiden, noch keinen getroffen, der wenigstens bis drei zählen konnte.“77

Die Neigung BRUNIS zum politisch tätigen Leben - und sein vorhin wiedergegebener Satz, daß das tätige Leben von größerem Nutzen für die Gemeinschaft sei, läßt wohl den Schluß zu, daß nach BRUNIS Auffassung das tätige Leben in erster Linie eine Tätigkeit in der Politik zum Inhalt hatte - beeinflußte auch sein Bildungsideal. In diesem räumte er der Kenntnis der Geschichte einen bedeutenden Platz ein. „Über viele Dinge gibt uns die Geschichte nützliche Unterweisung, indem sie an Beispielen zeigt, was für einen Ausgang ähnliche Unternehmungen gehabt haben. Ihre Belehrung ist vergleichbar mit derjenigen von hochbetagten Männern, die von den jungen Leuten deswegen als weise geschätzt werden, weil sie in ihrem Leben vieles gesehen haben und durch eigenen sowie durch fremden Schaden klüger geworden sind und nunmehr vernünftiger urteilen und bessere Ratschläge

 


 

71 „Quid enim prodest multa et pulchra scire, si neque loqui de his cum dignitate neque mandare litteris nisi ridicule possis?“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 19.)
72 „Nam et litteras sine rerum scientia steriles sunt et inanes, et scientia rerum quamvis ingens, si splendore careat litterarum, abolita quaedam obscuraque.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a. O. S. 19.)
73 XENOPHON war Schüler des SOKRATES (470 - 399 v.u.Z.) und hinterließ historische [darunter vor allem die „Anábasis“, die Schilderung des Rückzuges der griechischen Söldnertruppe des persischen Thronprätendenten KYROS nach dessen Niederlage in der Schlacht bei Kunaxa (401 v.u.Z.)], philosophische (vor allem seine Erinnerungen an SOKRATES) politisch-ethische [am bedeutendsten hiervon ist die „Kýrou paidía“, ein Buch über die Erziehung des Perserkönigs KYROS II. (559 - 529 v.u.Z.)] und verschiedene kleinere Schriften.
74 „... qui a vera religione ... nequaquam abhorret, sed tantam habet convenientiam, ut fundamenta sententiarum suarum ex nostris libris putetur sumpsisse.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 4.) Diese Sätze schrieb BRUNI in der Widmung seiner Übersetzung von PLATONS Dialog „Phaidon“ an Papst INNOCENTIUS VII.
75 „Sunt vero utilies divitiae, cum et ornamenta sint possidentibus et ad virtutem exercendam suppeditent facultatem. Prosunt etiam nati ,qui facilius per illas ad honores dignitatesque sublevantur.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 120/121.)
76 „Eruditionem autem intelligo non vulgarem istam et perturbatam, quali utuntur ii, qui nunc theologiam profitentur, sed legitimam illam et ingenuam, quae litterarum peritiam cum rerum scientia contingit ...“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 6.)
77 „Nella qual cosa mi giova riprendere l’errore di molti ignoranti, i quali credono, niuno essere studiante, se non quelli, che si nascondono in solitudine ed in ozioso; ed io non vedi mai niuno di questi camuffati e rimossi dalla conversazione delli uomini che sapesse tre lettere.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 53.)


erteilen können.“78 Auch an anderer Stelle betonte BRUNI den Nutzen der Geschichte: „Die Kenntnis der Vergangenheit leitet nämlich die Umsicht und den Ratschluß, und der Ausgang ähnlicher Unternehmungen bestärkt uns entweder in unserem Vorhaben oder hält uns davon ab.“79

Die Hervorhebung der Kenntnis der Geschichte als Entscheidungshilfe für politisches Handeln und die Betonung der Wichtigkeit einer guten Ausdrucksfähigkeit, die im Umgang mit Menschen unentbehrlich ist, als tragende Elemente seines Bildungsbegriffs weisen auf BRUNIS Idealbild vom Menschen. Er war der erste, der dem Menschenbild des Humanismus Gestalt gegeben hat: es ist der umfassend gebildete, im praktisch-politischen Leben stehende Mensch - der Renaissancemensch. Ausgehend von der Tatsache, daß der Mensch eine Einheit von Körper und Geist ist, wies BRUNI der Körperlichkeit des Menschen diejenigen Eigenschaften als Güter zu, die das bis dahin in Geltung stehende christlich-asketische Menschenbild für hinfällig und wertlos erachtet hatte. Bei BRUNI standen nun neben den Gütern des Geistes wie Weisheit, Klugheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit gleichrangig auch die Güter des Körpers, als das sind Gesundheit, Schönheit, Kraft, Ausdauer, Abhärtung, Standhaftigkeit und ähnliches mehr.80

Als Verkörperungen seines Ideals stellte Lionardo BRUNI seinen Zeitgenossen vor allem Marcus TULLIUS Cicero vor, über den er sich voll des Lobes äußerte: „Als ein Mann, der wahrlich geboren wurde, um den Menschen sowohl im staatlichen Leben als auch auf dem Gebiete der Wissenschaft zu nützen, hat er den Staat als Konsul und in vielen Reden vor Schaden bewahrt und in Bildung und Wissenschaft nicht allein seinen vielen Mitbürgern, sondern schlechthin allen, die die lateinische Sprache beherrschen, das Licht der Bildung und Weisheit angezündet. ... Deshalb ist es gleichermaßen angebracht, ihn sowohl ‘Vater des Vaterlandes’ zu nennen als auch ‘Vater unserer Redekunst und Wissenschaft’. Wenn man seine Bücher und seinen schriftlichen Nachlaß liest, möchte man niemals glauben, daß er noch Zeit zur Erledigung von mancherlei Geschäften gefunden hat. Andererseits aber, wenn man seine Taten und Bemühungen, seine Beschäftigungen und Anstrengungen in öffentlichen und privaten Angelegenheiten bedenkt, möchte man annehmen, daß ihm zum Lesen und Schreiben keine Muße verblieben ist. ... So hat er allein, wie ich glaube, die zwei größten und schwierigsten Aufgaben der Menschen erfüllt: auch im Staat, der den Erdkreis regierte, viel beschäftigt, schrieb er mehr als Philosophen, die in Muße nur dem Studium lebten; andererseits in hohem Maße ausgefüllt von Studien und der Abfassung von Büchern, erledigte er mehr Staatsgeschäfte als solche, die von jeder Sorge um die Wissenschaft frei waren. ... Ich glaube, daß er dieser Dinge wegen zu bewundern ist: erstens wegen seiner erstaunlichen und göttlichen Geistesgröße, zweitens wegen seiner wachen und tüchtigen Natur, drittens, daß er, erfüllt mit aller Weisheit und Gelehrsamkeit, sich dem Staat gewidmet hat.“81

Das Lob, das BRUNI seinen Vorbildern dafür zollte, daß sie sich sowohl der Bildung als auch der Politik gewidmet haben, beruhte nicht allein auf seiner Übereinstimmung mit ARISTOTELES, daß der Mensch einzvon politikon wäre, sondern mehr noch darauf, daß er davon überzeugt war, daß der Staat eine Lebensnotwendigkeit für den Menschen sei. „Da nun aber der Mensch ein schwaches Wesen ist“, begründete BRUNI dieses Auffassung, „und da er aus sich selbst keine Kraft und Vollkommenheit hat, diese aber aus der bürgerlichen Gemeinschaft erwirkt, kann letztlich keine Wissenschaft dem Menschen angemessener sein, als Stadt und Gemeinschaft zu kennen und zu wissen, wodurch eine Gemeinschaft von Bürgern erhalten wird oder zugrunde geht.“82

Darum sah er in der „Polítika“ des ARISTOTELES, die BRUNI wegen ihrer Bezogenheit auf die Verhältnisse des antiken Stadtstaates wie auf seine zeitgenössischen Verhältnisse zugeschnitten erschienen ist, eine Art Pflichtlektüre für jeden, der in das politische Leben eintreten wollte. In diesem Sinne schrieb er an den Widmungsträger seiner lateinischen Übersetzung der „Polítika“, einen führenden Politiker der Republik Siena: „Eure Ehrwürdigkeit möge daher nicht ungnädig sein, sondern diese kleine Gabe annehmen und nicht die Geringfügigkeit derselben beurteilen, sondern die Bemühung ihres Übersenders, und ich möchte empfehlen, daß die Lektüre dieser Schrift für Eure Bürger zur Pflicht gemacht werde, denn es ist für eine Republik von höchster Wichtigkeit, daß ihre Bürger von verehrungswürdigen Lehren durchdrungen sind und weder durch Zufall noch durch Gewalt, sondern auf dem sicheren und rechtmäßigen Wege nach eingehender Unterweisung an die Staatsführung herangehen ...“83

BRUNI folgte hier seinem Lehrer SALUTATI und der allgemeinen humanistischen Auffassung, daß Politik und Staatsführung nicht einer bestimmten Gruppe im Staat vorbehalten sein sollten. Nicht der Zufall der Erbfolge und schon gar nicht die gewaltsame Usurpation berechtigten zu irgendwelchen Ansprüchen auf die politische Führerstellung, sondern einzig und allein die in persönlichem Bemühen erworbene Bildung gäbe hierzu ein Anrecht. Nur dem neuen humanistischen Bildungsadel stünde es zu, das Schicksal der Staaten zu gestalten, nur die Gebildeten wären fähig, für die Gemeinschaft segensreich zu wirken. Daher sollte es sich nach dem Willen BRUNIS jeder Bürger, der ja jederzeit in ein öffentliches Amt berufen werden konnte, angelegen sein lassen, sich eine gründliche Vorbildung anzueignen. Denn es entspräche nicht dem Wert der politischen Wissenschaft, wenn jedermann ohne besondere Kenntnisse und Fähigkeiten die Möglichkeit erhielte, in das Leben hunderter Mitbürger unter

 


 

78 „Habet ... historiae cognitio ... utilitatem plurimam per exempla smilium coeptorum atque exitum multarumque rerum instructionem, qua senes adolescentibus sapientiores existimatur, quoniam plura conspexerunt in vita et non ex suis tantum, verum etiam ex alienis periculis cautiores effecti melius iudicant melioraque consilia assumunt.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 148/149.)
79 „Dirigit enim prudentiam et consilium praeteritorum notitia, exitusque similium coeptorum nos pro re nata aut hortantur aut deterrent.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 13.)
80 „... cum homo constet ex anima et corpore utriusque particulae bona ac quasi dotes quaedam exsistant (ut animi quidem sapientia, fortitudo, iustitia ceteraeque virtutes, corporis autem valitudo, forma, robur, firmitas, patientia laborum, pernicitas et eiuscemodi aliae) ...“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 135.)
81 „Homo vere natus ad prodessendum hominibus vel in re publica vel in doctrina, siquidem in re publica patriam consul et innumerabilis orator servavit, in doctrina vero et litteris non civibus suis tantum, sed plane omnibus, qui Latina utuntur lingua, lumen eruditionis sapientiaeque aperuit. ... Itaque non magis ‘patrem patriae’ appellare ipsum convenit quam ‘patrem eloquii et litterarum nostrarum’, cuius libros monumentaque si evolvas, numquam otium illi fuisse credas ad negotia obeunda. Rursus autem, si res gestas eius, si contentiones, si occupationes, si certamina in re publica et privata consideres, nullum tempus illi reliquum fuisse existimes ad legendum vel scribendum; ... Ita solus, ut credo, hominum duo maxima munera et difficillima adimplevit: ut et in re publica orbis terrarum moderatrice occupatissimus plura scriberet, quam philosophi in otio studioque viventes; et rursus studiis librisque scribendis maxime occupatus plura negotia obieret, quam ii, qui vacui sunt ab omni cura litterarum. ... Huius ego causam fuisse puto admirabilem quamdam ac divinam ingenii magnitudinem, deinde, vigilantem solertemque naturam, tertio, quod plenus omni sapientia omnique doctrina ad rem publicam se contulerat.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 114/115.)
82 „... cumque homo imbecillum sit animal et, quam per se ispum non habet sufficientiam perfectionemque, ex civili societate reportet, nulla profecto convenientior disciplina homini esse potest, quam, quid sit civitas et res publica, intellegere et, per quae conservetur intereatque civilis societas, non ignorare.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 73.)
83 „Vestra igitur excellens magnitudo non dedignetur hoc parvum munus recipere, aestimans non exiguitatem doni, sed affectionem mittentis, ac iuberem ut eius legendi copia fiat civibus vestris. Plurimum enim interest reipublicae, ut cives sanctissimis praeceptis imbuatur ac non casu neque fortuitu, sed certo ligitimoque calle per disciplinam incendant ad civitatem gubernandam ...“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 143.)


Umständen folgenschwer einzugreifen. Nur der neue Mensch, der Renaissancemensch, kann, darf und soll verantwortliche politische Entscheidungen treffen.

Die Bewertung des Staates bei Bruni

Da der Mensch allein auf sich gestellt schwach und unvollkommen sei, bedürfe er des Staates und der bürgerlichen Gemeinschaft, um zu einem vollwertigen Wesen zu werden, wurde BRUNI einige Absätze früher zitiert. Weil nun der Mensch in einem derart hohen Maß vom Staat abhängig ist, wäre nach Meinung Lionardo BRUNIS der Staat der einzige und alleinige Bezugspunkt und Inhalt des menschlichen Lebens. „Der Staat ist nämlich der Herr des Lebens und der Vervollkommner der menschlichen Talente. Er verteilt nämlich die Aufgaben unter den Bürgern, er sorgt für alle Notdurft, er weist alles Schädliche ab und er führt aus der Gemeinschaft den Schwächen der einzelnen Unterstützung zu, sodaß schließlich jene Pflichten der Menschen, die durch seine Anordnung und seinen Befehl bestehen, als angemessen anzusehen sind.“84

Es lag somit für BRUNI in jedermanns Interesse, sich am staatlichen Leben zu beteiligen und sich damit selbstverständlich dem Dienst am Staat zu widmen, wenn man Vollkommenheit strebte. Ja, es ließe sich sogar sagen, daß derjenige, der sich von allem menschlichen Umgang zurückzieht, dem Staat und der Gemeinschaft schadete, weil er ihnen seine Begabungen und Fähigkeiten vorenthielte, mit welchen die Mängel anderer ausgeglichen werden könnten.

Das Vorbild dieses Staates, dem der Mensch sich so vorbehaltlos verschreiben mußte, war der Staat der alten Römer, die römische Republik. Das Lob ihrer großen Männer, allen voran und in erster Linie eines M. TULLIUS Cicero zu singen, wurde BRUNI nicht müde. In diesem Staat war, um ein geflügeltes Wort abzuwandeln, ein Mann noch etwas wert, und die Männer von Florenz, dieser ruhmreichen Tochter Roms, sollten ihnen nacheifern. Jeder Bürger sollte die politischen Bücher der alten Philosophen lesen, damit er ausreichend vorbereitet in das politische Leben treten konnte. Jeder Bürger mußte aber auch, da ihn BRUNI so vollständig den Herrschaftsansprüchen des Staates unterwarf, jederzeit bereit sein, ein Staatsamt zu übernehmen, wenn der Staat ihn rufen sollte. Einen persönlichen Eigenbereich, der dem Zugriff des Staates entzogen wäre, kannte BRUNI nicht. Vielmehr mußte ein Bürger seine privaten Interessen stets den staatlichen Erfordernissen unterordnen.

Nicht mehr Gott, den BRUNI nur mehr in stehenden Redewendungen erwähnte, nicht mehr die Kirche, deren Papst in seinen Augen nicht viel mehr war als ein Fürst unter Fürsten85, schon gar nicht Kaiser und Reich, sondern der Staat, insbesondere der bürgerliche Stadtstaat seiner italienischen Heimat stand für BRUNI im Mittelpunkt seiner Lebensanschauung. Welche gefährlichen Weiterungen ein folgerichtiger Ausbau dieser Gedanken für den Einzelmenschen nach ziehen könnte, hat BRUNI wohl nicht weiters erwogen. Die republikanische Staatsform seines in Ansätzen doch totalitären Idealstaates war ihm offenbar Garantie genug, daß die Freiheit seiner Bürger nicht beschnitten würde. Noch zu seinen Lebzeiten aber hat BRUNI erleben müssen, wie die Republik Florenz, die er so gern als Muster seines idealen Staates ansah, zur Domäne einer einzigen Familie, nämlich der MEDICI, werden konnte, ohne daß diese einen gewaltsamen Staatsstreich durchgeführt hätte.

Der Zwiespalt zwischen einer jenseitigen Berufung des Menschen und seiner politischen Tätigkeit, den Coluccio SALUTATI noch in vielen Briefen und langen Traktaten abgearbeitet hatte, kannte BRUNI nicht mehr. Indem er das Jenseits ganz in den Hintergrund drängte, setzte er dem Menschen nur ein Ziel und eine Berufung - den Staat. Diese Auffassung BRUNIS lebte, abgesehen von einigen geringfügigen Änderungen, die aber nie ihren Kern berührten, weiter und diente zuletzt auch noch als Stütze der totalitären Staatssysteme des Kommunismus und Faschismus. Nach dem Zusammenbruch dieser Staatsformen beeinflußt sie in der Gegenwart immer noch die Einstellungen vieler in Gestalt der Forderung, sich den Erfordernissen der Wirtschaft - was immer das ist und welche immer das sein mögen - zu unterwerfen.

Ausblick

In den vorangehenden Ausführungen ist überblickshaft dargestellt worden, wie m 14. Jahrhundert in Nord- und Mittelitalien Ereignisse eingetreten und Entwicklungen abgelaufen sind, die in vielen Menschen die Gewißheit, daß die Welt ein Kosmos in Gottes Hand sei, erheblich erschütterten. Damit schwanden, um in psychoanalytischen Begriffen zu reden, die väterlichen Dimensionen von Macht und Autorität, wie sie in einem über den Völkern und Reichen - super gentes et regna - thronenden Papst, dessen Titel und Anrede nicht zufällig Vater lauten, verkörpert waren. Angesichts dieses damit aufgetretenen Wertevakuums gewann zunehmend das narzißtische Streben nach einer mütterlichen, harmonischen, anheimelnden Welt die Oberhand. Ausdruck dieses Strebens ist das Auftreten säkularisierter Religionen, eben von Ideologien, die den Menschen versprechen, die Widerwärtigkeiten der Welt beseitigen zu können. Ideologien sind demnach verschiedene Arten einer narzißtischen Himmelfahrt.86 Diese Himmelfahrt kann auf zweierlei Art vonstatten gehen, entweder als Gruppenreise oder als Einzelunternehmung.

KOLLEKTIVISTISCHE IDEOLOGIEN

Kollektivistische Ideologien kommen dem narzißtischen Bedürfnis nach der Entgrenzung des Ichs und seinem Zusammenfließen mit der Welt sehr entgegen. Sie manifestieren sich demnach auch in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Sekten, in denen der einzelne seine Persönlichkeit an eine übergeordnete Autorität delegiert und zum Ausgleich dafür eine Gruppenidentität zurückerhält, die ihm Sicherheit und Stärke verleiht.

Auf der Ebene der rationalen Begründungsversuche für kollektivistische Ideologien stehen unter anderem auch die vielfältigen Versuche, Staatsmodelle zu entwerfen, in denen eine harmonische, konfliktfreie Gesellschaft beschrieben wird. Die ersten Vordenker in dieser Richtung waren bereits Coluccio SALUTATI und Lionardo BRUNI. SALUTATI hat sich in langem Bemühen aus der individualistischen Ethik der christlichen Barmherzigkeit, nach der individuelles Wohltun an individuellen Empfängern dieser Wohltaten die Übel der Welt

 


 

84 „Civitas enim totius vite cunctorumque humanorum munerum princeps est et perfectrix. Hec enim officia inter cives distribuit, necessaria providet, aliena repellit ac ex multorum cetu singulorum defectui supplementum inducit, ut illa demum sint recta hominum officia existimanda que ab illius ordine institutoque processerint.“ (Leonardo Aretini de militia ad Rainaldum Albicium libellus. In: Charles C. Bayley: War and Society in Renaissance Florence; The „De militia“ of Lionardo Bruni. Toronto: University Press 1961. S. 370.)
85 „... ad te, maximum videlicet optimumque gubernatorem, qui et spiritualiter universos regis et temporaliter multis civitatibus et populis et provinciis paterno regioque imperio dominaris.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 70.)
86 Janine Chasseguet-Smirgel: Zwei Bäume im Garten; Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse 1988. S. 18.


lindern sollte, einer kollektivistischen Ethik angenähert, wonach das individuelle politische Handeln zum Nutzen der größtmöglichen Allgemeinheit sein sollte. SALUTATI täuschte sich zwar nicht darüber hinweg, daß das politische Klima in einem Staat alles andere als harmonisch ist, er sah jedoch in der neuen humanistischen Bildung das Mittel, diesen Zustand herbeizuführen. Wenn nämlich alle im politischen Leben Stehenden in gleicher Weise gebildet wären, müßten sie bei der Entscheidung darüber, was für das Wohl des Staatsganzen nützlich wäre und was nicht, zu den gleichen Ergebnissen kommen. Dabei soll aber auch nicht übersehen werden, daß sowohl bei SALUTATI als auch bei späteren Autoren eine Neigung bestand, bestimmt durch die Vorstellungen einer Bildungsaristokratie den Kreis der politisch Entscheidenden möglichst klein zu halten. Daß diese wenigen Entscheidenden auch tatsächlich nur zum Wohle der Allgemeinheit handeln würden, dafür bürgte nach SALUTATIS Auffassung die aus ihrer humanistischen Bildung erfließende Staatsbürgertugend, die jeden Gedanken daran von ihnen fernhalten würde, ihre politischen Entscheidungen und Maßnahmen nach Auswirkungen auf ihren eigenen persönlichen Nutzen hin zu befragen. Hier unterlag SALUTATI wohl einem ebenfalls narzißtisch inspirierten Wunschdenken, dem auch schon PLATON in seiner „Politeia“ trotz seiner Erfahrungen des Scheiterns seiner politischen Vorstellungen auf Sizilien erlegen war.

lindern sollte, einer kollektivistischen Ethik angenähert, wonach das individuelle politische Handeln zum Nutzen der größtmöglichen Allgemeinheit sein sollte. SALUTATI täuschte sich zwar nicht darüber hinweg, daß das politische Klima in einem Staat alles andere als harmonisch ist, er sah jedoch in der neuen humanistischen Bildung das Mittel, diesen Zustand herbeizuführen. Wenn nämlich alle im politischen Leben Stehenden in gleicher Weise gebildet wären, müßten sie bei der Entscheidung darüber, was für das Wohl des Staatsganzen nützlich wäre und was nicht, zu den gleichen Ergebnissen kommen. Dabei soll aber auch nicht übersehen werden, daß sowohl bei SALUTATI als auch bei späteren Autoren eine Neigung bestand, bestimmt durch die Vorstellungen einer Bildungsaristokratie den Kreis der politisch Entscheidenden möglichst klein zu halten. Daß diese wenigen Entscheidenden auch tatsächlich nur zum Wohle der Allgemeinheit handeln würden, dafür bürgte nach SALUTATIS Auffassung die aus ihrer humanistischen Bildung erfließende Staatsbürgertugend, die jeden Gedanken daran von ihnen fernhalten würde, ihre politischen Entscheidungen und Maßnahmen nach Auswirkungen auf ihren eigenen persönlichen Nutzen hin zu befragen. Hier unterlag SALUTATI wohl einem ebenfalls narzißtisch inspirierten Wunschdenken, dem auch schon PLATON in seiner „Politeia“ trotz seiner Erfahrungen des Scheiterns seiner politischen Vorstellungen auf Sizilien erlegen war.

Auch unter dem Eindruck, den der Kommunismus, der von seinem Anspruch her ein Versuch war, die vordem nur literarischen Idealstaaten und Mustergesellschaften durch eine Umsetzung in die Wirklichkeit zu ersetzen, mit seinen schrecklichen Auswüchsen und seinem Scheitern hinterlassen hat, konnte die Freude an der Utopie nicht dämpfen. Die narzißtischen Wünsche des Menschen nach der All-Einheit mit der Welt richten sich in der Gegenwart auf die Mutter Natur. Bücher wie „Ökotopia“87 oder „Dinotopia“88 werden gelesen und bringen die entsprechenden Saiten in den Seelen der Menschen zum Klingen.

INDIVIDUALISTISCHE IDEOLOGIEN

Im 14. Jahrhundert wurde auch der zweite Weg vorbereitet, auf dem die Menschen der Leere nach dem Fall der alten Autoritäten und Traditionen entgehen wollen. Es ist dies der Appell an das narzißtische Größenselbst im Menschen, daß er doch die Ödnis einer Welt ohne Leitwerte beenden möge, indem er sich selbst an deren Stelle setze. Der bereits genannte „Mythos vom Ruhm“ ist eine Spielart dieser individualistischen Ideologie, in der sich der Mensch gleichsam auf einen Standpunkt außerhalb der Welt begibt und damit seinem Sein ein gewissermaßen göttliches Wesen verleiht. Ein Beispiel dafür, wie dies zu verstehen ist, hinterließ aus dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts der Humanist Lorenzo VALLA (1405 - 1457), als er im Jahre 1430 den Einzug einer Seele in den Himmel mit folgenden Worten beschrieb: „Sogar der Gott-Mensch (= Christus; Anm. A.S.) wird dich bei deinem Eintreffen, dich Mensch-Gott, nicht mehr länger erwarten können. Er wird sich mit großer Kraft und Herrlichkeit von seinem Thron erheben, den Königspalast verlassen und dir bis zum Osttor mit Tausenden und Abertausenden von Purpurträgern entgegenziehen. Es wird dir auch nicht mehr erlaubt sein, dich bei seinem Anblick niederzuwerfen.“89

Die Vergottung des Menschen wurde mit zunehmender Kenntnis der neuplatonischen Philosophie des PLOTINOS (205 - 270)90, der den Menschen wegen seiner Anteile sowohl an der materiellen Welt durch seinen Körper als auch an der spirituellen Welt durch seine Seele gleichsam zum Angelpunkt des Universums erhob, noch weiter vorangetrieben. Vollendeten Ausdruck gab diesem neuen Menschenbild der bedeutendes neuplatonische Philosoph des 15. Jahrhunderts, Marsilio Ficino (1433 - 1499) in seiner im Jahre 1474 erschienenen „Theologia Platonica“, wo unter anderem über den Menschen schrieb: „Die allumfassende Vorsehung, die die Ursache des Universums ist, ist Gott eigentümlich. Infolgedessen ist der Mensch, der für alle belebten und unbelebten Dinge die Vorsehung ausübt, gewissermaßen ein Gott. Unzweifelhaft ist er der Gott der Tiere, die er alle gebraucht, die er alle beherrscht und von denen er die meisten zähmt. Er ist auch der Gott der Elemente, die er alle bewohnt und für die er sorgt. Und schließlich ist er der Gott aller Stoffe, die er alle handhabt, verändert und gestaltet. Wer so viel und so weitgehend über alle körperlichen Dinge herrscht und anstelle

 


 

87 Ernst Callenbach: Ökotopia: Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahr 1999. Berlin: Rotbuch Verlag 1981.
88 James Gurney: Dinotopia; Das Land jenseits der Zeit. Ohne Ort 1993. Dieses Buch wirkt vor allem durch seinen Märchencharakter und seine schwelgerisch ausgestaltete Bebilderung.
89 Lorenzo Valla: De voluptate, (1430). Zitiert nach: Ruggiero Romano, Alberto Tenenti: Die Grundlegung, a.a.O. S. 125. Diese Szene ist ein eindrucksvolles Beispiel. wie sehr die Vorstellungswelt der Antike im 15. Jahrhundert die des Christentum überformt hatte. Im Sinne Lucius ANNAEUS Senecas, wonach „vivere militare est“ (Lucius Annaeus Seneca: Ad Lucilium epistulae morales, 96,5), wird das Erdenleben als steter Kampf gegen Übel und Versuchung aufgefaßt, und die Seele, die diesen Kampf erfolgreich bestanden hat, zieht gleich einem siegreichen römischen Feldherrn im Triumphzug in den Himmel ein. An dieser Stelle sei auch angemerkt, daß Lorenzo VALLA zur weiteren Erschütterung der moralischen Autorität des Papsttums insofern beitrug, als er die sogenannte Konstantinische Schenkung, derzufolge der sterbende Kaiser CONSTANTINUS I. (285 - 337; alleiniger Kaiser des römischen Reiches seit 324) Papst SILVESTER I. (Papst 314 - 335[!]) die Herrschaft über die westliche Reichshälfte übertragen hätte und auf die die Päpste ihre weltlichen Herrschaftsansprüche stützten, als Fälschung entlarvte.
90 Die bedeutendsten Vermittler der Philosophie des PLOTINOS nach Mitteleuropa im 15. Jahrhundert waren der schon mehrfach genannte GEMISTOS PLETHON und der Metropolit von Nikaia und spätere römische Kardinal Basilios BESSARION (1403 - 1472), die beide in Florenz wirkten.


Gottes tätig ist, ist ohne Zweifel selbst unsterblich.“91 Dieser allumfassende Macht- und Gestaltungsanspruch des Menschen über die Welt ist bis in die Gegenwart die wesentliche Triebkraft der wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen.

Obwohl die Namen eines PLOTINOS oder eines Marsilio FICINO kaum noch jemandem außerhalb der wissenschaftlichen Fachkreise bekannt sein dürften, wirkt also der geistige Anstoß, den sie der kulturellen Entwicklung gegeben haben, bis in die Gegenwart weiter. Nun, da allenthalben die „Grenzen des Wachstums“92 erkennbar werden, kommt es nach und nach auch zu einer Neueinschätzung der bisherigen historischen Entwicklung. „Der lange Zeit als großartige Selbstbefreiung gepriesene Schritt des mittelalterlichen Menschen in die Neuzeit war im Grunde eine neurotische Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht. Der psychische Hintergrund unserer so imposant scheinenden neueren Zivilisation ist nichts anderes als ein von tiefen unbewältigten Ängsten genährter infantiler Größenwahn. Wie das Kind, das sich gewaltsam und illusionär selbst in eine allmächtige Elternfigur verwandelt, um seinen unverläßlichen Eltern nicht länger wehrlos ausgeliefert zu sein, trägt unsere Zivilisation seit damals Merkmale einer krankhaften Selbstüberforderung. Der verunsicherten Beziehung zu Gott, die einen langen Prozeß schmerzhafter Auseinandersetzung erfordert hätte, hat man sich durch Identifizierung entzogen. Aber das durch diese Gleichsetzung erzeugte großartige Selbstbewußtsein ist stets trügerisch geblieben, und das auf die technische Naturbeherrschung fundierte Machtgefühl verleugnet seit je die tatsächliche infantile Abhängigkeit von eben dieser Natur, ohne deren Ressourcen ein Überleben der Menschheit undenkbar ist. ... Die Angst, sich die seit dem Mittelalter nur verdrängte infantile Abhängigkeitsposition einzugestehen, ist fatalerweise momentan immer noch viel größer als die Angst, mit einem objektiv selbstmörderischen Größenwahn unterzugehen.“93 Es wird also Zeit, sich endlich zu einer reifen Einstellung gegenüber der Position des Menschen in der Welt durchzuringen.

 


 

91 „Universalis providentia Dei, qui et universalis causa, propria est. Homo igitur qui universaliter cunctis et viventibus et non viventibus providet est quidem Deus. Deus proculdubio animalium, qui utitur omnibus, imperat cunctis, instruit plurima. Deum quoque esse constitit elementorum qui habitat colitque omnia. Deum denique omnium materiarium qui tractat omnes, vertit et format. Qui tot tantisque in rebus corpori dominatur et immortalis Dei gerit vicem est proculdubio immortalis.“ [Marsilio Ficino: Theologia Platonica de immortalitate animorum ac aeterna felicitate libri XVIII (1474). In: Raymond Marcel (Hg.): Théologie platonicienne de l’immortalité des ames. Bd. 2. Paris 1964. S. 224/225. Hervorhebungen im Text von A.S.]
92 Donella H. meadows u.a.: Die Grenzen des Wachstums (The Limits of Growth). Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1972.
93 Horst Eberhard Richter: Der Gotteskomplex; Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen. Reinbek: Rowohlt 1979. S. 29-31. Hervorhebung im Original.