Religiosität und Politischer Extremismus

Drucken
von Dr. Anton Szanya

DIE KRISE DER MODERNE

Der aggressive islamistische Fundamentalismus, wie er sich kürzlich in den Attentaten auf Bali am 13. 10. 2002 und dem Überfall auf ein Moskauer Theater am 23.10.2002 wieder gezeigt hat, wie auch die Einteilung der Staaten der Welt in „Schurkenstaaten“, die eine „Achse des Bösen“ bilden, und solchen, die es (noch) nicht sind, durch die Regierung der Vereinigten Staaten lassen die bange Frage aufsteigen, ob diejenigen, die das Projekt der Aufklärung und der Moderne für gescheitert erklären, vielleicht doch recht haben könnten. Sind alle diejenigen einem Irrtum erlegen, die meinten, mit der Verbreitung von Wissenschaft und Bildung könne der Irrationalismus, wie er sich in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in den Gräueln der faschistischen Epoche gezeigt hat, zurückgedrängt, ja überwunden werden?

Es mag so scheinen. Hat doch schon vor einigen Jahren Adam SCHAFF die Möglichkeit eines solchen Irrtums eingeräumt als er schrieb: „Die Quelle des Irrtums steckt in der Überzeugung, dass wissenschaftliche Kenntnisse den ganzen Bereich menschlicher Interessen und Fragen erfassen. Dem ist selbstverständlich nicht so, denn die Wissenschaft und die von ihr vermittelten Kenntnisse sind nie absolut, sie haben immer ihre Grenzen, hinter denen der Bereich des Unwissens beginnt – sei es auch nur für eine Übergangszeit, weil ja die Entwicklung der menschlichen Kenntnis die Grenzen immer wieder verschiebt. Die wissenschaftliche Wahrheit hat also den Charakter eines endlosen Prozesses, der sich wie eine Hyperbel der Asymptote nähert und hinter dem sich immer eine gewisser ‚Rest’ verbirgt, der dem wissenschaftlichen Denken nicht zugänglich ist.“1

Dabei hat doch lange Jahre der Anschein bestanden, dass die Fragen nach diesem „Rest“ erledigt und überholt seien. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die frühen siebziger Jahre schien den Beweis dafür zu liefern, dass dieser „Rest“ – die Fragen nach Wahrheit, die Suche nach einer gerechteren Gesellschaftsordnung und anderes mehr – nur unnützer Luxus gewesen war, der unnötige Kopfschmerzen verursacht hat. „Gesellschaftstheoreme wie die vom Anbrechen eines ‚postideologischen Zeitalters’, vom automatischen, unbegrenzten technischen Fortschritt, der als angeblich unpolitisch dargestellt wurde, und von der Beurteilung der Jugend als skeptische, das heißt nur erfolgsorientierte Generation waren damals sehr in Mode.“2charakterisierte Friedrich HACKER die damalige Zeit des „Wirtschaftswunders“.

Als die Träume von der unbegrenzt wachsenden Wirtschaft und des für alle möglichen Wohlstandes durch die Wirklichkeit der massenhaften Vernichtung von Arbeitsplätzen im Gefolge der sich immer neue Anwendungsbereiche erobernden Mikroelektronik und der immer drohender werdenden Umweltkatastrophe mit einem unsanften Erwachen endeten, wurde die Wissenschaft von der Hüterin der wunderbaren Gütervermehrung plötzlich zu eitlem Blendwerk. „Vorbei ist die Zeit der naiven Fortschrittsgläubigkeit“, bekannte der Kernphysiker Harald FRITZSCH in den frühen achtziger Jahren, „in der man glaubte, die Vermehrung unseres Wissens und eine immer weitergehende Beherrschung der Natur würden letztlich einen tieferen Sinn des Daseins vermitteln und von sich aus zu einer gerechteren Welt führen.“3

Die in dieser Äußerung mitschwingende Enttäuschung darüber, dass die Wissenschaft nicht das gehalten hat, was man sich von ihr versprochen hat, ist nur ein Ausdruck dessen, was als Krise der Moderne, Verlust der Werte und ähnliches mehr Thema des gesellschaftlichen Diskurses ist.

Die Moderne

Die Enttäuschung über die nicht gehaltenen Versprechen, die der Wissenschaft in den Mund gelegt worden waren, ist deshalb wohl so groß, weil in der Gegenwart das vor rund zweihundertfünfzig Jahren mit so viel Schwung begonnene Abenteuer der Aufklärung und der Moderne zu verebben scheint. Dabei hat alles so vielversprechend ausgesehen, als mit der Erhebung der Vernunft zur Richtschnur des Denkens und Handelns die völlige Umwandlung der Welt eingeleitet worden ist, die Max WEBER mit dem Wort von der „Entzauberung der Welt“4 charakterisiert hat.

Da wäre einmal die Profanierung der Kultur zu nennen, die sich darin zeigt, dass:

 


 

1 Adam Schaff: Wohin führt der Weg? Die gesellschaftlichen Folgen der zweiten industriellen Revolution. Wien, München, Zürich: Europa Verlag 1985. S. 173.
2 Friedrich Hacker: Das Faschismus-Syndrom; Psychoanalyse eines aktuellen Phänomens. Düsseldorf, Wien, New York: Econ Verlag 1990. S. 21.
3 Harald Fritzsch: Vom Urknall zum Zerfall; Die Welt zwischen Anfang und Ende. Zürich: Piper 1983. S. 330.
4 „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“ [Max Weber: Vom inneren Beruf zur Wissenschaft, in: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber: Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik. Stuttgart: Kröner 21956. S. 317. Hervorhebungen im Original.]


die Erfahrungswissenschaften nach immer umfassenderer Erkenntnis der äußeren Welt und nach ihrer immer vollkommeneren Beherrschbarkeit streben, die Moral- und Rechtsnormen zusehends genötigt werden, sich auf allgemein anerkennungsfähige Begründungen zu stützen, Die Künste sich von überlieferten Kanones befreien, um zum unmittelbaren Ausdruck der inneren, subjektiven Erfahrungen vorzustoßen.

Hervorgehend aus der Profanierung der Kultur, kommt es zu einer Rationalisierung der Gesellschaft, die sich darin zeigt, dass

Dieser Prozess bleibt nicht nur auf die Gesellschaft beschränkt, sondern führt auch zu einer Rationalisierung des Privaten, weil

Nicht zuletzt sei auch noch auf die Rationalisierung des Politischen in der Moderne verwiesen, die dazu führt, dass

Die Erfolge der Moderne

Diese solcherart charakterisierte Moderne kann denn auch auf unbestreitbare Erfolge hinweisen. Trotz aller Einwände, die man ohne Zweifel vorbringen könnte, kann die Moderne für sich in Anspruch nehmen, dass sie für die Menschen nutzbringender und erfolgreicher war und ist als alle Epochen der Weltgeschichte vor ihr. Keine dieser Epochen kann nämlich für sich in Anspruch nehmen,

Die Mythen der Moderne

Die Vordenker der Moderne und der ihr vorangehenden Aufklärung beriefen sich und berufen sich noch heute auf die Vernunft als Richtschnur für die Ausgestaltung der modernen Welt. Und dennoch ließen und lassen sie sich von der Kraft der alten Menschheitsmythen gefangen nehmen, wenngleich sie diese auch in neue Kleider hüllen und deren Bilder und Verheißungen mit Hilfe der Technik und der Industrie verwirklichen wollen.

Zusammengefasst lassen sich vier solcher mythischer Themenkreise ausmachen, die für die Aufklärung und die Moderne bestimmend waren und immer noch sind:

 


 

5 Immanuel KANT versuchte im Jahre 1795 in einer kleinen Schrift mit dem Titel »Zum ewigen Frieden« diese Hoffnung rational zu begründen.
6 Den bedeutendsten Versuch in dieser Richtung unternahm wohl Karl MARX, indem er die Aufrichtung einer klassenlosen Gesellschaft als Ziel der menschlichen Geschichte nachweisen wollte. In neunziger Jahren legte Francis FUKUYAMA, aufbauend auf Georg Friedrich Wilhelm HEGEL, dar, dass das Ende der Geschichte mit der weltweiten Durchsetzung des liberalkapitalistisch-demokratischen Staates erreicht sei. [Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte; Wo stehen wir? (The End of History). München: Kindler 1992.]


Die Enttäuschungen der Moderne

Alle diese Hoffnungen und Erwartungen sind nicht wahr geworden und haben sich nicht erfüllt. Indem nämlich die Denker der Moderne ihre Mythen zu rationalisieren versuchten, übersahen sie die Dialektik der geschichtlichen Entwicklung, sodass sie das Projekt der Moderne unvermeidlich in die Krise führen mussten. Drei Beispiele sollen diese Dialektik veranschaulichen:

 

So betrachtet lässt sich die Moderne, um ein Wort Thomas MEYERS zu gebrauchen, als „geschlossener Kreislauf offener Systeme“7 beschreiben, die einander lückenlos bedingen:

 

Für die Menschen bedeutet dies konkret, dass die Moderne jedem, der sich seiner gewiss ist und die gebotenen Gelegenheiten zu nützen versteht, Spielraum und Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Sie kann aber demjenigen, der nach Halt, Geborgenheit, Orientierung und Tröstung sucht, am Ende nichts anderes bieten als die Rückverweisung auf ihn selbst. Hier liegt der dialektische Zwiespalt der Moderne: Sie setzt die Ich-Stärke, Orientierungssicherheit und Selbstgewissheit voraus, deren breitenwirksame und zuverlässige Ausbildung sie durch ihren Relativismus zwar absichtslos aber doch fortwährend untergräbt.

DER MYTHOS

In dieser Situation bietet sich der Mythos hilfreich an, indem er Gewissheit und Sicherheit verspricht. Damit kommt der Mythos Bedürfnissen entgegen, die von der Moderne nicht befriedigt werden. Es sind dies vor allem drei Bedürfnisse, die im Mythos Erfüllung finden:

Die Wurzeln des Mythos

Woher rühren nun diese Bedürfnisse? Wo haben sie ihren Ursprung? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es eines Abstechers in das Gebiet der Tiefenpsychologie.

Die drei vorhin genannten Bedürfnisse, die der Mythos zufriedenstellt, sind allesamt Bedürfnisse der Vermeidung von Angst, der Angst vor einer möglichen Sinnlosigkeit der Welt, der Angst vor einem plötzlichen Einbruch oder Zusammenbruch der Welt und der Angst vor der Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit. Mit einem Wort: Der Mythos beruhigt die Angst vor der Gleichgültigkeit der Welt, wie es Leszek KOLAKOWSKI beschreibt: „In der Tat, die Erfahrung der Gleichgültigkeit der Welt stellt uns vor die Alternative, entweder es gelingt uns, die Fremdheit der Dinge durch ihre mythische Organisation zu überwinden, oder wir werden diese Erfahrung vor uns verheimlichen in einem komplizierten System von Einrichtungen, die das Leben in der Faktizität des Alltäglichen zerreiben. Der Mythos nämlich, der religiöse oder philosophische, hat die Kraft, die Gleichgültigkeit der Welt aufzuheben [...]“9

Woher kommt aber diese Angst, ja Urangst, mit der die Menschen der Welt gegenüberstehen? Sie geht auf zwei die Persönlichkeitsentwicklung nachhaltigst prägende Erfahrungen zurück, die jeder Mensch bereits im frühesten Kindesalter macht, die er aber infolge seiner noch bestehenden Unreife nicht angemessen verarbeiten kann.

 


 

7 Thomas Meyer: Fundamentalismus; Aufstand gegen die Moderne. Reinbek: Rowohlt 1989. S. 34/35.
8 Diese genannten drei Punkte sind eine gestraffte Wiedergabe der diesbezüglichen Ausführungen in: Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 14-16.
9 Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984.S. 104.


Die narzisstische Kränkung

Eine der frühesten Erfahrungen des kleinen Kindes ist die Entdeckung, dass es und die Welt etwas voneinander Verschiedenes sind und dass diese Welt nicht seinen Bestrebungen unterworfen werden kann. Schon im Säuglingsalter erlebt das Kind, dass es die Befriedigung von Grundbedürfnissen nicht herbeiführen kann, mag der Wunsch danach auch noch so groß sein. So mag der Säugling, wenn er hungrig ist, noch so laut schreien – wenn seine Mutter oder eine andere Person, die ihre Stelle einnimmt, nicht in der Nähe ist, wird er damit nichts erreichen können. Andere Möglichkeiten, die Bedürfnisbefriedigung herbeizuführen, hat er in seinem Alter und Entwicklungszustand allerdings noch nicht. Andere derartige Ohnmachtserlebnisse sind beispielsweise Bauchschmerzen oder Kälte, wenn der Säugling sich entblößt hat.

Diese und ähnliche Erlebnisse zeigen dem kleinen Menschen seine Grenzen, reißen ihn heraus aus seinen Einheitsempfindungen mit der Welt, wie er sie noch aus dem Mutterleib kennt, und lassen ihm die Welt unermesslich fremd und angsteinflößend erscheinen. Damit erfährt der Narzissmus10 des kleinen Kindes, der ihm das Gefühl, der Mittelpunkt der Welt zu sein, vermittelt, eine empfindliche Kränkung, die in ihm Wut und Angst auslösen. Sein noch geringer Reifezustand hindert das kleine Kind allerdings daran, sich dieser Gefühle und ihrer Anlässe bewusst zu werden. So bleiben sie unbewusst und äußern sich lediglich in einer schwer fasslichen Grundströmung des Seelenlebens, in den sogenannten ozeanischen Gefühlen11 der Unzulänglichkeit, der Verlorenheit und des Versagens.

Der ödipale Konflikt

Länger vielleicht als die Illusion des Einsseins mit der Welt kann das kleine Kind die des Einsseins mit der Mutter aufrechterhalten. Aber auch in dieser Beziehung kommt der Augenblick, in dem das Kind merkt, dass es nicht eins ist mit der Mutter, ja schlimmer noch, dass es nicht einmal das einzige Liebesobjekt der Mutter ist.

Schließlich ist da noch der Vater oder ein anderer Mann, dem die Mutter auch ihre Liebe zuwendet, und schließlich sind da möglicherweise auch noch Geschwister, mit denen es die Liebe der Mutter teilen muss.

Wieder erleidet der Narzissmus des kleinen Kindes eine schwere Kränkung. So wie das Kind seine Mutter grenzenlos bewundert hat, so wollte es auch von seiner Mutter grenzenlos bewundert werden; so wie das Kind seine Mutter vorbehaltlos idealisiert hat, so wollte es auch von seiner Mutter vorbehaltlos idealisiert werden; so wie das Kind seine Mutter bedingungslos angenommen hat, so wollte es auch von seiner Mutter bedingungslos angenommen werden. Und nun das!

Verschärft wird die Situation des Kindes noch dadurch, dass es dann, wenn es seiner narzisstischen Wut gegenüber dem Vater und den Geschwistern Ausdruck gibt, von der Mutter dafür getadelt, vielleicht sogar bestraft wird. Da das Kind in diesem Alter seine Eltern auch noch für allmächtig und allwissend hält, weckt die narzisstische Wut in ihm auch sogleich Gefühle der Angst vor Strafe und Liebesentzug, und zwar um so größere Angst, je heftiger seine Hassgefühle gegen die Mitbewerber um die Gunst der Mutter sind. Der seelische Zwiespalt wird noch zusätzlich vertieft, weil seine ablehnenden Gefühle den anderen gegenüber auch gleichzeitig in Widerstreit stehen zu den Gefühlen der Liebe, der Bewunderung und der Sehnsucht, die es doch auch gegenüber der Mutter, dem Vater und den Geschwistern gegenüber hegt.

Das Kind löst schließlich dieses unentwirrbare Knäuel an Gefühlen, für das Sigmund FREUD die Bezeichnung „Ödipuskomplex“12 geprägt hat, indem es sie zum größten Teil verdrängt13 oder sich mit den Objekten derselben, Mutter oder Vater, mehr oder weniger nachhaltig identifiziert .14

 


 

10 Sigmund FREUD leitete den Begriff Narzissmus von dem Jüngling Narkissos aus der griechischen Mythologie ab, der sich dermaßen in sein Spiegelbild verliebt hat, dass er die Welt rings um ihn herum nicht mehr wahrnahm.
11 Sigmund FREUD berichtet, dass dieser Ausdruck von seinem Freund Romain ROLLAND stamme. „Ich hatte ihm meine kleine Schrift zugeschickt, welche die Religion als Illusion behandelt, und er [..]. bedauerte, dass ich die eigentliche Quelle der Religion nicht gewürdigt hätte. Diese sei ein besonderes Gefühl, das ihn selbst nie zu verlassen pflegt, das er von vielen anderen bestätigt gefunden und bei Millionen Menschen voraussetzen dürfe. Ein Gefühl, das er die Empfindung der ‚Ewigkeit’ nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ‚Ozeanischem’.“ [Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud: Studienausgabe Band IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997. S 197.]
12 Der sagenhafte König Oidipous, latinisiert Ödipus, von Theben tötete seinen Vater Laios und heiratete seine Mutter Iokaste. Von Kritikern (beispielsweise Jean Bollack: Der Menschensohn; Freuds Ödipusmythos, Psyche 7/1993. S. 647 ff.) dieser Bezeichnung wird nicht unberechtigt geltend gemacht, dass die Taten des Ödipus nicht dem nach ihm benannten Komplex haben entspringen können, weil er als ausgesetztes Kind seine Eltern gar nicht gekannt hat.
13 Mit Verdrängung bezeichnet die Psychoanalyse einen Vorgang, bei dem das Ich, also die Instanz der Psyche, die für die Steuerung der Triebe und für die Anpassung des eigenen Verhaltens an die Bedingungen der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt zuständig ist, ihm dieser Anpassung gefährlich erscheinende Triebwünsche und Bewusstseinsinhalte von sich abspaltet und dem Unbewussten, dem Es, zuschlägt und deren Rückkehr ins Bewusstsein verhindert. Demgegenüber ist das Es jedoch unausgesetzt bestrebt, diese wieder ins Bewusstsein zurückzubringen, um dadurch deren Erfüllung herbeizuführen. Das Ich entlastet sich von diesem steten Druck, indem des den verdrängten Triebwünschen in wunscherfüllenden Phantasien, die in Gestalt von Tagträumen, dichterischen oder auch mythologischen Vorstellungen auftreten können, teilweise und ungefährliche Befriedigungen ermöglicht.
14 Das Wesen der Identifizierung besteht darin, dass das Ich sich einer gehassten und gefürchteten wie auch einer geliebten und verehrten Person so weit anähnelt, dass sie letztlich nicht mehr als ein außerhalb des Ichs stehendes Objekt empfunden, sondern Teil der eigenen Persönlichkeit wird. Durch die Identifizierung erfährt das Ich eine Erweiterung sowohl im Guten wie auch im Schlechten. Ihren äußeren Ausdruck findet eine Identifizierung, wenn eine Person Verhaltensweisen, Bewegungen, Sprachgewohnheiten und anderes mehr der Person übernimmt, mit der sie sich identifiziert.


Formen des Mythos

Die verdrängten Inhalte und Triebwünsche der narzisstischen Kränkung und des ödipalen Konflikts sind der Stoff aus dem die Mythen sind. Da dieser Stoff aber schon auf einer Entwicklungsstufe des Kindes geformt wird, auf der sein Ich oder Selbst noch nicht voll ausgereift ist, bildet er die Hauptinhalte des sogenannten primärprozesshaften Denkens, das sich mit den Eigenschaften

Geformt durch dieses primärprozesshafte Denken werden aus den verdrängten frühkindlichen Erlebnissen die phantastischen und symbolträchtigen Mythen der Weltentstehung und des Weltunterganges. In vielen Mythenkreisen lassen sich Entsprechungen zwischen ihren Weltepochen und den Entwicklungsphasen vom Kind zum Erwachsenen ausnehmen:

Diese mythischen Stereotype können in zweierlei Sichtweisen auftreten.

Beide Sichtweisen können bei ein und demselben Mythos ineinander übergehen, sodass beispielsweise ein Weltende entweder als Strafgericht als auch als Anbruch eines Neuen Zeitalters gedeutet werden kann.

Die Anziehungskraft des Mythos

Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich bereits ableiten, worin die immer wieder wirksam werdende Anziehungskraft des Mythos auf die Menschen liegt:

Die nach mythischen Vorstellungen aufgebaute Welt bietet demnach trotz aller nicht abzuleugnender Unsicherheiten – denn die Ratschlüsse der Götter bleiben letztlich doch unerforschlich – die Sicherheit und Geborgenheit bei einem allezeit

 


 

15 Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer 201999. S. 55.
16 „Die Funktion des mythischen Bewußtseins ist es vor allem, das Gefühl der Verbindlichkeit zu erwecken, das Bewußtsein der Verschuldung gegenüber dem Sein [..]. Das Wort ‚Mythos’ wird üblicherweise auch zur Bezeichnung eines völlig entgegengesetzten Bewußtseins verwendet: des Bewußtseins des Gläubigers. Die Mythen, die sich vorwiegend auf eine künftige Utopie richten, die noch unerfüllte Forderungen befriedigen soll, Mythen, die vor allem Ansprüche kodifizieren, nicht aber Verpflichtungen [...]“ [Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 121.]


ansprechbaren Du, und sei es nur ein phantasiertes, wie „böswillige“ Psychologen behaupten.

DER FUNDAMENTALISMUS

Damit hat der Ausflug in die Tiefenpsychologie wieder zur Problematik der Enttäuschungen an der Moderne zurückgeführt. Denn die Widersprüche zwischen den Verheißungen, die das Programm der Moderne verkündet, und den Zumutungen, die sie dem einzelnen aufbürdet, der die Gewißheit, die er sucht, weder draußen in der Welt noch in sich selbst finden kann, leisten dem aus Verzweiflung geborenen Rückfall in Gewissheiten und Tröstungen, für die die Vernunft keine Gründe nennen kann, Vorschub. Die Versuchung zum fundamentalistischen Rückfall ist die andere Seite des Januskopfes der Moderne. Sie ist mit ihrem Triumph verwachsen.

Charakteristik des Fundamentalismus

„Fundamentalismus ist der selbstverschuldete Ausgang aus den Zumutungen des Selberdenkens, der Eigenverantwortung, der Begründungspflicht, der Unsicherheit und der Offenheit aller Geltungsansprüche, Herrschaftslegitimationen und Lebensformen, denen Denken und Leben durch Aufklärung und Moderne unumkehrbar ausgesetzt sind, in die Sicherheit und Geschlossenheit selbsterkorener absoluter Fundamente. Vor ihnen soll wieder alles Fragen haltmachen, damit sie absoluten Halt geben können. Vor ihnen soll wieder alles andere relativ werden, damit sie der Relativierung entzogen bleiben. Wer sich nicht auf ihren Boden stellt, soll keine Rücksicht mehr verdienen für seine Argumente, Zweifel, Interessen und Rechte. [...] Fundamentalismus ist eine willkürliche Abschließungsbewegung, die als immanente Gegentendenz zum modernen Prozess der generellen Öffnung des Denkens, des Handelns, der Lebensformen und des Gemeinwesens absolute Gewißheit, festen Halt, verläßliche Geborgenheit und unbezweifelbare Orientierung durch irrationale Verdammung aller Alternativen zurückbringen soll. Seine Beute ist dort am reichsten, wo Zumutungen und Kosten der Moderne ihre Chancen und Segnungen hoffnungslos übersteigen.“17

Mit diesen Worten charakterisiert Thomas MEYER den Fundamentalismus. Damit entspricht der Fundamentalismus dem, was bereits LACTANTIUS und AUGUSTINUS im 4. und 5. Jahrhundert unter Religion verstanden haben, nämlich dass durch sie und in ihr „die Seele mit dem einen Gott, von dem sie sich gewissermaßen losgerissen hat, in der Versöhnung sich wieder verbindet.“18 Religion und religiöses Denken bestimmt sich somit durch eine Gebundenheit an einen absolut gesetzten Zentralwert, an Gott. Das Denken des Fundamentalismus ist gleichermaßen strukturiert, wenngleich jede Spielart desselben einen anderen zentralen Wert hat.

Spielarten des Fundamentalismus

So wie nämlich die Moderne sich weltweit in größerem oder geringerem Maße durchgesetzt hat, so ist auch ihre Verneinung, der Fundamentalismus, weltweit zu beobachten. Entsprechend seinen unterschiedlichen Rahmenbedingungen zeigt er sich in einer Vielzahl von Erscheinungsformen.

Am spektakulärsten treten von diesen die religiösen Fundamentalismen in Erscheinung, derer es eine beträchtliche Anzahl gibt:

Der New-Age-Fundamentalismus steht am Übergang zum säkularen Fundamentalismus, von dem als Beispiele genannt seien:

Fundamentalismen im Vergleich

Trotz dieser Vielfalt an Spielarten kann letztlich doch von einer einzigen Art des Fundamentalismus gesprochen werden, an der einige durchgehende Hauptmerkmale beobachtet werden können. Einige davon seien im folgenden zusammenfassend behandelt:

 


 

17 Thomas Meyer: Fundamentalismus; Aufstand gegen die Moderne. Reinbek: Rowohlt 1989. S. 157/158. MEYER paraphrasiert an dieser Stelle bewusst die Definition der Aufklärung durch Immanuel KANT, die da lautet: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne die Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne die Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen!“ (Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Karl Vorländer: Philosophie der Neuzeit. Bd 5: Die Aufklärung. Reinbek: Rowohlt 1969. S. 256.)
18 Günter Lanczkowski: Geschichte der Religionen. Frankfurt am Main: Fischer 1972. S. 6.


Gewissheit und Dogmatismus

Der Fundamentalismus setzt an die Stelle des Zweifels und der generellen Ungewissheit ein absolutes Wissen, das jedem Zweifel entzogen ist. Dieses Wissen wird allerdings nicht durch seinen Inhalt oder seine Herkunft zum Fundament absoluter Gewissheit, sondern durch seine Immunisierung gegen den Zweifel im Zuge der kulturellen Entwicklung und, wo der Fundamentalismus dann an der Macht ist, durch die Erzwingung seines bevorrechteten Wahrheitsanspruches mit Hilfe der von ihm gelenkten staatlichen Einrichtungen.

Religiöser Fundamentalismus entzieht in der Regel heilige Texte oder ehrwürdige Überlieferungen der wissenschaftlichen Kritik. Zweifel und prüfendes Argument werden als Frevel moralisch bewertet und damit auch abgewertet. Am Ende entscheidet die Macht über die Wahrheit.

Säkularer Fundamentalismus erzeugt die Immunisierung seines Gewissheitsfundaments durch einen Zirkelschluss von einem privilegierten Interesse auf eine bevorrechtete Wahrheit und von dieser wieder zurück auf das privilegierte Interesse. Im Marxismus-Leninismus, wie er von Josef STALIN in den fundamentalistischen Aggregatzustand übergeführt worden ist, stellt sich dies folgendermaßen dar: Vom geschichtlich bevorrechteten Interessensstandpunkt des Proletariates wurde auf dessen besondere Fähigkeit zur Einsicht in den Geschichtsprozess geschlossen. Die aus dieser besonderen Einsicht gewonnene Deutung des Laufes der Geschichte bekräftigte wiederum den Vorrang des proletarischen Klasseninteresses vor den Interessen aller anderen gesellschaftlichen Gruppen. Wer sich dieser Ansicht nicht anschließen konnte, wurde zum Klassenfeind gestempelt und verfiel der Ächtung und dem Tod.

Wissenschafts- und Vernunftfeindlichkeit

Der Fundamentalismus ist grundsätzlich wissenschaftsfeindlich. Die Wissenschaft ist für ihn die Pforte des Verrats an der Wahrheit. Allerdings kann seine Wissenschaftsfeindlichkeit von Fall zu Fall unterschiedlich stark sein.

Religiöser Fundamentalismus kann wie im Falle des amerikanischen Provinzfundamentalismus nur in besonderen Fällen wissenschaftsfeindlich sein. Jedwede Wissenschaft, die den biblischen Inhalten widerspricht oder mit Vernunftgründen in Frage stellt, wird heftig bekämpft. In allen anderen Bereichen paart er sich hingegen bedenkenlos mit einer nicht minder fundamentalistischen Wissenschaftsgläubigkeit. Anders liegen die Verhältnisse im islamischen Fundamentalismus. Für ihn ist jede Art der Wissenschaft grundsätzlich verdammenswert. Allein der Zwang, gegenüber seinen Feinden militärisch nicht ins Hintertreffen zu geraten, nötigt ihn zur Nutzung moderner Technologie und Naturwissenschaft, wobei er aber stets aufmerksam bestrebt ist, die Autonomie der Wissenschaft zu beschneiden.

Säkularer Fundamentalismus kennt ebenfalls die beiden Ausprägungen der Wissenschaftsfeindlichkeit. Der grüne Fundamentalismus neigt zu einer allgemeinen Verdammung der Wissenschaft und der sie tragenden Vernunft, die er für die bestehende Misere der Umweltverschmutzung und des Raubaus an den Hilfsquellen der Natur verantwortlich macht. Der naturfeindliche Verstand, der hinter beiden steht, müsse durch Intuition, spirituelles Ganzheitsverstehen, Körperbewusstsein, Meditation und anderes dieser Art ersetzt werden. Damit rückt der grüne Fundamentalismus in die Nähe der New-Age- und Sektenbewegung.

Verheißung und Heil

Allen fundamentalistischen Spielarten ist ein Heilsversprechen gemeinsam, das entsprechend dem jeweiligen Fall andere Inhalte haben kann. Im Kern kreisen diese Versprechen aber alle darum, dass die jeweilige fundamentalistische Richtung die Wiederherstellung der vormodernen Einheit von Welterklärung und Lebensführung verheißt. Es ist diese mystische Einheit, die Aufdeckung einer sinnvollen inneren Übereinstimmung der großen kosmischen Abläufe mit dem kleinen menschlichen Leben und eines guten Ausganges für beide, also die „Wiederverzauberung der Welt“, was das fundamentalistische Wissen leistet. Für diese Gewissheit der in welcher Form auch immer gedachten Erlösung hat der Mensch sich den jeweiligen Anforderungen zu unterwerfen und ohne Zögern seine Güter und auch sich selbst zu opfern.

Religiöser Fundamentalismus verspricht jetzt wie ehedem die Erlösung in einem Jenseits, das nur den Guten offensteht und den Bösen verschlossen bleibt.

Säkularer Fundamentalismus verheißt seinen Anhängern eine harmonische, konfliktfreie Welt am Ende des Weges, in der je nach Ausrichtung entweder die Klassengegensätze aufgehoben sind oder der Mensch mit der Natur wieder versöhnt ist.

Der Heilige Krieg

Hinter allen Formen des Fundamentalismus steht ein manichäisches Weltbild, das die Welt als Kampfplatz zwischen den Kräften des Guten und des Bösen sieht. Zwischen diesen Kräften kann es keine Vermittlung geben, sondern nur den bedingungslosen Kampf. Die politische Kultur des Fundamentalismus ist der Heilige


Krieg der Gläubigen gegen die Ungläubigen, der Eingeweihten in die erlösende Wahrheit gegen die Verworfenen, der Wahrer der Menschheitsinteressen gegen ihre Feinde.

Der Heilige Krieg hat so viele Gesichter wie der Fundamentalismus selbst. Seine Waffen sind die versteckte Zensur, die Brandmarkung unliebsamer Personen als Feinde der Wahrheit und des Heils, Bücherverbrennungen und Rufmord schon dort, wo die Fundamentalisten noch ein verstreuter Haufen sind. Verbote, Verfolgungen, öffentlich verordnete Weltanschauung, Aufhebung der Meinungs- und Vereinsfreiheit, Beaufsichtigung von Wissenschaft und Kunst, Ahndung jedes abweichenden Gedankens als Umsturzversuch sind die Kohorten, mit denen die Schlacht geschlagen wird.

AUSWEGE

Der Fundamentalismus als Antithese zum Fortschritt der aufklärerischen Rationalität hat die Moderne ohne Zweifel in eine kritische Situation gebracht. In diesem Sinne kann er aber auch zur Chance für eine neue Kräftigung der Moderne werden, indem er dazu zwingt, sich Gedanken über Wege aus der derzeitigen Krise zu machen.

Neubewertung des Mythos

„Der Mythos begann zu entarten, als er in eine Doktrin umgewandelt wurde, das heißt in ein Gebilde, das eines Beweises bedurfte und einen Beweis suchte.“19  Es war die religiöse Dogmatik, die als Afterwissenschaft vermeinte, den Mythos durch Rationalisierung vor der aufklärerischen Rationalität retten zu müssen. Dieses Unterfangen war schon zur Zeit des AUGUSTINUS dazu verurteilt, den staatlichen Büttel zu Hilfe rufen zu müssen. „Zwingt sie einzutreten“20, nämlich in die Kirche, rief er die Schergen bereits im Jahre 411 gegen die Donatisten. Und genau so verfahren die Heiligen Krieger ihrer dogmatisierten Mythen auch heute.

Man darf aber nun nicht in den Fehler verfallen, den Mythos frontal anzugreifen. Wie schon ausgeführt worden ist, kommt er einem zutiefst menschlichen Bedürfnis entgegen. Außerdem wird er in einer noch vorrationalen Entwicklungsstufe des Menschen grundgelegt, woraus sich auch erklären läßt, warum mythische Vorstellungen eine so starke Festigkeit gegenüber der Vernunft zeigen. Es kommt vielmehr darauf an, den vernünftigen Umgang mit dem Mythos zu lernen. Da, wie gleichfalls schon dargetan worden ist, weder die Politik noch die Wissenschaft als die Orte gelten können, an denen der Mythos ein Wohnrecht hat - dort sollen und müssen das Kalkül, der Beweis und die Einsicht beheimatet sein - , bleibt der Schluss, dass die Kunst der Ort des Mythos ist.

Beide, die Kunst und der Mythos, sind seit den frühesten Entwicklungsstadien der menschlichen Kultur eng miteinander verknüpft. Es ist die Kunst, die seit jeher dem Mythos ästhetischen Ausdruck verleiht. Die Kunst ist es auch, die bei genauerem Hinsehen erkennen lässt, dass im eigentlichen gar nicht die Götter und der Kosmos der Gegenstand des Mythos sind, sondern dass es der Mensch selbst ist, der in der Kunst sein Idealbild von sich gestaltet. Sei es in der Dichtung, in der die geheimen Sehnsüchte und Wünsche wie auch die verdrängten Ängste und Triebe an den literarischen Gestalten vorgeführt werden. Sei es die bildende Kunst und Architektur, wo in Bild, Skulptur und Bauwerken das menschliche Bemühen um die Überwindung der Vergänglichkeit Ausdruck findet. Sei es die Musik, in der die Menschen die Entgrenzung ihrer Individualität erleben und ihr Aufgehen in einer Gemeinschaftsseele oder in einer imaginierten Transzendenz.

Neue Persönlichkeitsbildung

Zu diesem vernünftigen Umgang mit dem Mythos befähigt und imstande ist aber nur ein Persönlichkeitstyp, der sich über die dialektischen Spannungen zwischen seinen bewussten Strebungen und seinen unbewussten Trieben im Klaren ist. Der sich darüber im Klaren ist, dass die Flucht in eine wieder heimelig gemachte Welt, in der die Impulse des Unbewussten zu einer allumfassenden Harmonie mit der Welt führen sollen, genauso ein Irrweg ist wie der Weg der einseitigen Förderung der Intellektualität und der Verdrängung des Irrationalen, wie Tendenzen zu einer einseitigen Begabtenförderung in der bildungspolitischen Diskussion erkennen lassen.

Wie müsste nun die Persönlichkeit beschaffen sein, die den vorhin genannten Ansprüchen gerecht werden könnte? Sie müsste ein Typus sein wie der „uomo universale“, der allseitig gebildete Mensch, wie ihn der Humanismus, diese erste Befreiungsbewegung des Menschen aus den Fängen einer den Verstand knebelnden Religion, vor rund fünfhundert Jahren als Ideal entworfen hat, der allseitig gebildete Mensch, der seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Fertigkeiten sowohl für das Wohl der Gemeinschaft auch zur Erlangung und Bewahrung des eigenen Glücks einsetzt. Es müsste ein Typus sein, wie ihn vor etwas mehr als dreißig Jahren Erich FROMM als „Revolutionären Charakter“ gezeichnet hat. Es wäre dies „ein Mensch, der sich von den Bindungen an Blut und Boden, an Vater und Mutter, von der Loyalität gegenüber dem Staat, der Klasse, der Rasse, Partei oder Religion gelöst hat [...] ein Humanist, sofern er in sich die ganze Menschheit erfährt und ihm nichts Menschliches fremd ist. In ihm sind Skepsis und Glaube. [...] Er ist unabhängig; was er ist, verdankt er seinen eigenen Bemühungen, er ist frei und keines Menschen Diener.“21

Wien, am 2.11.2002

Der Autor:
Prof. Dr. Anton Szanya ist Mitarbeiter des Österreichischen Volkshochschularchivs, Abt. Dokumentation

 


 

19 Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 15.
20 Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte. Tübingen: Mohr 131971. § 25 k.
21 Erich Fromm: Der revolutionäre Charakter (1963), in: Erich Fromm: Das Christusdogma und andere Essays. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1984. S. 132/133.