Für ein neues europäisches Gleichgewicht

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Dieser Artikel erschien – leicht gekürzt – in der Tageszeitung „Die Presse“ vom 30. Novem­ber 2001. Wir danken für die Genehmigung zum Nachdruck.

R.E.S.


Dieser Artikel erschien – leicht gekürzt – in der Tageszeitung „Die Presse“ vom 30. Novem¬ber 2001. Wir danken für die Genehmigung zum Nachdruck. R.E.S.

Während die Opposition auf der einen Seite Einfalt und Tiefe, auf der anderen Seite Sozialdemokratie und Nihilismus harmonisch zu verbinden weiß, bemüht sich der Bundeskanzler, Österreichs sicherheitspolitische Abseitsposition zu überwinden. Mag dieses Bemühen auch von zweifelhafter Rhetorik begleitet sein, hat er in der Sache recht und wird auch gleich darauf von US-Präsident George Bush empfangen und als verläßlicher Partner bezeichnet. Kaum zu glauben, daß ein anderer US-Präsident zu Lebzeiten unserer ältesten Mitbürger dem Kaiser von Österreich-Ungarn einmal den Krieg erklärt hat und mit seiner Unterstützung des Nationalismus zu einem europäischen Ungleichgewicht beigetragen hat, an dem unser Kontinent im Grunde noch heute leidet.

Das Fehlen einer gewachsenen mitteleuropäischen Ordnungsmacht im Donauraum hat nicht nur sehr bald den zweiten Weltkrieg mitermöglicht. Dieses Machtvakuum war letztlich auch eine Ursache dafür, daß die Balkankriege der 90er Jahre so lange dauern konnten.

Wenn sich Österreich nach 1918 zunächst unfreiwillig von der Weltgeschichte verabschiedete und sich schon bald nach dem Abzug der sowjetischen Armee mit dem Trick der Neutralitätserklärung in sein immerwährend genanntes Schicksal fügte, so führt doch kein noch so pragmatisches Argument an der banalen Erkenntnis vorbei, daß ein Kontinent wie Europa nicht auf Dauer ohne sein geostrategisches Zentrum auskommen kann.

Wurde das Gleichgewicht in Europa nach 1945 durch den kalten Krieg, also durch die USA und die Atombombe, garantiert, so war es nach 1989 zunehmend die deutsche Stabilität unter Helmut Kohl. Auch wenn in Deutschland die Jakobiner, die das deutsche Volk aus purer Langeweile zu Ministern gemacht hat, keine Jakobiner mehr sind, besorgen sie, sobald sie die europäische Konjunkturlokomotive von ihren eigenen Energiequellen abkoppeln, das Geschäft der arabischen Ölwelt. Im übrigen dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Theoretiker des Nullwachstums, sobald sie an der Macht sind, ein solches auch bewirken.

Die dynamische Interpretation der Neutralitätspolitik führt nicht automatisch dazu, daß uns die ganze Welt liebt. Im Gegenteil: Sowohl die eigenwillige PLO-Politik, die Waldheim-Zeit als auch die Sanktions-Periode haben uns gezeigt, daß eine Isolationspolitik auch dazu führen kann, selbst isoliert zu werden. Wer die Isolation „splendid“ nennt oder die Neutralitätspolitik „aktiv“, verbrämt dabei nur rhetorisch. Wir scheinen mit gespaltener Zunge zu sprechen, wenn wir das Gegensatzpaar Neutralität und Solidarität unter einen Hut bringen wollen. Mit einer solchen Sowohl-als-Auch-Politik kann man ein Nachwort zu Machiavellis Immoralismus der Machtpolitik schreiben.

Neutralität dient im wesentlichen nur als kleinmütige und ausredende Erklärung, um sich in der internationalen Politik die Hände nicht schmutzig machen zu müssen. Tatsächlich machen wir uns aber dann, wenn wir den Kampf gegen das Böse – sei es in Form des Kommunismus, des Terrorismus oder welches Ismus immer – nicht unterstützen, nur mitschuldig. Zwischen Gut und Böse, Richtig und Falsch darf es nie eine Mittelposition geben. Wer moralische Bedenken vorgibt, das Schlechte zu bekämpfen, wird letztlich mitverantwortlich, wenn dieses die Oberhand behält. Das Attentat vom 20. Juli 1944 ist zu einem guten Teil am Selbstzweifel der Verschwörer gescheitert, ob denn der Tyrannenmord und der Widerstand wirklich zu rechtfertigen seien.

Der wahre Zweifler zweifelt auch an seinen Zweifeln, sagt David Hume. Die große Mehrheit der Österreicher weiß genau, auf welcher Seite der Geschichte wir zu stehen und auch zu handeln haben. Diesem Verständnis auch die völkerrechtliche Form zu geben, ist eine Frage der Anständigkeit. Nachdem sich am 11. September die Lenin’sche Erkenntnis, daß auch Quantität eine Qualität an sich sein kann, in tragischer Weise bestätigt hat, ist es Zeit für eine sicherheitspolitische Neuorientierung Österreichs, die auch zu einem gefestigten Gleichgewicht in Europa führen kann.

Mag.Dr.Georg Vetter Ist Rechtsanwalt in Wien. Er ist Vorstandsmitglied des Clubs unabhängiger Liberaler.