Das Ende des Sozialstaats als Herrschaftsinstrument

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von Univ.Prof.Dr. Meinhard Miegel

Der gebürtige Wiener Dr. Meinhard Miegel hat sich einen Namen gemacht als profunder Analytiker politischer und gesellschaftlicher Gegebenheiten, und seine oft im Gegensatz zur gängigen Meinung formulierten Thesen haben sich in erstaunlichem Maße bewahrheitet. Er prophezeite die baldige Wiedervereinigung Deutschlands, als kaum jemand daran glauben wollte, und er prophezeite jahrzehntelange wirtschaftliche Schwierigkeiten im wiedervereinigten Deutschland, als viele noch an blühende Landschaften binnen eines Jahrzehnts glaubten. Jetzt warnt er von noch immer zu optimistischen Vorstellungen über die Fortschreibbarkeit unserer sozialen Netze. Der in Folgenden wiedergegebene Text stammt aus dem jüngsten Buch von Dr. Meinhard Miegel, „Die deformierte Gesellschaft“, Propyläen Verlag 2002. Wir danken für die Genehmigung zur auszugsweisen Wiedergabe.

Geplatzte Wohlstandsillusionen

Die Deutschen sind wohlhabend. Sie sind sogar sehr wohlhabend. Aber sie sind nicht so wohl-habend, wie sie bislang meinten. In ihrer Gesamtheit ähneln sie Menschen, die es trotz hoher Einkommen nie bis zum Monatsende schaffen. Ständig verbrauchen sie mehr, als sie verdienen. Um ihre Konsumwünsche zu befriedigen, lassen sie Haus und Hof verfallen. Weil das nicht reicht, machen sie auch noch Schulden. Aber irgendwann stößt das an Grenzen. Der Regen tropft durchs Dach, und die Gläubiger spielen nicht mehr mit. Die Schuldner werden zurückgeworfen auf ihre realen Möglichkeiten. Sie empfinden das als Verlust. Einiges von dem, was sie sich bisher geleistet haben, liegt jetzt außerhalb ihrer Reichweite. Sie müssen sich zurückhalten und Prioritäten setzen. Das stimmt viele verdrießlich. Ihnen geht es wie den 2,8 Millionen überschuldeten Haushalten in Deutschland, die zu Beginn ihrer Schuldenkarriere oft keineswegs zu den Ärmsten und noch nicht einmal zu den Ärmeren zählten, sondern einfach über ihre Verhältnisse lebten.

Binnen kurzer Zeit sind drei große Wohlstandsillusionen geplatzt. Die erste betrifft Haus und Hof. Seit einer Generation hat der aktive Bevölkerungsteil zu wenig in die nachwachsende Generation investiert. Während er sie individuell häufig über alle Maßen verwöhnt hat, hat er sie kollektiv vernachlässigt. Noch nie hat eine Elterngeneration so ungleich mit der Kindergeneration geteilt. Für sich buken die Eltern ein Brot, für die Kinder allenfalls ein Brötchen. Sechzig Milliarden Euro, die sich die Elterngeneration durch nicht gehabte Kinder jährlich an Aufwendungen spart - mit dieser Summe lässt sich mancher schöne Urlaub bestreiten. Solange die Nachwachsenden Kinder waren, machten sich die unterlassenen Investitionen kaum nachteilig bemerkbar. Im Gegenteil. Ein paar Millionen Esser weniger. Doch jetzt, wo diese Generation ins Erwerbsleben einrückt, fallen die Lücken unangenehm auf Der Regen tropft durchs Dach. Die Deutschen sehen sich genötigt, aus fernen Ländern Menschen zu holen. Sie zu integrieren und zu qualifizieren wird teuer Was sie an eigenen Kindern sparten, das zahlen sie nun nach. Dabei stehen sie erst am Anfang. Das eigentliche Bevölkerungsloch kommt erst noch.

Die zweite Wohlstandsillusion hat der Staat durch seine jahrzehntelange Schuldenpolitik erzeugt. Durch sie verdoppelten sich die privaten Vermögen, wie Dinge sich in einem Spiegel scheinbar verdoppeln. Die Bürger erfreuten sich ihrer Ersparnisse, und zugleich erfreuten sie sich der großzügigen, schuldenfinanzierten Ausgaben der öffentlichen Hand: überdimensionierte Rathäuser, luxuriöse Schwimmbäder, plätschernde Brunnen, prächtige Kandelaber und viel öffentlicher Konsum. Dabei merkten sie nicht, dass die Mittel für diese schönen Dinge zum großen Teil von ihren Sparbüchern stammten. Die wähnten sie wohl gefüllt.In Wirklichkeit floss ihr Geld in den Rathausbrunnen. Eine von beiden Freuden war also grundlos: entweder die über ihr privates Vermögen oder die über die staatlichen Leistungen. Das Geld, das sich der Staat von den Bürgern, zum Beispiel durch die Ausgabe von Bundesschatzbriefen, geborgt hat, kann er ihnen nämlich nur zurückerstatten, wenn er sie dafür zur Kasse bittet. Damit sich ihre bereits früher einmal gefüllten Sparbücher wieder füllen, muss die Bevölkerung ein zweites Mal die Ärmel hochkrempeln. Das zuvor Erarbeitete hat der Staat ausgegeben. Auch hier ist der fröhliche Teil der Party vorüber. Die Aufräumarbeiten haben begonnen. Der Spiegel, der alles so großartig doppelt erscheinen ließ, wurde weggetragen.

Die dritte große Wohlstandsillusion, deren Platzen den Bürgern besonders sauer aufstößt, ist die Vorsorgeillusion. Nachdem ihnen so lange gesagt worden war, sie hätten durch ihre Beteiligung an den staatlichen Sicherungssystemen für alle Wechselfälle und ins¬besondere für ihr Alter ausrei-chend vorgesorgt, hat ihnen der Staat fast unvorbereitet den Teppich unter den Füßen wegge-zogen. Plötzlich heißt es, ohne zusätzliche private Vorsorge sei der individuelle Lebensstandard nicht gesichert. Zwar wurde das in dieser Klarheit erst bei der gesetzlichen Alterssicherung ausgesprochen. Aber: alle anderen Bereiche - Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit - werden folgen. Überall wird es heißen: Wer nicht erheblich über das Bisherige hinaus vorsorgt, wird es künftig schwer haben. Bei der Sicherung des Lebensstandards ist auf den Staat kein Verlass mehr.

Das Ende des Sozialstaats als Herrschaftsinstrument

Drei geplatzte Wohlstandsillusionen binnen weniger Jahre das kann einer Bevölkerung schon aufs Gemüt schlagen. Folgenreicher ist jedoch, dass dadurch der tradierte Sozialstaat an Ansehen verliert. Die Illusionen waren sein prunkvolles Gewand. Ohne sie steht er ziemlich nackt da. Er kann die von ihm gegebenen Versprechen und geweckten Hoffnungen nur noch teilweise erfüllen. Nicht wenige kann er gar nicht mehr einlösen. Die Vollbeschäftigungsgarantie hat sich als Luftnummer erwiesen; um die Steuern senken zu können, muss zunächst der Zuwachs und dann der Bestand an Schulden gesenkt werden; und die sozialen Sicherungssysteme bedürfen ausnahms¬los einer General¬überholung.


Das hat den Sozialstaat in eine missliche Lage gebracht. Ständig muss er nein sagen, Rückzieher machen, sich rechtfertigen und entschuldigen. Darin haben seine Repräsentanten keine Übung. Sie spielen ihre Rolle schlecht, was ihnen die Lust am Spiel vergällt. Die bislang fast selbstver-ständliche Dominanz der Sozialpolitiker auf der politischen Bühne geht zu Ende. Wohl spielen sie noch immer einen herausragenden Part, aber sie müssen sich in eine größere Gruppe einfügen. Dissonanzen werden von den anderen nicht mehr ohne weiteres hingenommen. Was ihnen noch vor wenigen Jahren erlaubt war, stößt heute auf teils heftigen Widerstand.

Damit taugt der Sozialstaat immer weniger als Herrschaftsinstrument. Er hat sich verbraucht. Seine Mängel sind zu augenscheinlich geworden. Damit wird er zur Belastung. Jetzt plagt die Herrschenden nur noch die Frage: Wie kann er möglichst reibungslos durch ein anderes Herrschaftsinstrument ersetzt werden? Und durch welches? Der Regierungswechsel 1998 dürfte die Zäsur markieren. Noch einmal punkteten die Sozialdemokraten, indem sie ein halbes Dutzend sozialer Leistungen, das die Vorgängerregierung kassiert hatte, wieder einführte. Doch sehr schnell zeigte sich, dass diese Politik nicht durchzuhalten war. Mittlerweile rudert sie zurück. Sämtliche sozialen Sicherungssysteme befinden sich offen oder verdeckt im Um- und das heißt tendenziell im Rückbau. Erwerbsfähige Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfe-empfänger sollen ernsthaft zu öffentlichen Arbeiten herangezogen werden. Unumwunden wird eingeräumt, dass manche Empfänger von Sozialleistungen Schnorrer sind. Und es ist auch kein Tabubruch mehr, darauf hinzuweisen, dass der Staat gar keine Arbeitsplätze schaffen, sondern nur hierzu beitragen kann. Augenzwinkernd gibt der Kanzler zu erkennen, dass das mit den Arbeitslosen nicht so ernst gemeint gewesen sei. Was für ein Unterschied zum donnernden Pathos, das ein Willy Brandt in dieser Sache aufbrachte! Der Vergleich zeigt den Niedergang, den der Sozialstaat seitdem genommen hat.

Herrschaft ist mit ihm schwierig geworden. Schon seit Jahren können die Politiker den Bürgern keine weiteren Sozialleistungen mehr versprechen oder auch nur in Aussicht stellen. Um regieren zu können, ließen sie in der Vergangenheit das Verteilungskarussell immer schneller kreisen. Alle, die ihre Forderungen laut genug erhoben, wussten, dass sie alsbald bedient werden würden. Dabei brauchte in keinen vorhandenen Besitzstand eingegriffen zu werden. Stets wurde draufgesattelt. So machte das Regieren Spaß. Das ist jetzt anders. Die Parteien können nicht mehr darum wetteifern, welche mehr gibt; es geht nur noch darum, welche weniger nimmt. Eine andere Politik wäre vor dem Hintergrund des Bevölkerungsumbruchs und der Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft unrealistisch. Die Politiker sind deshalb nicht zu tadeln, und wenn doch, dann allenfalls für ihr zögerliches Vorgehen. Nur Staat ist mit dieser Politik nicht mehr zu machen, besonders kein Sozialstaat.

Hinter vorgehaltener Hand diskutieren deshalb nicht nur Politiker - die aber besonders -, was künftig die tragende Säule staatlichen Handelns sein soll. In einer Bevölkerung, die an Zahl ab- und an Alter zunimmt, liegt die Antwort nahe: Sicherheit nach innen und außen in jedweder Form und Gestalt. Die Sicherheitskarte dürfte zur neuen Trumpfkarte der Politik werden. Die Parteien werden sich in Sachen Sicherheit ebenso zu überbieten versuchen, wie sie sich bislang mit Sozialleistungen überboten haben. Dabei ist absehbar, dass nicht alles, was der Bevölkerung angedient wird, wirklich vonnöten ist. Aber es rechtfertigt staatliche Interventionen. Was der Sozialstaat nicht mehr vermag, übernimmt künftig - so gut es geht - der Sicherheitsstaat. Die Wirkungen dürften ziemlich gleich sein.

Ist der Sozialstaat damit reif für die Abraumhalde der Geschichte? Politische Korrektheit gebietet, diese Frage mit einem entrosteten Nein zu beantworten. Doch so einfach sollte man es sich nicht machen. Denn soweit er als Herrschaftsinstrument verwendet wird, hat der tradierte Sozialstaat ausgedient. Die sozialstaatliche Bevormundung und Gängelung der Bürger ist ein feudalstaatliches Relikt, das in freiheitlichen Gemeinwesen einen Fremdkörper bildet. Der Sozialstaat gerade deutscher Prägung wurzelt in vordemo¬kratischen Zeiten und hat die Entwicklung einer Bürgergesellschaft lange behindert. Das sollte nicht vergessen werden.

Ein anderer Teil des Sozialstaats ist jedoch unverzichtbar. Er hat Aufgaben übernommen, die unter den demographischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des beginnenden 2.Jahrhunderts nur er übernehmen kann. Die Liste dieser Aufgaben ist lang, aber nicht so lang, wie von den Sozialpolitikern alten Schlages behauptet wird. Wäre die Bevölkerung gefordert, ihre eingeschlafenen sozialen Fähigkeiten und Kräfte wieder zu wecken, würde mit großer Wahr¬scheinlichkeit Erstaunliches zutage treten. Dann würden nicht nur Marktfrauen und Flickschuster, sondern auch andere, ganz normale Bürger, höchst kompetent ihr Leben, einschließlich seiner Wechselfälle, gestalten. Dennoch: Ohne Sozialstaat geht es nicht. Ein neuer, von Herrschaft befreiter Sozialstaat muss errichtet werden. Die Baupläne hierfür liegen bereits vor.