Die Schatten der Vergangenheit und die Lehren der Geschichte

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von Univ.Prof.Dr. Rudolf Burger

Am 26. März 2002 hielt Univ.Prof.Dr.Rudolf Burger auf Einladung des Liberalen Klubs im Hotel Imperial in Wien einen vielbeachteten Vortrag zum Thema „Lehren aus der Geschichte“. Wir danken dem Vortragenden und dem Liberalen Klub für die Zustimmung zur Veröffentlichung dieses Vortrages.

Variation über das Thema: „Niemals vergessen!“

Im Jahre 1942 – Sie werden sich vielleicht noch erinnern – veröffentlichte Jorge Luis Borges neben einigen poetischen Kaprizen auch einen ernsthaften Bericht über eine damals schon längere Zeit zurückliegende merkwürdige Begegnung. Aus literarischer Gewohnheit kleidete er seine Erzählung in die Gestalt einer phantastischen Novelle und gab ihr den Titel: „Das unerbittliche Gedächtnis“. Sie handelt im Jahre 1887 und ist eine (lückenhafte, wofür Borges sich mit guten Gründen entschuldigt, wurde er selbst doch erst 1899 geboren) Erinnerung an einen uruguayanischen Indianerjungen, der nach einem Reitunfall, hoffnungslos gelähmt, mit einem absoluten Gedächtnis begabt war. Achtzehn Jahre lang hatte Ireneo Funes, so hieß der Junge, so gelebt, wie wir alle, d.h. wie einer, der träumt; er sah, ohne wahrzunehmen, hörte ohne zu hören, vergaß alles, fast alles. Bevor das Pferd ihn zu Boden warf, sei er, wie Borges uns versichert, so gewesen, wie alle anderen auch: blind, taub, zu nichts nütze, ohne Gedächtnis; dabei gierig auf das Leben und auf Bewegung.

Beim Sturz verlor Ireneo das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, war die Gegenwart fast unerträglich reich und klar; und ebenso seine frühesten und beiläufigsten Erinnerungen. Wenig später wurde er der Tatsache inne, dass er vollständig gelähmt war. Aber dieser Umstand berührte ihn kaum. Er befand, dass die Unfähigkeit zu handeln und sich zu bewegen ein äußerst geringer Preis sei für sein nunmehr unfehlbares Gedächtnis und seine absolute, ans Blasphemische grenzende Fähigkeit, die Dinge in ihrer Einzelheit wahrzunehmen und sie sich zu merken. So war Ireneo, der vor seinem Unfall kaum des Lesens mächtig gewesen war, schon nach einmaliger Lektüre der Naturalis Historia des Plinius imstande, auf Latein und Spanisch alle Fälle von erstaunlichem Gedächtnis aufzuzählen, die dort im vierundzwanzigsten Kapitel des siebenten Buches vermerkt werden: Cyrus, der Perserkönig, der alle Soldaten seiner Heere mit Namen zu nennen wusste; Mithridates Eupator, der Recht sprach in den zweiundzwanzig Sprachen seines Reiches; Simonides, der Erfinder der Mnemotechnik; Metrodorus, der sich der Kunst befleißigte, nur einmal Gehörtes wortgetreu wiederzugeben.

Der lahme Ireneo Funes ließ alle diese Helden der ars memorativa als vergesslich erscheinen. Er kannte genau, wie Borges berichtet, die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufganges vom 30. April 1882 und konnte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband vergleichen, der ihm nur ein einziges Mal zu Gesicht gekommen war, und mit den Linien der Gischt, den ein Ruder auf dem Rio Negro am Vorabend aufgewühlt hatte. Er konnte alle Träume, alle Tagträume rekonstruieren. Zwei – oder dreimal hatte er einen ganzen Tag rekonstruiert; nie war er über etwas im Zweifel gewesen, aber jede solcher Rekonstruktionen hatte einen ganzen Tag beansprucht. -

Einen Kreis im Sand, ein rechtwinkeliges Dreieck auf einer Schiefertafel, ein Rhombus sind Figuren, die wir alle in unserer Unvollkommenheit vollkommen wahrnehmen und erinnern, und als abstrakte Gebilde definieren können; wie uns mit den vollkommenen geometrischen Figuren erging es dem vollkommenen Ireneo Funes mit natürlichen Dingen, mit der zerzausten Mähne eines Fohlens, mit einer Viehherde auf einem Hügel, mit der wandelbaren Gestalt einer Flamme.

Zur Bildung platonischer Ideen war er freilich nicht imstande, noch hatte er ein Verlangen danach. Wozu auch? Wo wir uns an Definitionen klammern, mit genus proximum und differencia specifica eine logische Seinsordnung errichten, um uns in der Welt zu orientieren und sie zu erkennen, brauchte er sich bloß zu erinnern.

Im 17. Jahrhundert hatte John Locke, indem er einen Gedanken der mittelalterlichen Scholastik wieder aufnahm und sich im Streit zwischen Nominalisten und Realisten entschieden auf die Seite der Nominalisten schlug, eine unmögliche Sprache gefordert (die er dann wieder verwarf), in der jedes einzelne Ding, jeder Stein, jeder Vogel und jeder Zweig einen eigenen Namen haben sollte. Funes hatte einmal eine ähnliche Sprache geplant, sie dann aber wieder aufgegeben, weil sie ihm zu allgemein, zu mehrdeutig erschien. Tatsächlich erinnerte sich Funes, wie uns Borges versichert, nicht nur an jedes Blatt jeden Baumes in jedem Wald, den er je gesehen hatte, sondern auch an jedes einzelne Mal, da er es sich vorgestellt und sich an es erinnert hatte. Er beschloss, jeden seiner vergangenen Tage auf 70.000 Erinnerungen zu beschränken, die er später mit Ziffern bezeichnen wollte, um ihnen eine Ordnung zu verleihen. Zwei Überlegungen hielten ihn davon ab: die Befürchtung, dass die Mühe endlos sein würde; und die Einsicht, dass sie sinnlos war. Er überlegte, dass er in der Stunde seines Todes noch nicht einmal die Einordnung seiner sämtlichen Kindheitserinnerungen zu Ende gebracht haben würde.

Dabei starb er sehr früh, im gleichen Jahr 1889, in dem Nietzsche dem Wahnsinn verfiel, ganz banal an einer Lungenembolie. Doch hält sich beharrlich das Gerücht, dass in Wahrheit die Last der Erinnerung sein junges Leben zerbrach; als gesichert kann gelten, dass sie die Ursache seiner Lähmung war; dazu kam die Angst, sie durch Bewegung, ja durch die geringste Regung des Lebens überhaupt, zu vermehren – vielleicht eine grundlose Angst, denn was heißt: das Unendliche vermehren? Doch zu so einer eleatischen Überlegung war er nicht fähig, der Zugang zu abstrakten Ideen und ihren Aporien blieb ihm verwehrt. Er hatte ohne Mühe eine Reihe lebendiger Sprachen und Latein gelernt, doch Borges gibt uns zu verstehen, dass dieses Wunder an Gedächtnis zum Denken nicht sehr begabt war. Denken heißt, Unterschiede vergessen, Verschiedenes vergleichen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgestopften Welt des Ireneo Funes gab es nichts als Einzelheiten.

Als Borges den Jungen das letzte Mal sah, war dieser neunzehn; es war im Jahr vor dessen Tod. Er schien, wie Borges sagt, „monumental wie Erz, älter als Ägypten, früher als die Prophezeiungen und die Pyramiden.“

Vielleicht war jener störrische Hengst, der Ireneo Funes später abgeworfen hat, als junges, übermütiges Fohlen unter jener Herde, die Nietzsche 1873 (auf heimlichem Besuch bei seiner Schwester in Paraguay, wer weiß?) am Beginn seiner zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ beobachtet, deren Glück er bewundert und um das er sie beneidet. Sie weiß nicht, sagt Nietzsche, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen, kommt den Menschen hart an, sagt Nietzsche, weil er sich doch als so viel höherstehend erachtet und daher auf das Glück des Tieres, das ihm verschlossen bleibt, eifersüchtig ist. Voll Neid fragt der an Verstand überlegene Mensch gelegentlich das Tier und sucht von ihm Belehrung: „Warum redest du mir nicht von deinem Glück und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg.“

Das Tier, sagt Nietzsche, lebt unhistorisch. Der Mensch aber werde erst dadurch zum Menschen, dass er lernt, das Wort: „Es war“ zu verstehen, jenes schreckliche Wort, mit dem Trauer, Hass, Kampf, Leiden und Überdruss zu den Menschen kommen, sie zu erinnern, was ihr Dasein im Grunde ist: ein nie zu vollendendes Imperfektum, ein ununterbrochenes Gewesensein. Deshalb sei der Mensch, vor allem aber der historische Mensch, der die Vergangenheit zu seiner Verpflichtung macht und sein Gewesensein nicht überschreitet, sondern sich im Gegenteil über es definiert, für das Glück so schlecht begabt, und es habe vielleicht kein Philosoph mehr Recht als der Zyniker: denn das Glück des Tieres, als des vollendeten Zynikers, sei der lebendige Beweis für das Recht des Zynismus. Zum Glück gehört, worin immer es bestehen mag, das Vergessen-können, gehört das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Aber auch zum Handeln gehört Vergessen-können. Wie der Handelnde, nach Goethes Wort, immer gewissenlos ist, so ist er auch in spezifischer Weise geschichtslos. „Denkt euch nur“, sagt Nietzsche, und man könnte meinen, er hätte die Borgessche Figur des Ireneo Funes vor Augen, „denkt euch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße...: er wird wie der rechte Schüler Heraklits kaum mehr wagen, den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört.“ Daher sei es möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja, glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; aber es ist ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Es gibt, sagt Nietzsche, „einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur... Wir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten müssen insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes, Gesundes und Großes, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann.“ (Hat die Moderne nicht mit Descartes begonnen, der die historisch tradierte Last des scholastischen Denkens mit seinem herrisch-antihistorischen „Cogito“ abgeworfen hat?)

Wenn heute so viel von „kollektiver Identität“ die Rede ist – ein Wort, das sich in der gesamten klassischen Sozialphilosophie nicht findet und erst vor etwa fünfzehn Jahren in Mode gekommen ist – von kollektiver Identität, die sich über eine gemeinsame Geschichte konstituiert und definiert, so wird mit dem outrierten Gedenken das Wichtigste vergessen gemacht: dass nämlich Identität im strikten Sinn nur etwas Totem zukommt, einem Ding, einem Stein (oder einem Menschen, der sich zu einem Stein macht, d.h. der sich als das definiert, was er ist: ein Jude, ein Antisemit, ein Professor...), und dass das menschliche Dasein nur dadurch menschlich ist, dass es, in Hegels Formulierung, in jedem Augenblick identisch ist mit seiner Nichtidentität, oder dass es, wie Jean-Paul Sartre sagt, ist, was es nicht ist, und nicht ist, was es ist: dass es positiv nur ist durch seine dauernde Selbstnegation, d.h. durch seine eigene Überschreitung; der Derridasche Begriff der „différance“ hat den gleichen Sachverhalt im Auge (wenn er ihn auch terminologisch verdinglicht).


„Erst durch die Kraft“, sagt Nietzsche daher, „das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaß von Geschichte hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen.“

Das Vergangene zum Leben gebrauchen, aus dem Geschehenen wieder Geschichte machen: Diese Formulierungen Nietzsches sind doppeldeutig. Sie haben nicht nur eine prospektive Bedeutung, wie etwa bei Karl Marx im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“, wo es an einer berühmten Stelle heißt: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden“, sondern sie haben zugleich auch einen retrospektiven Sinn: Wir haben eine Vergangenheit, aber wir geben uns eine Geschichte. Und wir geben sie uns im Lichte eines Entwurfs – eines Entwurfs dessen, was wir sein und werden wollen; davon hängt ab, wer wir gewesen sind. Nicht die Vergangenheit legt uns fest und definiert uns, sondern indem wir der Vergangenheit die wir haben, eine Bedeutungsstruktur verleihen, die sie von sich aus niemals hat (als solche ist sie nur pralle Faktizität, gleichgültig, ob es sich um die Traumhochzeit der „Prinzessin der Herzen“ handelt oder um den „Holocaust“) und sie damit zu unserer Geschichte, zu unserem „Gewesen-Sein“, machen, definieren wir uns mittels unserer Geschichte.

Der Vergangenheit eine Bedeutungsstruktur verleihen und sie damit zu einer „Geschichte“ im Sinne einer Narration zu machen, das heißt, aus dem unendlichen Meer isotroper Begebenheiten (die Ireneo Funes alle gleichermaßen erinnert!) eine finite Zahl herauszugreifen, einige zu pathetisieren, andere zu lakonisieren, einige zu memorieren, andere zu vergessen – und den Großteil überhaupt unberücksichtigt zu lassen: „Geschichte“ ist nur möglich, wenn der Großteil der Vergangenheit im Dunklen bleibt. Auch das Licht der Erkenntnis wirft Schatten.

Dass es dieser progressiv-regressive Zirkel ist, den Nietzsche im Auge hat, wenn er vom „Machen der Geschichte“ spricht (der Ausdruck taucht das erste Mal bei Giambattista Vico auf, der das historische Denken von den Heteronomien der „Vorsehung“ befreite), und nicht allein das folgenreiche, in die Zukunft wirkende Handeln unmittelbar, zeigt der weitere Fortgang seines Traktats. Denn wenn er im Folgenden drei Arten von Historie unterscheidet und ihre Vor- und Nachteile in Bezug auf Lebensdienlichkeit untersucht, nämlich eine monumentalische, eine antiquarische und kritische Art von Geschichtsschreibung, so ist das ja nur möglich, wenn das Material nicht von sich aus eine bestimmte Bedeutungs- und Sinnstruktur hat und daher zu einer bestimmten Darstellungsform zwingt. Vielleicht sind die Arten von Historie, die Nietzsche nennt, um weitere zu ergänzen, und ganz sicher sind sie zu differenzieren und durch Mischformen zu bereichern, ebenso wie die „Plotstrukturen“, die Hayden White bei großen Historikern festzustellen meint – Epos, Tragödie, Romanze, Komödie, Farce usw. –, und vielleicht spielen die Tropen der Rhetorik – Metapher, Synekdoche, Metonymie, Ironie – nicht die strenge Rolle von linguistischen Kategorien, in denen die Vergangenheit, das Material der Historie, gleich dem Kantischen „Ding an sich“, historiographisch allein erscheinen kann - an der grundsätzlichen Einsicht änderte dies alles nichts, im Gegenteil, diese würde dadurch nur bestätigt und in ihrem Geltungsbereich erweitert, weil die möglichen korrekten Darstellungsformen nicht mehr abzählbar wären, sondern ein Kontinuum bildeten: die Einsicht nämlich, die Jean-Paul Sartre in „L’être et le néant“, seinem ersten Hauptwerk (das ein Jahr nach dem Bericht des Borges erschien) so ausdrückt: „Wir bekommen unsere Vergangenheit nicht, sondern die Notwendigkeit unserer Kontingenz impliziert, dass wir nicht umhin können, sie zu wählen... So stellt diese rohe Existenz, obwohl notwendig existierend und unveränderlich, so etwas wie das ideale und unzugängliche Ziel einer systematischen Erklärung aller in einer Erinnerung eingeschlossenen Bedeutungen dar.“ Sartre spricht hier vom Individualsubjekt, denn nur dieses hat überhaupt Erinnerung, und sie ist an dessen Lebenszeit gebunden: Sie stirbt mit ihm. Entgegen dem, was heutige Mystagogen behaupten, gibt es keine „kollektive Erinnerung“, es gibt allenfalls ähnliche Erinnerungen in einer Generation an die gleiche Vergangenheit unter verschiedenen Perspektiven, und was man einflüsternd „kollektives Gedächtnis“ nennt (Gedächtnis ist ja Erinnerungsvermögen, und dieses ist, wie die Erinnerung selbst, an das Individualsubjekt gebunden), sind sozialpädagogisch kollektivierte Aktualvorstellungen von Vergangenem, an das sich niemand mehr erinnert, deren Material zwar narrativ tradiert sein mag (nicht muss), das aber immer nach den Erfordernissen von politischen Zukunftsentwürfen geformt ist. Ob der Einzelne diese annimmt und sie sich zu eigen macht, ist seine Sache und liegt allein, wie Sartre betont, in seiner Verantwortung: „Die Bedeutung [ihr Sinn, ihre „Lehre“, R.B.] der Vergangenheit ist also streng abhängig von meinem gegenwärtigen Entwurf... Ich allein kann nämlich in jedem Moment über die Tragweite der Vergangenheit entscheiden: nicht indem ich in jedem Fall die Wichtigkeit dieses oder jenes Ereignisses erörtere, erwäge und einschätze, sondern indem ich mich auf meine Ziele hin ent-werfe, rette ich die Vergangenheit mit mir und entscheide durch das Handeln über ihre Bedeutung.“

Die Zukunft, meine Vorstellung von der Zukunft, meine Wünsche, Pläne und Absichten entscheiden darüber, ob die Vergangenheit lebendig oder tot ist, ob sie mich und wozu sie mich verpflichtet; sie selber hat von sich aus gar keine Kraft: „Denn die einzige Kraft der Vergangenheit geschieht ihr durch die Zukunft... Lebendige Vergangenheit, halbtote Vergangenheit, Überlebendes, Ambivalenzen, Antinomien: die Gesamtheit dieser Vergangenheitsschichten wird durch die Einheit meines Entwurfs organisiert... So bestimmt die Ordnung meiner Zukunftswahlen eine Ordnung meiner Vergangenheit, und diese Ordnung hat nichts Chronologisches...“ Eben darin liegt die Möglichkeit der Mythenbildung. Denn der Mythos ist nichts, was mich aus den Tiefen der Vergangenheit mit Naturgewalt überkommt und mein Handeln diktiert, sondern seine Kraft ist ihm vorgängig durch meine freie Wahl verliehen. Mit „Faktentreue“ hat das gar nichts zu tun.

„So wählen wir unsere Vergangenheit im Lichte eines bestimmten Zwecks, aber von da an drängt sie sich auf und verschlingt uns...“ sagt J.P. Sartre, und genau das ist unser Problem – in Österreich und weltweit, mit verschiedenen Brennpunkten, vor allem aber auch in Österreich. Denn alle großen, massenmedial aufgeheizten Hysterisierungswellen, die Österreich in den letzten Jahrzehnten wie Fieberwellen überzogen haben und zu ideologischer Lagerbildung führten beziehungsweise diese reifizierten, hatten die Vergangenheit des Landes zu ihrem polemischen Inhalt, deren behauptete oder bestrittene „Bewältigung“ und die befürchteten Folgen ihres Ausbleibens, nicht die Gestaltung der Zukunft als solcher. Nicht einmal weltpolitische Großereignisse reichen an das Erregungspotential heran, das hierzulande Interpretationsfragen der eigenen Geschichte mühelos erreichen. So hat zum Beispiel der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums um die Jahre 1989/91, wahrhaft ein Jahrhundertereignis, das Österreich als Grenzland der Blöcke im Kalten Krieg doch unmittelbar betraf, bei weitem nicht jene psychische Erregung ausgelöst wie die Waldheim-Affäre, welche die weltgeschichtliche Zäsur zeitlich umklammerte. Obwohl es bei der sog. Waldheim-Affäre im Kern überhaupt nicht um Realpolitik ging, sondern um ein symbolisches Verhältnis zur Geschichte, deckte sie hierzulande in der Ökonomie der Aufmerksamkeit die weltgeschichtlichen Ereignisse fast völlig zu. Was an sich nur eine irreale Farce war, wie der hysterische Rummel um die Regierungsbildung vor zwei Jahren auch, war andererseits zugleich auch wieder keine, weil sie sehr reale Auswirkungen hatte. Denn dass es mit einem Thema politisch ernst ist, merkt man daran, dass sich um es herum ein Freund/Feind-Verhältnis bildet, und genau das ist innenpolitisch geschehen; ein Freund/Feind-Verhältnis, das viel tiefer geht und schärfer ausgeprägt ist als bei vielen Problemen der Realpolitik, und beträfen diese selbst so wichtige Zukunftsfragen wie etwa die Kündigung der Neutralität oder die Osterweiterung der EU. Natürlich sind auch hier sehr viele Emotionen im Spiel und es wird eine Menge Populismus betrieben, aber ihre Behandlung hat auf allen Seiten doch auch immer einen pragmatischen Kern, Argumente werden formuliert und ausgetauscht, freilich nicht immer gehört und gewürdigt, aber sie werden zumindest vorgebracht und es ist möglich, Positionen zu wechseln oder zu modifizieren, wenn die Lage sich ändert. All das ist auf dem medialen Schlachtfeld der Vergangenheitspolitik nicht möglich, hier nehmen die Kämpfe die moralisch verpflichtenden Züge von Glaubenskriegen an - und das ist nicht nur eine österreichische Erfahrung. „Glücklich das Volk“, sagt Ralph Dahrendorf, „das sich über seine Zukunft streitet, sich über seine Vergangenheit aber einig ist.“ Wenn das stimmt, dann hat Österreich ein sehr unglückliches Volk, denn hier ist das genaue Gegenteil der Fall: Einen ernsthaften Streit über Staatsziele, bei selbstverständlich anerkanntem Primat der Staatsräson über Parteiräson, wie er in den klassischen westlichen Demokratien existiert, gibt es hierzulande nicht. Das jämmerliche Verhalten der Opposition während der Sanktionszeit hat diesen Mangel nur ein weiteres Mal gezeigt. Dafür gibt es eine enervierende psychohistorische Dauerreflexion über die Pathologien der „Österreichischen Seele“, die angeblich nur gesunden kann, wenn sie in einem permanenten öffentlichen Prozess der Selbstanklage ihre „verdrängte Geschichte“ ins Bewusstsein hebt, diese „aufarbeitet“ und „niemals vergisst“. Nur so sei es möglich, „aus der Geschichte zu lernen“ und ihre Katastrophen künftig zu vermeiden. Von dieser aufgeklärten, durchtherapierten Gesundheit aber seien wir, wie es heißt, noch weit entfernt. So klagen wir weiter geschwätzig unser Schweigen an.

Als ich mir, schon etwas genervt von der billigen und heuchlerischen Demagogie, die mit diesem Topos in österreichischen Medien seit langem im Namen der Aufklärung betrieben wird, in einem sarkastischen Essay erlaubt habe, die theoretischen Widersprüche und empirischen Paradoxien dieser pseudo-freudianischen (in Wahrheit C. G. Jungschen) Therapie zur Gesundung der österreichischen Volksseele aufzuzeigen und darüber hinaus darauf hinwies, dass die frömmlerische Warnungs- und Erweckungsprosa, die im Umkreis jeglicher Gedenkpolitik betrieben wird, oft genug das genaue Gegenteil dessen hervorruft, was sie intendiert, dass die Maxime: „Niemals vergessen!“ nicht, wie sie vorgibt zu sein, eine Friedens- und Versöhnungsformel ist, sondern in der Geschichte immer eine Kampfparole war und dass es keinen Grund gibt, anzunehmen, das sei diesmal anders, da erhob sich erst recht ein lautes Geschrei und ich wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, zu genau jener Verdrängung aufzufordern und beizutragen, deren Existenz ich bestritt (aus kategorialen, nicht aus empirischen Gründen) – also mit dem klassischen Vorwurf der „Abwehr“, mit dem die Psychoanalyse seit je sich gegen Kritik immunisiert. Ansonsten war an Argumenten nichts zu hören, nur die empörte Anklage des Verrats und der Ketzerei. (Was, dies nur nebenbei gesagt, in wissenschaftlichen Zusammenhängen einen Rückfall in vormoderne Zeiten bedeutet: Denn es ist das Kennzeichen der Modernität eines Gedankensystems, dass die Kritik an ihm nicht häresiefähig ist.)


Ich gehe nicht so weit, zu vermuten, dass hier gelegentlich ein Fall von „Schuldverliebtheit“ vorliegt (obwohl einige der prominentesten Kritiker meines „Plädoyers für das Vergessen“ aus schwer belasteten Nazifamilien stammen), und ich werde auch auf die offensichtliche Tatsache nicht näher eingehen, dass der Aufschrei vor allem aus der Bedrohung eines enormen politischen Kapitals resultiert, das seit Jahrzehnten aus dem historischen Opferstatus gezogen und, nicht nur in Österreich, sondern im Weltmaßstab, als politische Waffe eingesetzt wird, möchte Sie aber doch auf das Phänomen aufmerksam machen, dass wir es hier mit einer bemerkenswerten Fortentwicklung des bislang vertrauten Verhältnisses politischer Gruppierungen zu den sogenannten „Lehren der Geschichte“ überhaupt zu tun haben. Heute ist es nämlich vorzüglich die Linke, oder das, was sich noch dafür hält, welche diese Lehren bemüht, während es bis herauf zur politischen Moderne vor allem konservative Kreise waren, welche die normativ-traditionsbildende Kraft der Geschichte als Legitimationsquelle überkommener Institutionen beschworen (Legitimität, das hieß von alters her: gültig von alters her), und deren sogenannte „Lehren“ als Warnung vor Neuerungen benützten, indes modernistische, existentialistische und skeptische Autoren das verführerische Potential im historischen Bewusstsein erkannten und deshalb ein antihistorisches entwickelten. Dieser Affekt gegen die Geschichte zeigt sich schon in dem zitierten Aufsatz Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ ebenso wie in Jacob Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ (beide waren ja Schüler Schopenhauers) und erreicht einen Höhepunkt bei den führenden Vertretern des französischen Existenzialismus, bei Sartre und Camus, die sich, über alle sonstigen Differenzen hinweg, in ihrer Verachtung des historischen Bewusstseins einig waren – das gilt zumindest für den Sartre von „L’être et le néant“ und den Roman „La nauseé“, den er praktisch zur gleichen Zeit schrieb. Sartre war der Auffassung, dass die einzig wichtige Geschichte nur aus dem besteht, woran sich der einzelne erinnert, und dass der einzelne sich nur an das erinnert, woran er sich erinnern will. Sartre lehnt auch die psychoanalytische Lehre vom Unbewussten ab – diese Lehre gibt ja der Vergangenheit einen Existenzort in der Gegenwart jenseits unseres Bewusstseins (eben das Unbewusste), von dem aus sie in das Bewusstsein souverän interveniert – und behauptet, dass die Vergangenheit das sei, was wir von ihr im Gedächtnis zu behalten beschließen; sie besitze kein von unserem Bewusstsein getrenntes Sein. Unsere historische Vergangenheit ist daher, wie unsere persönlichen Vergangenheiten, bestenfalls ein Mythos, der unseren Einsatz auf eine bestimmte Zukunft rechtfertigt, und schlimmstenfalls eine Lüge, eine nachträgliche Rationalisierung dessen, was wir im Grunde durch arbiträre Entscheidungen und äußere Zufälle geworden sind. Albert Camus kommt in „L’homme révolté“ auf das gleiche Thema zu sprechen und zeigt, dass die Totalitarismen seiner Zeit – Stalinismus, Nationalsozialismus und Faschismus – ihren Ursprung in einer Einstellung haben, die von dem obsessiven Wunsch des abendländischen Menschen herrührt, der Geschichte einen Sinn zu verleihen oder einen aus ihr zu extrahieren. (Im Gegensatz zu dem, was man heute gern behauptet, waren sie gerade nicht „nihilistisch“!) Dieser „Sinn“ aber ist immer ein kontemporäres Fabrikat, dem historischen Material nicht autochthon entsprungen und der Geschichte abgelauscht, sondern dieser narrativ unterlegt. Was als „Lehre“ aus ihr gezogen wird, wurde ihr vorgängig introjiziert.

Es ist nämlich nicht trivial, zu sagen, die Vergangenheit existiere nur als Geschichte, versteht man das Wort „Geschichte“ im literarischen Sinn. Es gibt keine „verdrängte“ Geschichte, wohl aber gibt es umgekehrt wieder aufgewärmte Vergangenheit. Das, was gewesen ist, ist nicht, und es existiert als Imago nur dadurch, dass man es jetzt erzählt. Das Vergangene als Geschichte ist immer ein Modus der Gegenwart, es gibt keine vergangene Geschichte, Geschichte ist immer ein gegenwärtiges Phänomen – darauf verwies schon Augustinus im elften Buch seiner „Confessiones“. Nicht nur begreift jede Gegenwart sich über ihre Geschichte, die ihrerseits von ihr begriffen wird, sondern die Gegenwart ist nur in jenem Maße Resultat der Geschichte, wie die Geschichte Resultat der Gegenwart ist: Der hermeneutische Zirkel ist vitiös. In Wahrheit wählen wir, wie J.- P. Sartre gesagt hat, unsere Vergangenheit in der gleichen Weise, wie wir unsere Zukunft wählen.

Jede Erzählung als Bericht ist immer auch Konstruktion, selbst wenn sie sich noch so sehr an empirische Fakten hält, denn ohne „synthetische Einheit der Apperzeption“ produzierte sie nur, mit Kant zu reden, ein „Gewühle“. Die Einheit selber aber ist nicht empirisch, sondern gegenüber dem Material, das sie ordnet, quasi-transzendental: Die „Bedingung der Möglichkeit“ eines wie immer gearteten Zusammenhanges der pointillistischen Fakten, ja die Bestimmung dessen, was Faktum ist selber, sonst würde die historische Rede unendlich, noch über das kleinste Detail. Der Rahmen ist freilich nur quasi-transzendental, denn als historisches a priori ist er seinerseits in die Geschichte verwickelt, die er kategorisiert, und in sofern deren posteriori (Maurice Halbwachs spricht vom „cadre sociaux“, dem sozialen Rahmen). In die historische Konstruktion aber gehen Interessen ein – gegenwärtige Interessen: politische und ökonomische, ethnische und nationale, kulturelle und religiöse Interessen: „Auch Klio dichtet“ (Hayden White). (Was ist die „Wahrheit“ der Französischen Revolution, und was ihre „Lehre“ – findet sie sich bei Burke oder bei Carlyle, bei Tocqueville oder bei Marx, bei Michelet oder bei Furet?)

Daher schreibt nicht nur jede Generation ihre Geschichte neu – so als ob es da eine Substanz gäbe, die zwar mit jedem Tag und jeder Stunde mehr wird, die aber als solche, zumindest als asymptotisch erreichbares Telos, eine exakte Beschreibung ermöglicht wie ein Kristall – sondern sie hat ihre eigene Geschichte; und sie bekommt sie, indem sie sie erzählend schafft. Wenn sie darauf verzichtet, so hat sie auch keine. Aber das ist unmöglich – denn sie braucht sie für ihre gegenwärtigen Aktionen und Unterlassungen, für ihr Selbstverständnis, für ihre Identifikationen und Distanzierungen, sie braucht sie zur Legitimation und zur Polemik.

Das heißt natürlich nicht, dass Geschichte beliebig konstruierbar wäre. Die narrative Konstruktion ist an Empirie gebunden und wird von ihr korrigiert, unter Umständen falsifiziert; insofern gibt es „falsche Geschichten“. Aber die Zahl der möglichen Geschichten, selbst bei konstantem empirischen Material (also ohne Änderung der „Forschungslage“), und damit die Zahl derer, welche die Chance haben, als richtige anerkannt zu werden, ist prinzipiell indefinit. Welche realiter sich durchsetzt, hängt ab von den Machtverhältnissen in den Bildungsinstitutionen und Massenmedien. Am deutlichsten ist das an den jeweiligen Nationalgeschichten zu sehen: Jede Nation ist immer auch Indoktrination, und die französische Geschichte Österreichs wird stets eine andere sein als die österreichische Geschichte Österreichs, zumindest solange es Österreich und Frankreich als Nationen gibt. Die Vergangenheit hat keine ontologische Dignität, sie ist als Geschichte eine kulturelle Schöpfung. In keinem Gedächtnis ist die Vergangenheit als solche aufbewahrt, sondern nur das, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem jeweiligen Bezugsrahmen rekonstruiert“ (Maurice Halbwachs), und Hans Blumenberg meinte lakonisch: “Es gibt keine reinen Fakten der Erinnerung“ - nicht einmal des Individualsubjekts. Aber nur das Individualsubjekt hat überhaupt, wie gesagt, Erinnerung, und sie ist an dessen Lebenszeit gebunden.

Alle politischen Begriffe, sagt Carl Schmitt, sind polemische Begriffe. Und da die Geschichte ein wesentliches Reservoir, ja der eigentliche ideelle Fundus politischer Kämpfe ist, dessen sie nicht entbehren können, das motivierende ideologische Reservoir für ihre Argumentationen und Disputationen, für ihre Angriffe und Verteidigungen, für ihre Sinngebungen und Rechtfertigungen, ist es nach dem Gesagten selbstverständlich, dass auch alle historischen Begriffe, Theorien und Kategorien, alle historiographischen Erzählungen „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold Ranke), polemischen Charakter haben: Sie dienen der Legitimation und Delegitimation gegenwärtiger weltanschaulicher, letztlich politischer Positionen. Und sie dienen diesem Zweck niemals besser, als wenn sie sich dieser Funktion gar nicht bewusst sind und sich selbst als rein wissenschaftlich, deskriptiv und wertfrei verstehen. Wenn sie sich dann noch mit der je herrschenden Moral verbünden, oder besser gesagt: diese zwanglos integrieren, ist ihnen der Erfolg nur schwer zu nehmen – vorläufig, bis zur nächsten weltpolitischen Wende oder zumindest bis zur nächsten Erschütterung des politischen Machtgefüges. Daher ist Geschichte nicht die originale Quelle eines Sinns, einer Lehre, einer Mahnung, sondern immer nur deren Echo. Sie ist in der säkularen Moderne der Ort der Sinngebung des Sinnlosen (Theodor Lessing); und sie ist immer ein politisches Instrument.

In seinem Traktat: „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ von 1929 erinnert Carl Schmitt daran, „dass alle geschichtliche Erkenntnis Gegenwartserkenntnis ist, dass sie von der Gegenwart ihr Licht und ihre Intensität erhält und im tiefsten Sinne nur der Gegenwart dient, weil aller Geist nur gegenwärtiger Geist ist... An zahlreichen berühmten Historikern der letzten Generation haben wir die einfache Wahrheit noch vor Augen, und es gibt heute niemanden mehr, der sich durch Materialhaufen darüber täuschen ließe, wie sehr alle geschichtliche Darstellung und Konstruktion von naiven Projektionen und Identifikationen erfüllt ist.“

Schärfer noch hat diesen Sachverhalt der große französische Rationalist Paul Valéry in seinem kurzen Text „Über Geschichte“ im Jahre 1927 formuliert, der ihn in eine heftige Diskussion mit Historikern verwickelte. „Die Geschichte“, schrieb Paul Valéry, „ist das gefährlichste Elaborat, das die Chemie des Intellekt produziert hat. Seine Eigenschaften sind allbekannt. Es bringt die Völker ins Träumen, versetzt sie in Rausch, gaukelt ihnen eine Vergangenheit vor, übersteigert ihre Reflexe, hält ihre alten Wunden am Schwären, stört sie in ihrer Ruhe auf, treibt sie zu Größenwahn oder auch zu Verfolgungswahn und macht, dass die Nationen verbittert, auftrumpfend, unausstehlich und eitel werden.

Die Geschichte rechtfertigt, was immer man will. Sie lehrt schlechterdings nichts, denn es gibt nichts, was sich mit ihr nicht belegen ließe. Was wurden nicht schon Bücher geschrieben mit dem Titel: ‚Die Lehren aus dem und dem...’! Nichts lachhafter, als im nachhinein von Ereignissen zu lesen, die auf Ereignisse folgen mussten, die von diesen Büchern im Sinne des Zukünftigen gedeutet wurden... Nichts wurde mehr durch den letzten Krieg (und Valéry spricht vom 1. Weltkrieg!, R.B.) zerstört als der Anspruch auf Voraussage und Warnung. Aber die historischen Kenntnisse waren doch vorhanden, oder?“

Und trotzdem, dessen können wir sicher sein: Jetzt, da das „Great Game“ in eine neue Phase getreten ist, wird man wieder die Geschichte und ihre Lehren bemühen zur Mobilisierung des Massenbewusstseins. Das wird eine andere Geschichte und das werden andere Lehren sein als vor dem 11. September, aber sie werden genauso objektiv sein und stimmen – und die Medien werden sie verbreiten.


PS. Der kokette Sophismus des George Santayana: „Wer sich der Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie wieder zu durchleben“, fungiert heute, bis zum Überdruss wiederholt, als pseudo-axiomatische Basis für alle Sorten von „Vergangenheitspolitik“. Gegen das popularfreudianische Dogma ist freilich schon jene empirische Erfahrung zu halten, die Alexis de Tocqueville in den „Souvenirs“, seinen Aufzeichnungen über die Revolution von 1848, prägnant so formuliert hat: „Ich habe immer beobachtet, dass man in der Politik häufig untergeht, weil man ein zu gutes Gedächtnis hat“ – eine Beobachtung, die sich angesichts der „furchtbaren Ursprünglichkeit der Tatsachen“ (Tocqueville) beliebig oft wiederholen lässt. Lethe ist ein Heilmittel.

PPS. Während im Nahen Osten jahrtausendealte „kollektive Gedächtnisse“ jeweils mit Recht sich gegenseitig zerfleischen und während in Europa das Erinnerungsgeschäft blüht, rief der afghanische Interimspräsident Hamid Karsai bei seiner Amtseinführung vor dem Großen Rat am 22. Dezember 2001 dazu auf, „die schmerzliche Vergangenheit zu vergessen“, um das zwanzigjährige Schlachten in seinem Land zu beenden. Vielleicht hört man auf ihn. In Afghanistan.

o.univ.Prof.Dr.Rudolf Burger ist Vorstand der Lehrkanzel für Philosophie
und Rektor der Universität für angewandte Kunst in Wien