Buchbesprechungen II

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von Dr. Beate Hiltner-Hennenberg

Herbert Zeman, Johann Nepomuk Nestroy, Holzhausen Verlag, Wien 2001. 354 S., geb., Abb., € 29.-. ISBN 3-854-93035-6.

Zum 200. Geburtstag von Johann Nepomuk Nestroy hat sich die deutschsprachige, allen voran die austriakalische Germanisten- und Theaterwissenschaftlerzunft mächtig ins Zeug gelegt. Zu recht, denn im Umfeld der Nestroy-Forschung gab es zahlreiche weiße Flecken. Nun hat, neben Wendelin Schmidt-Denglers Nestroy. Die Launen des Glücks (Verlag Zsolnay, Wien 2001) und Renate Wagners Nestroy zum Nachschlagen. Sein Leben - Sein Werk - Seine Zeit (Styria Verlag, Graz 2001), auch der Ordinarius für neuere deutsche Literatur mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Literatur an der Universität Wien, Herbert Zeman, vor allem das künstlerische Werden und Wirken Nestroys unter die Lupe genommen.

Dabei hat er nicht nur jedes einzelne der über 80 Bühnenstücke - die teils das Potential haben, noch unter heutigen Bedingungen zu bestehen – besprochen und dabei ihrer Satire und Komik sowie ihrem Witz gewürdigt. Neben der Inhaltsangabe der Nestroyschen Theaterstücke hat Zeman eine fundiert recherchierte Biografie vorgelegt, wobei vor allem die Nachzeichnung der Nestroyschen Jugendjahre – angereichert durch unveröffentlichte Dokumente - für Interesse sorgen dürften.

Völlig neu das Hervorstreichen Nestroys als Konzert- und Opernsänger. Endlich steht es schwarz auf weiß: Dass Nestroy bereits mit siebzehn Jahren und danach in den Jahren 1819 bis 1822 regelmäßig in Konzerten als Chorist und Solist auf der Bühne stand. Am 17. Februar 1819 etwa entschuldigt er sich in einem Brief beim Comittée des großen Musickvereins: Er müsse den "Singpart" zurückschicken, da er gerade von einer Krankheit genesen sei, aber das Haus noch nicht verlassen dürfe. Er werde aber fürs nächste "Gesellschafts=Concerte" wieder zur Verfügung stehen und in "drey oder vier Wochen" bei den "Musicken im rothen Apfel wieder zu Diensten" sein. der rote Apfel war das Quartier des leitenden Ausschusses der Musikfreunde und der Singschule.

Kenntnisreich weist Zeman auf den Stellenwert der Musikeinlagen und Couplets in Nestroys Stücken hin, deren Koloraturen und Tonumfang von den Darstellern der Zentralfiguren nicht lediglich geschulte, sondern voll ausgebildeten Stimme forderten. Er verweist auch auf Analogien und Verwandtschaften in Figurenkonstellationen im zeitgenössischen Musiktheaterrepertoire, das Nestroy als längjähriger Opernsänger im Blut haben musste. Minutiös wurden dafür Aufführungsberichte studiert, Briefe und andere einschlägige Quellen ans Licht der Öffentlichkeit gehoben, etwa aus dem Archiv des Musikvereines, die beweisen, in welchem Rahmen der Autor von Volksstücken, Possen, Travestien und Parodien sowie deren Gesangseinlagen auf Erfahrungen als Bassbariton-Solist der Wiener Hofoper zurückgreifen konnte.

Dialektischer Witz, scharfe Ironie, abgründige, subtile Satire standen bei Nestroy neben absurder, urwüchsiger Komik. Alle seine Werke sind geprägt von desillusionierender, absoluter Skepsis gegenüber menschlichem Verhalten und gesellschaftlichen Entwicklungen jeglicher Art. Unerbittlich zeigt er in seinen Werken menschliche Abgründe und Schwächen, prangert sie an, doch ist stets Sympathie für die kleinen Leute spürbar, letztlich auch eine tiefversteckte moralische Utopie. So, wie er sie selbst gerne erlebt hätte?

Beate Hennenberg

Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Band 1: Die Griechen – von Homer bis Sokrates; Band 2: Die Griechen – von Planton bis zum Hellenismus. Beide: Verlag Metzler, Stuttgart 2001.

Auch wenn bei diesem Projekt erst das Bergfest zu feiern ist – zwei Bände sollen und werden noch folgen –, so lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die Aufbereitung der Geschichte der politischen Ideen ein umfassend und dennoch konzis gebündeltes Unterfangen geworden ist. Der Autor, Professor für Philosophie und Politische Theorie an den Universitäten Augsburg und Basel, bereitet die informationsreiche Chronologie so auf, dass sie nicht nur Studierenden und Fachgelehrten zum Gewinn wird. Sondern: Nachdenken über Politik schadet ja nie, daher sind die Bücher, die auch den Totalitarismus untersuchen, grad‘ in der heutigen Zeit jedem politisch Interessierten zu empfehlen.

Beate Hennenberg

Heinrich Breloer; Horst Königstein, Die Manns. Ein Jahrhundertroman, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2001.

Schon Marcel Reich-Ranicki stellte fest, dass es „in Deutschland in diesem Jahrhundert keine bedeutendere, originellere und interessantere Familie gegeben hat als die Manns. Das Erste (in Deutschland) und Arte drehten die Familienchronik neu – authentisch, opulent und spannend. Heinz Breloer erzählt gemeinsam mit Horst Königstein die Schicksale der Manns, der berühmtesten Künstlerfamilie des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche farbige Bilder aus dem gleichnamigen Film sowie historische Fotos bereichern die Lektüre.

Heinrich Breloer, Unterwegs zur Familie Mann. Begegnungen, Gespräche, Interviews, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2001.

Breloers Arbeiten sind wahnsinnig spannend, dort geht er der Geschichte des jungen Brecht nach, hier spürt er dem Leben des „Zauberers“ Thomas Mann nach. Er stellt so herrliche Fragen wie: Wie versuchen Klaus und Erika, ihren Gegenentwurf zu dem des Vaters durchzusetzen – Leben und Werk nicht als einander ausschließende Größen zu betrachten, sondern miteinander zu vereinbaren? Über 60 Zeitzeugen wurden es auf der langen Geschichte der Familie Mann. Breloer hat es – in dem Buch ist es festgehalten – einmalig gut verstanden, den auf der ganzen Welt verstreuten – und durch die Person Thomas Mann verbundenen – Menschen ein Forum zu geben, ihre Geschichte zu erzählen und Neues, Interessantes, Facettenreiches ans Licht der Öffentlichkeit zu heben.

Beate Hennenberg

Rupert Lay, Charakter ist kein Handicap. Persönlichkeit als Chance, Urania Verlag, Berlin 2002.

Lay definiert in seinem überschaubaren, gut gegliederten Buch zunächst das Phänomen Charakter; er stellt ihn als ein kommunikatives Ereignis dar, denn er wird den Menschen meist von der Außenwelt zugesprochen. Dann berichtet er anschaulich in Fallbeispielen von Politikern und Managern, eine Berufsgruppe, bei der sich oft Charakterlosigkeit breit macht, die umso schlimmer wirkt, wenn sie mit sozialer und formaler Intelligenz verbunden ist. Diese sogenannten Führungskräfte wissen sich nur einem verpflichtet, dem Erfolg, und sind bereit, um seinetwillen Hunderte von Menschen ins Abseits der Armut oder der Arbeitslosigkeit zu scheuchen. Den Besitz von Charakter halten sie für ein Zeichen karriereschädigender Schwäche. Lay predigt nun das Leben aus erster Hand, stellt primäre und sekundäre Tugenden vor und weist auf Merkmale hin, die einen echten Lebenserfolg bedeuten können. Positiv hervorzuheben sind die Notizzeilen im Fließtext für eigene Anmerkungen, die – manchmal recht dick aufgetragenen – Fallbeispiele und die Tabellen.

Beate Hennenberg


Kleines deutsches Wörterbuch, herausgegeben von Florian Illies und Jörg Bong, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2002.

Das Kleine deutsche Wörterbuch kommt zu einem günstigen Zeitpunkt auf den Markt, denn gerade hat das ZDF mit seiner groß angelegten und gut recherchierten DDR-Saga Liebesau – die andere Heimat Altbundesländler und Neubundesländler zur Sicht über den eigenen Tellerrand aufgefordert. Es sind vor allem Wortverbindungen, leere Hülsen des Sozialismus, der ja real nie existierte, über den man nun so grimmig lachen könnte, wäre man nicht selbst dabei gewesen. In kleinen oder mittleren Essays werden Sentenzen wie „Im Endeffekt“, Worte wie EOS, Altstoffsammlung oder Ampelmännchen noch einmal liebevoll aus der Versenkung geholt. Das berüchtigte „Das ist Fakt“ wurde zwar vergessen (wodurch man sich unwissentlich als Ossi outen konnte im Westen), kann aber in einer zweiten Auflage mal eingearbeitet werden.

Es ist Illies zu danken, dass er nicht nur Besserwessis die gedrechselten Skurrilitäten erklären lässt, sondern dass er die Autoren mischte. Dankenswerterweise wird die DDR bei dieser Entblätterung nicht banal vorgeführt, sondern es ist ein echtes Stück Arbeit, sich noch einmal mit ihr – durchaus intellektuell anspruchsvoll – zu beschäftigen.

Beate Hennenberg

Marlene Streeruwitz, Partygirl. Roman, Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2002.

Marlene Streeruwitzs derzeitige Produktivität ist bemerkenswert, nutzt sie doch das Vermögen, Alltäglichkeiten, Urlaubserlebnisse oder Forschungsreisen literarisch auf hohem Niveau umsetzen zu können. Es ist über einen neuen Roman von ihr zu berichten, der im kalten Herbst des Jahres 2000 spielt – in New York. Der Story ist in mehrere Rahmen verpackt, da gibt es vor allem Rückblicke auf eine österreichische Baden bei Wien, das den Knotenpunkt einer atemberaubenden Familiengeschichte darstellt. Streeruwitz’ typische Erzählweise, die verknappte Prosa, auf der schon mal Verb oder Subjekt in den Sätzen wegfallen, drängt das Geschehen nach vorn.

Beate Hennenberg

Stephan Stompor, Jüdisches Musik- und Theaterleben unter dem NS-Staat. Schriftenreihe des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik Bd. 4, herausgegeben von Andor Izsák unter Mitwirkung von Susanne Borchers (=Europäisches Zentrum für Jüdische Musik 2001), Hannover 2001.

Studie über den Jüdischen Kulturbund

Von einem neuen wichtigen Buch, das sich mit dem Musik- und Theaterleben während der nationalsozialistischen Epoche beschäftigt, ist zu berichten. Vorweg: Es ist als gutes Zeichen zu sehen, dass sich in jüngster Zeit zahlreiche Publikationen unter so verschiedenen Blickwinkeln mit dieser Materie, die wohl auch in mehreren Jahren noch nicht end- und restgültig erforscht sein wird, beschäftigen.

Es gab jüngst die faktenreichen Darstellungen über exilierte Künstler und Musiker der Autorin Barbara von der Lühe (Die Emigration deutschsprachiger Musikschaffender in das britische Mandatsgebiet Palästina, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main1999 und Die Musik war unsere Rettung! Die deutschsprachigen Gründungsmitglieder des Palestine Orchestra, Verlag Mohr Siebeck, 1999) wie auch das Werk von Peter Peterson und Hanns-Werner Heister, Exil ist eine Krankheit (Arbeitsgruppe Exilmusik Hamburg, Lebenswege von Musikerinnen im Dritten Reich und im Exil, Verlag von Bockel, Hamburg 2000. Andreas Nachama beschäftigte sich mit Juden in Berlin (Verlag Henschel, Berlin 2001). Peter Schneider behandelte das Thema eines jüdischen Musikers (Und wenn wir nur eine Stunde gewinnen. Wie ein jüdischer Musiker die Nazi-Jahre überlebte, Verlag Rowohlt, Berlin 2001) eher belletristisch-biografisch. Allen Autoren ist eigen, dass sie dem Schlaf des Vergessens trotzen, dass sie die Menschen von heute aufzurütteln, sensibel zu machen versuchen.

Der Autor

Das Aufrütteln wie auch das Dokumentieren der damaligen Zustände unter den Kulturschaffenden der NS-Zeit anhand von Fakten ist auch das Hauptanliegen von Stephan Stompor (1931-1995). Der ehemalige Dramaturg an den Opernhäusern Leipzig und Berlin, der sich Zeit seines Lebens mit dem Bewahren von zu Unrecht vergessener Dokumente beschäftigte (er gab u.a. die Briefe Otto Klemperers heraus, weiterhin ein Autorenhandbuch und eine Schriftensammlung über das Musiktheater von Walter Felsenstein, Joachim Herz und Götz Friedrich), widmete einen bedeutenden Teil seiner Forschungstätigkeit der Verflechtung von Musiktheater und Politik in der NS-Zeit. Bereits 1994 erschien sein Buch Künstler im Exil als erster Teil einer thematischen Trilogie. Die anderen beiden Teile blieben unveröffentlicht, da Stompor zuvor seiner schweren Krankheit unterlag. Mit dem jetzt vorliegenden Buch ist der zweite Teil der Trilogie zugänglich. Ein umfangreiches Werk über das öffentliche Musiktheater im NS-Staat (sowie die Truppenbetreuung) und in der unmittelbaren Nachkriegszeit soll demnächst erscheinen. Es ist dies ein fast 1000-seitiges Manuskript, das zahlreiche ähnliche Bemühungen nicht nur in den Schatten, sondern vermutlich aufheben wird. Es sollte bald erscheinen, beschäftigen sich doch andernorts diverse Forschungseinrichtungen mit fast dem gleichen Thema, und Stompors Manuskript scheint mit Abstand das am gründlichsten recherchierte Material zu besitzen.

Zum Inhalt

Das Buch über die Kulturbund-Arbeit ist in zwei Hauptkapitel gegliedert. Es beinhaltet ein Kapitel zu Opernaufführungen innerhalb des Jüdischen Kulturbundes (Teil I), ein Kapitel zu den Improvisierten Opernaufführungen sowie Konzerten in Ghettos und Konzentrationslagern (Teil II) und einen großen Anhang, der sich beispielsweise den Mitgliedern in den Orchestern und Kammermusik-Ensembles im Ghetto Theresienstadt, denen der Lagerkapelle Buchenwald, des KZ Dachau, des Lagerorchesters Mauthausen, des Orchesters in Auschwitz I, denen des Orchesters Birkenau und des Frauen-Orchesters in Auschwitz-Birkenau widmet. Anmerkungen, ein Register und der Bildnachweis beschließen den überaus materialreichen Band.

Herausgaber Izsàk stellt bereits im Vorwort fest, dass „immer etwas Schleierhaftes über dem Gespräch herrscht, wenn jemand das Wort Kulturbund erwähnt. Man erstarrt und weiß eigentlich gar nicht, wie man sich fühlen soll“. Denn der Jüdische Kulturbund stellte, so wird bei Izsák ausgeführt, für viele Menschen das Symbol dar für die Beraubung der künstlerischen Freiheit, für die Zerstörung der menschlichen Existenz als gleichwertiger Kollege und Rivale in der Künstlergemeinschaft. Aber er hatte zunächst eine durchaus gemeinschaftsbildende, stabilisierende Wirkung.

Zeitzeuge Alfred Dreifuß hat ein Vorwort beigetragen. Er war bis Ende 1932 Dramaturg der Jungen Volksbühne in Berlin, an der er, Volljude, anstelle des Geisteswissenschaftlers nun als Beleuchter im Jüdischen Theater bis zu seiner Verhaftung 1935 arbeitete. Als er 1939 aus Buchenwald entlassen wurde, ging er ans Jüdische Kulturbundtheater in der Berliner Kommandantenstraße. Dann begannen seine Exiljahre. Dreifuß meint, dass die Erinnerung an die Kulturarbeit unter so schwierigen und ungewöhnlichen Bedingungen bewahrt werden muss. – Und Stompors Dokumentation ist ein Beitrag dazu. Er hat sich für die Vorarbeiten jahrelang in Archive vergraben, hat recherchiert, geprüft, verworfen, gegliedert, gedacht, konzipiert und geschrieben.

Musikalische Aufführungen 1933 bis 1939

Herausgekommen ist ein material- und dokumentenreiches Werk, dass die szenisch-musikalischen Aufführungen in Ghettos und Konzentrationslagern gründlich erforscht; basierend auf der Studie von Herbert Freeden, der 1964 die Geschichte des Jüdischen Kulturbundes und dessen Schauspielarbeit aus eigener Anschauung festhielt.


Ohne Frage waren und sind Musizieren und Musikhören wie auch das Theaterspiel und der Tanz wesentliche Bestandteile des Lebens jüdischer Menschen; grad unter ihnen entwickelten sich besonders viele hervorragende Instrumentalisten, Sänger, Dirigenten, Komponisten, Schauspieler und Regisseure. In Deutschland haben Künstler jüdischer wesentlich zum Reichtum der Kultur beigetragen. 1933 begann deren gewaltsame Unterdrückung, Vertreibung und schließlich Ausrottung. Nach Beginn des Nazi-Regimes gelang es zunächst, trotz vieler Beschränkungen und Diskriminierungen, eine rege musikalische Tätigkeit aufrechtzuerhalten. Zu deren Zentrum wurde der Jüdische Kulturbund, der den aus Theatern, Orchestern, Konservatorien und Rundfunksendern entlassenen Künstlern Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten bot, diese gegenüber den Nazi-Dienststellen durchsetzte, und der wiederum künstlerische Erlebnismöglichkeiten bot und so der Demoralisierung begegnete. Im Zusammenwirken mit dem Jüdischen Kulturbund und von diesem unterstützt, setzten jüdische Chöre, bestehende und neue Orchester und Kammermusikgruppen sowie die zunächst noch in Deutschland verbleibenden Solisten, Dirigenten und Komponisten ihre – immer mehr durch Behörden eingeschränkt – Tätigkeit fort. Jüdische Organisationen, religiöse Gemeinschaften und Künstler entwickelten innerhalb der verordneten Beschränkungen ein reges und vielgestaltiges kulturelles Leben. Der Kulturbund Deutscher Juden entstand im Juli 1933, im April 1935 veranlassten die zuständigen Nazi-Dienststellen eine Umbenennung in Jüdischer Kulturbund in Deutschland. Die ghettoartige kulturelle Arbeit, so Stompor, wurde von den Nazis zunächst geduldet und sogar teilweise für Propaganda gegenüber dem Ausland geduldet.

Nach dem Terror vom November 1938 wurde diese Arbeit immer mehr erschwert; ab Sommer 1939 konnten nur noch Konzerte und einige Schauspielaufführungen erfolgen. Im Kulturbund Berlin hatte es bis dahin neben etwa 50 Schauspiel-Inszenierungen 19 Opern- und fünf Operetten-Inszenierungen gegeben, außerdem Kabarett- und Tanzveranstaltungen! Stompor hält fest, dass bis zuletzt in den Konzerten immer wieder neu entstandene Werke vorgestellt wurden und dass insbesondere die in Deutschland verbliebenen jüdischen Komponisten voller geradezu trotziger Aktivität waren. In der letzten Phase der jüdischen Kulturarbeit gab es zwischen den Künstlern und ihrem Publikum eine Gemeinschaft in zunehmender Todesgefahr.

Alle akademischen Schichten waren am Kulturbund-Leben beteiligt, auch die Pädagogen. Ein Exkurs: Der Kulturbund deutscher Juden Rhein-Main wurde 1934 in Frankfurt gegründet. Ein Aufruf hielt die Ziele fest: „Unser Programm umfasst Musik, Theater, Vortrag, bildende Kunst, Arbeitsbeschaffung für alle künstlerischen Berufe, Fortbildung und Ausbildung jüdischer Musiker. Hier erwächst den Jugendverbänden ein zeitgemäßes Aufgabengebiet. Wir wenden uns an alle[...]“. Unter Leitung von Hans-Wilhelm Steinberg wurde ein Orchester aufgebaut. Als Konzertmeister wirkte hier unter anderem Hans Bassermann, ein langjähriger Professor am Konservatorium in Leipzig.

Musik in Ghettos und Konzentrationslagern

Insofern war die Arbeit dieses Kulturbundes bis 1939 wie das Leben in einer (befristeten) Enklave. Musikalische und szenische Aufführungen gab es danach auch noch in den Ghettos Theresienstadt, Wilna, Warschau, Lodz und Amsterdam sowie in den Konzentrationslagern Buchenwald, Sachsenhausen, Ravensbrück, Dachau, Auschwitz und Westerbork in den Jahren 1941 bis 1944, teils illegal, teils geduldet und teils sogar von der SS angeordnet.

Von dieser Kulturarbeit gibt es noch weniger Zeugnisse als zu den Aufführungen im Jüdischen Kulturbund. Stompor hatte sich mit seiner möglichst lückenlosen Chronologie keine leichte Aufgabe gesetzt. Er wertete zahlreiche Tageszeitungen, Beschreibungen in Archiven, Nachlässe, Sammlungen aus, sprach mit überlebenden Beteiligten und schuf so eine in Text und Bild erstmalige Dokumentation.

Beate Hennenberg

Alexandra Scheibler, „Ich glaube an den Menschen“. Leonard Bernsteins religiöse Haltung im Spiegel seiner Werke (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, Bd. 22), Verlag Olms, Hildesheim; Zürich; New York 2001.

Eine neue wissenschaftliche Untersuchung zu Lennie Bernstein?!

Über den Komponisten, Dirigenten, Musikdidakten, Musikbegeisterer, Womanizer, Exzentriker und tiefen Grübler Leonard Bernstein gibt es zahllose ältere und neuere musikologische, literarische wie auch poetische schriftliche Niederlegungen, Notenmaterial aus seiner Feder, eine Fülle von Primärquellen, Fernsehproduktionen, Interviews, Texte aus Bernsteins Feder und CD-Booklets; diese schweben erwartungsgemäß auch im Internet.

Die Anzahl der Treffer bei der Eingabe des Namens in den Internet-Suchmaschinen sprengt jegliche Rahmen: Ob es um Aufnahmen diverser Labels geht, um Fotos, die ins Netz gestellt sind, ob ein Berlin-Hellersdorfer Musikgymnasium den Namen Leonard Bernstein verliehen bekommt, ob Bernstein-Videos bei eBay zu kaufen sind – Lennie Bernstein ist reichlich zehn Jahre nach seinem Tod fast aktueller denn je. Fast. Denn auch zu Lebzeiten schon war er eine Legende.

Zur Vita

Leonard Bernstein (1918-1990) gehört zweifelsohne zu den bedeutendsten Musikerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Mit 25 Jahren, am 24. August 1943, trat er mit der Uraufführung seines Songzyklus I Hate Music! Zum ersten mal als Komponist an die Öffentlichkeit. Vielleicht hätte er den Schwerpunkt seines Musikerdaseins mehr auf das Komponieren gelegt, wenn nicht am 14. November desselben Jahres sein Leben eine entscheidende Wendung genommen hätte. Der junge Bernstein sorgte für Furore, als er für den erkrankten Bruno Walter einsprang und in New York ein Konzert mit den Philharmonikern dirigierte. Der außerordentliche Erfolg des Konzertes machte ihn von einem Tag auf den anderen berühmt und bildete den Anfang einer international erfolgreichen Dirigententätigkeit. Was die meisten nicht wissen: Bernstein absolvierte auch ein zweijähriges geisteswissenschaftliches und musiktheoretisches Studium an der Harvard University.

Zahlreiche Wissenschaftler haben sich seines Werkes unter verschiedensten Blickwinkeln angenommen, dem großen Thema seiner Religiosität jedoch hat bislang hat keine akademisch fundierte Studie beikommen können.

Das Anliegen Scheiblers

Hier setzt die Autorin, eine gebürtige von Oppenheim, an mit vorliegender Untersuchung, die sich den jüdischen Wurzeln Bernsteins, des Verhältnisses Bernstein und Israel, der Nähe zu Gustav Mahler, der Auseinandersetzung mit christlichen Glaubensinhalten, dem Thema Musik als Form der Religionsausübung sowie dem komplexen Bereich Künstlerbild, Weltanschauung und religiosphilosophische Aspekte widmet. Erstmals ist sie der Frage nach religiösen Aspekten in dessen Leben und Werk nachgegangen:

Da ist zum einen Bernsteins jüdischer Hintergrund zu nennen. Beide Elternteile waren ukrainische Flüchtlinge und gehörten dem chassidischen Judentum an. Insbesondere der aus einer Rabbinerfamilie stammende Vater Leonard Bernsteins war gläubiger Jude und stets darum bemüht, seine drei Kinder im Sinne der jüdischen Religion und Tradition aufwachsen zu lassen. Und dass sich Leonard Bernstein auch aus eigener Initiative mit religiösen Inhalten beschäftigte, geht aus zahlreichen in Universitäten, Kirchen und Synagogen gehaltenen Ansprachen sowie aus seinen publizierten Schriften hervor. Diese verweisen auf sein Interesse an jüdischen, christlichen und religionsphilosophischen Themen.


Das Werkverzeichnis

Bei der Betrachtung des Werkverzeichnis fällt auf, dass viele seiner Kompositionen mit jüdischen, biblischen und kultischen Titeln versehen sind. Die spezielle Vorgehensweise, sämtliche Kompositionen mit Überschriften zu versehen, lässt sich, so die Autorin, auf Bernsteins begeisterte Auseinandersetzung mit Sprache und Text zurückführen. Folgende Werke wurden aufgrund ihrer Thematik in die wissenschaftliche Arbeit Scheiblers einbezogen: Psalm 148 für Gesang und Klavier (1935), 1. Symphonie Jeremiah (1942), Hashkiveinu für Kantor, Chor und Orgel (1945), 2. Symphonie The Age of Anxiety (1949), 3. Symphonie Kaddish (1963), Chichester Psalms für gemischten Chor, Knabensolist und Orchester (1965), Mass „A Theatre Piece For Singers, Players and Dancers“ (1971), Dybbuk Suites Nr. 1 und 2 (1974), Halil, Nocturne für Soloflöte, Piccolo, Altflöte, Schlagzeug , Harfe und Streicher (1981) und Concerto for Orchestra „Jubilee Games“ (1986-89).

Scheibler richtet sich in ihrer Auswahl der Werke danach, ob den Werken eine – wie auch immer gerichtete – Thematik religiösen Glaubens zugrunde liegt: „Meist wird dieser religiöse Inhalt durch einen Text vermittelt. Dieser Text ist entweder als Gesang unmittelbar enthalten oder aber dient der jeweiligen Komposition als literarische Vorlage. In manchen Werken sind beide Formen der textlichen Nutzung vereint, wie beispielsweise in der 1. Symphonie Jeremiah: Allen drei Sätzen liegt die Weissagung des Propheten Jeremiah und die Zerstörung Jerusalems als alttestamentarische Vorlage zugrunde“ (S. 11). Wichtig für die Autorin ist auch die Tatsache, dass die religiöse Thematik der genannten Werke sich nicht allein auf die textliche Vorlage beschränkt, sondern dass diese im Notentext in den allermeisten Fällen nachweisbar ist.

Leonard Bernstein und das Judentum?

Warum wählt die Autorin nicht den prägnanteren und schlagkräftigeren Titel „Leonard Bernstein und das Judentum“? Denn die Aufzählung der Werke oben könnte implizieren, dass Bernstein sich vorwiegend mit jüdischen Inhalten beschäftigt hat. Scheibler zeigt, dass viele religiöse Gedanken und Ansichten Bernsteins nicht allein in Zusammenhang mit jüdischem Gedankengut stehen. Aber: „Die Dominanz jüdischer Thematik innerhalb der religiösen Werke lässt erkennen, dass sich Bernstein Zeit seines Lebens seiner jüdischen Wurzeln bewusst war und sich intensiv mit dem jüdischen Gedankengut beschäftigt hat“ (S. 13). – dennoch zeigt sich, dass seine religiöse Haltung inhaltlich nicht allein auf jüdische Elemente beschränkt war.

Bernstein und Israel

Bernsteins Begeisterung für den Staat Israel und die daraus resultierende enge Verbindung zum Israel Philharmonic Orchestra wird in Scheiblers Diskussion ebenfalls einbezogen. Dabei gilt es aufmerksam zu machen, dass Interesse und Zugehörigkeit zum Judentum einerseits auf einer religiösen Ebene, andererseits auch auf einer nationalen und ethnischen bestehen konnte. In den Diskussionen im Buch um Bernsteins Beziehungen zu Israel sind beide Aspekte gegenwärtig. Halil und Concerto for Orchestra, beide in Israel entstanden, werden im Buch eingehend unter diesen Prämissen diskutiert.

Bernstein und das Christentum

Ein anderer Aspekt ist Bernsteins Interesse am Christentum. Die Auseinandersetzung mit christlichem Gedankengut ist sowohl in seinem Werk als auch in dessen Reden und Schriften festzustellen. Das Musiktheaterstück Mass liefert etwa eine geeignete Diskussionsgrundlage. Und: „Sowohl die 3. Symphonie Kaddish als auch Mass sind zur Benennung verschiedener religiöser Leitgedanken geeignet und nehmen deshalb innerhalb der Werkbeschreibungen einen grossen Raum ein“ (S. 14). Christliches Gedankengut, so Scheibler, greift Bernstein in Ansprachen und Schriften auf, und dabei auffallend ist der Gebrauch der Begriffe „Glaube“, „Liebe“, „Hoffnung“.

Bernstein und Gustav Mahler

Ein Exkurs über einige Affinitäten von Leonard Bernstein und Gustav Mahler stellt weitere Aspekte in Bernsteins religiöser Haltung zur Diskussion. Aus seinen Schriften geht hervor, dass er musikalische Werke oder auch Komponisten, die er besonders schätzte, in einen religiösen Kontext stellte. Diesen Kontext hat Scheibler mit wichtigen Ergebnissen erörtert.

Fazit

Für die vorliegende Abhandlung wurden eine Fülle von Primär- und Sekundärliteratur ausgewertet; wobei Scheibler auch ergänzende Literatur zum Judentum, Christentum, zur Kabbalah und zu religionsphilosophischen Aspekten befragte. Bernsteins Religiosität war bislang ein kaum wahrgenommenes Thema; etwas, was nicht relevant war. Dass dem nicht so ist, dass Bernsteins religiöse Haltung sehr wohl von jüdischen Inhalten geprägt war, und dass dabei sehr wohl Raum für andere religiöse Ideen blieb, zeigt Scheibler in ihrem seriös recherchierten, klug gegliederten Buch auf.

Bernsteins Charisma, seine ausserordentliche Fähigkeit als Dirigent und Pädagoge sowie seine Leistung für das amerikanische Musical können kaum hoch genug bewertet werden (und Bernsteins Medienwirksamkeit hat sicher auch dazu beigetragen, dass sein exzessiver Lebenswandel in die Öffentlichkeit getragen wurde, während sein kompositorisches Engagement in den Hintergrund trat).

Die vernachlässigten religiösen Aspekte nehmen in Bernsteins Leben und Werk einen höheren Stellenwert ein als bisher angenommen. Das Buch stellt heraus, wie stark Bernsteins Haltung von religiösen Inhalten geprägt war.

Beate Hennenberg