Untersuchung über den Reichtum der Nationen

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von Endre Bárdossy

 

Kardinaltugenden und Katallaktik bei Hayek

 

 

§ 1 Arbeitshypothese

§ 2 Aufgaben, die sich aus der Hypothese ableiten

 

I. Teil: Übersicht über das /Viergespann der Kardinaltugenden

 

§ 3 Besonnenheit und Maß: Von den Griechen über Nietzsche zu Sedlmayr

§ 4 Klugheit: Von den Griechen über Thomas von Aquin zu Smith

§ 5 Gerechtigkeit: Von den Griechen über Luther, Leibniz, Locke, Kant, Bloch zu Kelsen

§ 6 Tapferkeit und Mut

§ 7 Zusammenfassung

§ 8 Zeittafel der Protagonisten

 

II. TEIL: KATALLAKTIK NACH FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK

 

§ 9 Strukturverfassung von Freiheit und Marktwirtschaft

§ 10 Begriff der Gerechtigkeit nach Hayek

§ 11 Zusammenfassung

§ 12 Werke, die zum Vergleich herangezogen wurden



§ 1Arbeitshypothese

A dam SMITH hat das Allheilmittel des Freihandels nicht erfunden. Er hat ihn «nur» klug argumentierend, wahrheitsgetreu, mutig und maßvoll beschrieben. Die Strukturen des Klugen, Rechten, Mutigen und Guttemperierten waren ihm so geläufig wie an und für sich jede bürgerliche Tugend der Verlässlichkeit, Pünktlichkeit, Genauigkeit. Was einem so richtig ansteht wie eine maßgeschneiderte Tracht, darüber braucht man oft auch nicht viele Worte verlieren. Was einem so richtig in Fleisch und Blut übergegangen ist, wie eine zweite Natur, darüber braucht man sich auch keinen Kopf zu zerbrechen. Die Questiones disputandae drehen sich normalerweise um Sachen, die uns noch nicht oder nicht mehr angehen.

Die sogenannten Kardinaltugenden machen einen so selbstverständlichen Eindruck für jede wirtschaftliche Aktivität, wie auch überhaupt für den Aufbau einer jeden zivilisierten Gesellschaft, dass sie kaum einer Diskussion zu bedürfen scheinen. Das solide Werk (1776) von SMITH, der Professor der Moralwissenschaften an der Universität von Glasgow und auch tüchtiger Erzieher war, liefert uns die Beschreibung einer Gesellschaft in die Hand, die in tugendhafter Ordnung einfach gut funktionierte. Das lateinische Wort industria, industriosus, das die Runde um die ganze Welt machte, bezieht sich buchstabengetreu auf Arbeitsamkeit, Betriebsamkeit, Fleiß und Konzentrationsfähigkeit. Englands Industrielle Revolution machte sich somit auf den Weg der Arbeit anstelle des Blutvergießens. Nahezu gleichzeitig erschienen mit James WATTS (1769) Dampfmaschine KANTS kritische Schriften über die Vernunft, die Sitten und das Pflichtbewusstsein (1781). Zusammen mit der Promulgation der Verfassung der Vereinigten Staaten (1787) markieren diese Meilensteine den positiven Beginn eines neuen Zeitalters, an dessen Rand die reine Negativität der französischen Revolution (1789) und der napoleonischen Kriege geradezu einen beiläufigen und verlotterten Eindruck macht.

Die neue Welt ist nicht auf den Barrikaden von Paris oder auf dem Russlandfeldzug Napoleons auf die Welt gekommen, sondern in der Grafschaft von Lancashire und im viel beschimpften Manchester-Liberalismus mit dem maschinellen Webstuhl, der in den privilegierten Städten des Kontinents, in der Schweiz und Leiden noch auf den organisierten Widerstand der Zünfte – der Gewerkschaften von anno dazumal – stoßen musste. Während die französische Guillotine noch Köpfe trennte, räumte die Glorious Revolution auf der anderen Seite des Kanals bereits 100 Jahre (1689) zuvor mit der Praxis königlicher Charten und Monopole auf. England hat sich den Weg zur industriellen Anwendung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und zur zeitgemäßen Regierungsform der parlamentarischen Monarchie freigelegt.

Damit das Zeitalter der Moderne in der Tat beginnen könne, war die Entdeckung der Welt durch die iberische Schifffahrt eine Voraussetzung. Nicht nur auf die eigentliche Konstruktion, es kam noch mehr auf die Verbindung WATTS mit dem Fabrikanten BOULTON an: «d. h. allgemeiner ausgedrückt auf die Verbindung der wissenschaftlichen Arbeit mit dem unternehmerischen Interesse und dem notwendigen Kapital zu einer weltverwandelnden Einheit. Im demselben Jahre taucht auch erstmals der Name Technik in seiner spezifischen und eingegrenzten heutigen Bedeutung auf» . Griechisch tecnh/techná, tecniko/technikós, lat. ars, artifex, artificialis, zu Deutsch Kunst, Könner, gekonnt bedeutete bis zu diesem Zeitpunkt noch das vollendete Können auf jeglichem Gebiet:



DER Verfasser, geb. 1942 in Budapest, kannte den «Weg zur Knechtschaft» in den Nachkriegsjahren am eigenen Leib bereits als Kind. Stammt aus einer liberal und katholisch gesinnten Familie. Als Flüchtlingskind nach der «Gloriosen Revolution» in Ungarn (1956) wurde er von Alfons Plankensteiner, Professor der Philosophie, Inns-bruck, in seine Familie aufgenommen. Als Mittelschüler konnte er das Freiheitsdenken der Tiroler assimilieren. In Wien erwarb er kaufmännische Praxis im eigenen Handelsunternehmen. Als Dipl. Ing. der Bodenkultur, Wien, hat er sich im Denkstil der «Großen Gesellschaft» von heute geübt. Als leitender Angestellte der dänischen Zuckerindustrie kannte er die Zwangswirtschaft des Ostens aus Laboratoriumsnähe. Er promovierte bei den Professoren Kurt Holzer und Manfried Welan im Institut für Wirtschaft, Recht und Politik, über Ideologiekritik im engen Zusammenhang mit Hayekschen und Popperschen Ideen. Im selben Institut begann seine akademische Laufbahn (1980) als Universitätsassistent. Seit 22 Jahren ist er o. Univ. Professor an der Schwelle der Dritten zur Zweiten Welt (San Salvador de Jujuy 1982, Mendoza 1988, Argentinien). Zur Zeit auf Forschungsjahr in Öste-rreich. Der Vortrag verbleibt am Wind der Liberalität, vom großen Erbe der freien griechischen Polis «katallagh/katallagá»bis zum «Katallaktik-Begriff» Hayeks, dem Modell der Offenen Gesellschaft verpflichtet. Im Besonderen wird danach gefragt, warum funktioniert dieses Modell ungenügend, in der soziologischen Kategorie der «Randkulturen» (R. GIRTLER), wie Argentinien, Ostdeutschland, im Völkerteppich des Kaukasus, oder vor den Toren Wiens am tiefen Balkan? Anschrift: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

2 Mirgeler, Albert. 1971. Revision der europäischen Geschichte. Alber Freiburg/München. Nachdruck: Europa in der Weltgeschichte. Eine kritische Bilanz seiner Geschichte am Vorabend sei-ner späten politischen Einigung. Herder-Buch 477. 255


Was das Künstlich-Technische in eine Richtung übertrieben hat, scheint das Künstlerische in das andere Extrem zu treiben. In perfekter Übereinstimmung mit dem Historiker MIRGELER, setzt der Kunsthistoriker SEDLMAYR für den Großen Grabenbruch der Neuzeit das selbe Datum mit 1750 an. Nach dem abrupten Ende des Gesamtkunstwerks im großen Barock, der noch die Alte Welt mit den Indias Americanas in der Einheit der Katholizität verbinden konnte, lassen sich sieben Tendenzen3 in der Kunst feststellen:

  1. Die Aussonderung reiner Sphären (Purismus, Isolation): Reine Architektur, reine Zeichnung, reine Malerei. «Sie bestimmt nicht nur das Verhältnis der Künste zueinander, sondern auch das Verhältnis der Kunst zu anderen Gebieten: reine Kunst, reine Wissenschaft, reine Religion... Es kommt zur Zersplitterung der Wissenschaft in scharf gesonderte Fächer, die auf keinen gemeinsamen Mittelpunkt mehr bezogen sind. Zur Zerlegung des Arbeitsvorgangs in einzelne gesonderte Hantierungen, die nichts mehr vom Sinn des Ganzen wissen. Überall Spezialistentum. Erst jetzt bekommt der Nationalismus seine äußerste Schärfe. In dem unmenschlichen Vorgang der Umsiedlung sucht er künstlich scharf gesonderte Nationen herzustellen. In die gleiche Linie fällt die Idee der reinen Rasse. Analoges auch im Verhältnis des Menschen zur Natur. Zum Beispiel verwandelt man jetzt das gewachsene Naturgebilde des Mischwaldes in unnatürliche Monokulturen».

  2. Auseinandertreiben der Gegensätze: Tendenz ins Extreme einer unversöhnlichen Polarisierung zu gehen.

  3. Neigung zum Anorganischen: wachsendes Metallisch-Werden und «Versteinerung des Lebens» (Ernst Jünger).

  4. Loslösung vom Boden: Die Bodenlosigkeit der Idee ein Kugelhaus zu bauen bezeugt eine ungeheuere Labilität.

  5. Zug zum Unteren, Unbewussten, Urtümlichen, Uranfänglichen, Dunklen und Dumpfen...

  6. Herabsetzung des Menschen zur Bestie mit falschem Bewusstsein: Vorliebe um die Triebfeder jeglichen menschlichen Handelns im Versteck der sexuellen, ökonomischen, politischen Sphäre anzusetzen (Freud, Marx). Die hinterfotzige Vermutung von Hintergedanken, Lug und Trug, um den Anderen und Fremden zu entlarven, als Methode der Ideologiekritik, ist auch eine Herabsetzung sui generis: «Hinterfragen. – Bei allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann man fragen: was soll es verbergen? Wovon soll es den Blick ablenken? Welches Vorurteil soll es erregen? Und dann noch: bis wieweit geht die Feinheit dieser Verstellung? Und worin vergreift er sich dabei?»4

  7. Die Aufhebung des Unterschieds von Oben und Unten im Surrealen und im Kult des Unvernünftigen...

Auf dem Wind dieser schwerwiegenden Indizien, sollte sich die Vorgangsweise unserer Untersuchung nach POPPERS «Kritischem Rationalismus» einer gewagten Hypothese bedienen, die nicht durch empirische Induktion, auf Grund von zahlreichen Beobachtungen, ökonometrisch gesichertem, statistischem Material und neokeynesianischem Schmuck (Graphiken, Tabellen, Funktionen) entdeckt worden ist. Durch begriffliche Deduktion aus reinen Sprach- und Denkformen, Haltungen, Traditionen behaupten wir eine Hypothese, die drei Punkte umfasst, und geben sie im selben Akt einer riskanten Diskussion preis:

  1. Ein liberales Programm gibt es nicht, vielmehr gibt es eine liberale Lebensform: Die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in jener Zeit und an jenem Ort im XVIII. Jahrhundert des Lichts und der Aufklärung in Großbritannien ist nicht durch eine Freigabe des Handels groß geworden, sie war nicht durch die Einführung einer Zollsenkung, durch Ratifizierung eines Vertrages, einiger Regierungserlässe und ähnliches mehr auf Konjunktur gestimmt worden. Sondern? Die Mitglieder dieser Gesellschaft waren noch einfach klug genug, so rechtschaffen, wettbewerbsfähig und soweit ausgeglichen, ähnlich wie die eher schlichte Erscheinung des Prof. Smith selbst, dass sie in jener freiheitlichen Ordnung lebten konnten, die sie sich selber geschaffen haben. Adam SMITH hat nichts erfunden, er hat vielmehr den Glanz der recta ratio aus dem Schoße des gesellschaftlichen Kontextes in seinem berühmten Buch widergespiegelt.

  2. Liberalismus ist eine Funktion der Liberalität des Einzelnen, die durch die «Zweite Geburt» unserer Sozialisation Gestalt annimmt und innerhalb der Grenzen der funktionsfähigen Institutionen staatsbildend wird. Weder Verordnungen noch dem Freihandel – die es unter bestimmten Bedingungen geben kann und muss – sondern dem Konsens der Liberalität zuvor, im Zusammenspiel von Tugenden, Kapazitäten und Werten verdanken wir die sozioökonomische Prosperität.

  3. Liberalismus ist kein Systemdenken, sondern die Strukturverfassung der Freiheit: «El liberalismo – conviene hoy recordar esto – es la suprema generosidad: es el derecho que la mayoría otorga a las minorías y es, por tanto, el más noble grito que ha sonado en el planeta. Proclama la decisión de convivir con el enemigo; más aún, con el enemigo débil. Era inverosímil que la especie humana hubiese llegado a una cosa tan bonita, tan paradójica, tan elegante, tan acrobática, tan antinatural. Por eso no se debe sorprender que prontamente parezca esa misma especie resuelta a abandonarla. Es un ejercicio demasiado difícil y complicado para que se consolide en la tierra. Der Liberalismus – es ist angebracht sich dessen heute zu erinnern – ist die höchste Stufe der freigiebigen Großmut: Er ist das Recht, das von der Mehrheit den Minderheiten verliehen wird, und darum der nobelste Ruf, der auf diesem Planeten erklungen ist und verkündet den Entschluss mit dem eigenen Gegner zusammenzuleben, mehr noch, mit dem geschwächten Gegner. Es war schon immer unwahrscheinlich zu einem so hübschen Ding zu kommen, so Widersprüchlichem, so Elegantem, so Akrobatischem, so sehr sich gegen die Natur Sträubendem. Daher wundert es nicht, dass wir bereit sind so eine seltene Sache so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Die Einübung wird doch zu anstrengend und zu kompliziert, als dass sie sich auf dieser Erde heimisch machen könnte»5.


Gasset, José. 1930. Der Aufstand der Massen. Dtsch. Rowohlt 1958, 55. Zitiert in: Hayek (1) 221


3 1948. Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Ullstein Buch 39. 1977. 159-164. Tausend der Taschbuchausgabe. Frankfurt/M, Berlin, Wien. 114 ff.
4 Nietzsche, Friedrich. Morgenröte 5, 523. Hg. Schlechta 1, 1254
5 Ortega y Gasset, José. 1930. Der Aufstand der Massen. Dtsch. Rowohlt 1958, 55. Zitiert in: Hayek (1) 221


§ 2 Aufgaben, die sich aus der Hypothese ableiten

Es steht uns dringend an, dem nachzudenken,

Nach diesem Grundsätzlichen interessiert es uns des Weiteren, inwieweit die aufgestellte Arbeitshypothese mit dem Werk des bekanntesten «Freiheitsdenkers aus Österreich»6, Friedrich August von HAYEK, in Einklang steht oder in Einklang gebracht werden kann? Warum er in seiner Heimat gerade nicht so beliebt und anerkannt ist? Warum seine Denkart wenig bis gar nicht funktioniert in Randkulturen, etwa in Argentinien, obwohl es seiner Herkunft nach beinahe ein europäisches Land sein könnte? Argentinien wird zu mehr als 90% von 35 Millionen Einwanderern aus Spanien und Italien und ihren Nachkommen besiedelt. Dieses enorm weite Land hatte praktisch nie eine Urbevölkerung, und die restlichen 10% sind Gastarbeiter und zugewanderte Arbeitslose aus Bolivien.

Lässt sich das Hayek'sche Ideengut in Ostdeutschland, in der Türkei, im Nahen Osten, in mosaikartigen Völkerteppichen des Kaukasus oder vor den Toren Wiens auf dem Balkan zur Anwendung bringen? Kann man in den Geschlossenen Gesellschaften unterentwickelter Länder die bodenständige Wirtschaftsweise, Erziehung und Moral liberalisieren? Hat Religion und ethisches Bewusstsein mit dem Sozialen Ingenieurwesen etwas zu tun?

Es scheint klar zu sein, dass wir vorerst nicht allen Fragen im Handumdrehen auf den Grund gehen können. Ich stehe am Beginn meines Vorhabens, auf das ich anspiele. Umso dankbarer bin ich, wenn Sie mir Gehör schenken, wenn wir zusammen Zweifel ausräumen oder gerade welche aufreißen, denn nur im Dialog kann eine dermaßen «anstrengende und komplizierte» Aufgabe riskant widerlegt oder vorläufig bis auf weiteres im Amt belassen werden.

I. TEIL: ÜBERSICHT ÜBER DAS VIERGESPANN DER KARDINALTUGENDEN

W enn man in einer Quizsendung nach den «Vier Haupttugenden» fragen würde, äußerst selten, wenn überhaupt bekämen wir die richtige Antwort: «Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit». Bei einem kurzen Test erhält man nur vage Vermutungen wie Glaube, Liebe, Hoffnung zu hören, plus Treue, Standhaftigkeit, Ausdauer oder ähnliches als Draufgabe damit sie «vier» werden. Ein solches Danebentippen kommt auch nur bei aktiven Christen zustande, die sich noch der drei theologischen Tugenden erinnern können. Bei anderen ist von gar nichts mehr zu reden, da ihnen hinsichtlich einer solchen müßigen Frage überhaupt kein fertiges Schema einfällt oder sie auch nichts zu erfinden wüssten. Dabei wird man beim Aufschlagen des zwölfbändigen HISTORISCHEN WÖRTERBUCHS DER PHILOSOPHIE7 über den Materialreichtum des vorchristlichen Viergespanns staunen können.

Die ungeheuren semantischen Schwierigkeiten fangen schon damit an, dass das Wort «Tugend» im zeitgenössischen Sprachgebrauch beinahe vollständig durch die Wortgruppe von subjektiven «Werten, Bewerten, Werturteilen» ersetzt worden ist. Man erwartet heute, diese subjektiven Werturteile im wertfreien (den es sowenig gibt, wie einen völlig luftleeren) Raum von den objektiven Sachurteilen trennen zu können. Eine verheerende Forderung, diese Vakuumverpackung der Seele! Wir verdanken sie Max WEBER. In seinem Gefolge haben wir eine ganze Generation erzogen, die «von allen Dingen den Preis, aber von keinem mehr den Wert kennt» (Oscar Wilde).

In der Schulausgabe des Österreichischen Wörterbuches8, dem Stichwort «Tugend» folgen nur der scherzhafte Tugendbold, die frömmelnde Tugendhaftigkeit & Tugendsamkeit, und die abwertenden Tugendwächter & Tugendwächterinnen...

Die von NIETZSCHE proklamierte «Umwertung aller Werte» hat ebenfalls dazu beigetragen, dass wir im Allgemeinen nicht mehr wissen können, wovon die Rede sei. THOMAS VON AQUIN erachtete die Klugheit als «Gebärerin»9 aller übrigen Tugenden. Er hielt den unklug Handelnden in seiner Unwissenheit für keiner wie immer gearteten Tugend fähig. Es trifft schon irgendwie zu: In der Dämmerung kann man weder gerecht noch tapfer sein – wofür und wogegen eigentlich auch? THOMAS fügte klar und deutlich hinzu: «Eine jede Tugend heißt Kardinaltugend, und wird gewissermaßen als Haupttugend betrachtet, wenn in ihr die anderen Tugenden befestigt sind wie die Tür in der Angel»10.

§ 3 Besonnenheit und Maß11

Griech. swfrosunh (sophrosýna), lat. temperantia (Maßhalten, Selbstbeherrschung)

D er herkömmliche Sinn von Maßhalten und Selbstbeherrschung beruhte bei den Griechen in allen Dingen auf der kosmischen Ordnung der Natur. FusiV /phýsis bedeutet nicht nur die schöne Natur im Lungau oder die Bio-Welle im Supermarkt, sondern die unversehrte Ganzheit aller angeborenen Fähigkeiten, Talente, Begabungen des Menschenwesens, das so ziemlich nackt auf der Bühne der Welt erscheint. Mit Nacktheit beziehe ich mich sowohl auf das kleine Lebewesen (zwon //zóon) wie auch auf das Dasein,


6 Welan, Manfried. 1992. Ein Freiheitsdenker aus Österreich: F. A. von Hayek. Universität für Bodenkultur Wien.
7 Hist.Wb.Phil. Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Darmstadt. 1971-2001
8 Im Auftrag des Bundesministeriums für Unterricht und Kulturelle Angelegenheiten. Wien. 381997
9 Prudentia dicitur genitrix virtutum / Von der Klugheit wird behauptet, Gebärerin der Tugenden zu sein. Sent. Petr. Lombard, 3, d. 33, 2, 5 – ein äußerst verworrener Satz für heutige Begriffe: Was heißt schon «Gebärerin der Tugenden»?!
10 Virtus aliqua dicitur cardinalis, quasi principalis, quia super eam aliae virtutes firmantur, sicut ostium in cardine. De virt.1,12-24; ähnlich III Sent. 33, 2, 1, 2 c
11 Hist.Wb.Phil. Bd.1, 848


Lebtage, Wesen, Vermögen als griechisch gedachte ousia //ousía, lat. Essenz, Substanz. Unsere Geburt endet nicht nach den üblichen neun Monaten im Kreißsaal. Die wesensgerechte Natur, die empfangen wir wohl nach dem Innsbrucker Soziologen Julius MOREL während der «Zweiten Geburt»12 nach 18 x 12 = 216 Monaten in einem langwierigen Sozialisationsprozess von der Kinderstube bis zum Schulabschluss.

«Soziale Physik» (sprich Natur) umfasst also das so und so geartete Gewordensein des Einzelnen, der Gesellschaft und der Zivilisation überhaupt, in der wir auf die Welt gekommen sind und in der wir zum Leben Mut gefasst haben. Der global gewordene Zivilisationsanspruch umfasst heute nicht nur (wenn auch!) die geistige Kulturlandschaft eines einzelnen Landes. Gerade Österreich hat in dieser Hinsicht viel mehr als das Wörterbuch des Unterrichtsministeriums zu geben.

Mir scheint als einem Heimkehrer nach Österreich nach einer Odyssee von 24 Jahren, dass es hierzulande nicht nur an mutiger Erneuerung13 und Religionsunterricht mangelt, sogar der schlichte Deutschunterricht, auch für Erwachsene, nottut. Grundworte sind im Begriffe ihren Sinn völlig zu verlieren. Außerhalb des universalen Zivilisationsanspruches liegt die Barbarei und wer seine Zunge und Begierden nicht zügelt, der fällt bald in den Bereich dieses barbarischen Außerhalb, auch wenn er sich zeitlich und örtlich im scheinbaren Innerhalb aufhält, aber geistig im Abtrocknen begriffen ist. Die kulturelle Staatsangehörigkeit hängt nicht vom Reisepass ab, den mir einmal die österreichische Diplomatie in Buenos Aires abgenommen hat. Ein wenig schon, es hat mir wehgetan, aus Herzensgrund.

Der Ausdruck swfronew/sophronéo als Charakterzug des Griechentums heißt

Indes Besonnenheit ist Herrschaft, Herrschaft unserer besseren Hälfte über die ganze Seele. Sie bedeutet allem voran Gesundheit und Harmonie, was der Natur entspricht, d. h. unserem Gewordensein in genauer Entsprechung zur temperantia der Römer. Die lateinische Wortgruppe ist ein für alle Mal sehr aufschlussreich und ein sprechendes Zeugnis dafür, warum die führenden Köpfe des öffentlichen Lebens, des fairen Handelns und der Erziehung der Gesellschaft zur Freiheit, auch im modernen Zeitalter, durch die humanistische Bildung gehen müssten:

Wie man sieht, der Zivilisationsanspruch der humanistischen Tradition umfasst eine breite Palette für den Gabelstapler der alten Tugenden. Von der kosmischen Ordnung der «physikalischen Natur» bis zum so und so Gewordensein der «sozialen Ordnung» kommt es auf die richtige Mischung an.

SOLON, Staatsmann und einer der Sieben Weisen Griechenlands, schuf die erste politische Ausformung des Maßvollen, dessen Wahlspruch das «Nichts allzu sehr Wollen» (mhte lian /méte lían) war. Die Gesetzgebung sollte zwischen den Ansprüchen der Armen und Reichen durch eunomia /eunomía: Gute Verfassung, Beobachtung der Gesetze, ohne Ansehen der Person, auf Grundlage der Rechtlichkeit und Ordnung (kosmoV /kósmos) einen angemessenen Ausgleich schaffen. Unter den Sophisten verfiel dieses Ethos des Maßes bald zur leeren Formel des Relativismus bis es schließlich nur noch ein Synonym für Dummheit und Schwäche war. Wie das Gesetz so ist auch das Maß zu einer Erfindung der Schwachen gestempelt worden, die die Stärkeren am Ausleben der Begierden zu hindern suchen. Alles ist schon dagewesen. NIETZSCHES Fluchen und Schimpfen waren auch in dieser Hinsicht wenig original.

Bei PLATON wurde diese Wohltemperiertheit wieder zur Vorbedingung der Gerechtigkeit auserkoren und in abgewogener Mischung zusammen mit der Tapferkeit als politische Tugend der umfassenden Staatskunst dargestellt.

ARISTOTELES übersetzte die kosmische Temperiertheit in die universelle Mesoteslehre. In seiner Ethik für Nikomachos wird die gehörige Mitte jeweils zwischen zügellosen Extremen, in Einklang mit dem natürlichen Begehren und dem richtigen Logos als Kardinaltugend beschrieben:

Daher gesellten sich zur römischen temperantia auch mensura, moderatio. Im Italienischen, Spanischen, Französischen, Englischen wurden sie wörtlich übernommen:

Bei NIETZSCHE kam es zu einem geistig-seelischen Bruch. In der Zuordnung des Maßes zum Apollinischen und des Übermaßes zum Dionysischen vollzieht sich eine schizophrene Tendenz, sowohl in der Kunst wie auch in der Folge über das Ideologische in sozialistischen Staats- und Wahnvorstellungen, sowohl in der romantischen Nazi-Ausgabe wie in der platonischen Überschwänglichkeit des Marxismus, bis zu allen Fasern der so genannten «exzentrischen Entwurzelung» des modernen Menschen.

Wo man die Schattenseiten des griechisch-römisch orientierten Christentums entdeckte, dort sind Pleonexie14 und die Unfähigkeit der Massengesellschaft Leid zu ertragen und zu


12 Morel, Julius. 1977. Enthüllung der Ordnung. Grundbegriffe und Funktionen der Soziologie. Tyrolia, Innsbruck. 69 ff.
13 Morel, Julius. 2003. Radikale Kirchenreform. Für eine mutige Erneuerung. Tyrolia, Innsbruck
14 Pleonexia/ pleonexía: das Mehrhabenwollen, Habsucht, Vergrößerungssucht


verarbeiten, zusammen mit der Polarisierung geschlossener Ideensysteme zu dem geworden, was uns unbedingt angeht15.

SCHLEGEL16 konnte jedenfalls noch 1795 festhalten, dass «im Gemüthe des Sophokles die göttliche Trunkenheit des Dionysos , die tiefe Erfindsamkeit der Athene, und die leise Besonnenheit des Apollos gleichmäßig verschmolzen» waren. NIETZSCHES Abkehr vom olympischen Hauptgott Apollo ist nicht nur ein radikales Abstandnehmen vom klassischen Humanismus, sondern im Besonderen auch von seiner christlichen Überlieferung als einem degenerierten «Platonismus fürs Volk». Bei Kenntnis von NIETZSCHES Lebenswandel ist es jedoch einleuchtend, dass die überaus starke Fixierung von Dionysos am Ort seiner Neurose vorwiegend der unerwiderten Liebe zu Richard Wagners zweiter Ehefrau, Cósima Liszt, zugeschrieben und damit klinisch erklärt werden kann.

Die darüber hinausgehende kollektive Zuwendung zu den Dionysien wurde zum eigentlichen Religionsersatz der modernen Wohlstandsgesellschaft. Das geschah nicht mehr wie früher, in der göttlichen Trunkenheit «zum Ausschlafen» oder im Exzess eines straffälligen «Außenseitertums». Häresien und Schismen waren noch irgendwie in Form einer strengen Verurteilung abzuheilen. Der Verlust der Mitte vollzog sich aber auf breitester Skala in voller außerkanonischer Ekstase bis zum sprachlosen Auseinanderfallen der überlieferten Werte.

SEDLMAYR beklagte eindringlich diesen Verlust des ethisch-ästhetischen Maßes und des inneren Zusammenhangs der geistigen Persönlichkeit als Anzeichen des XX. Jahrhunderts dafür, dass Kunst, Wissenschaft, Politik, Gesellschaft vom Menschlichen fortstreben, unter den Mottos:

Die Mitte verlassen
heißt die Menschlichkeit verlassen.
Pascal
Alle Mitten sind zerbrochen, und
es gibt keine Mitte mehr.
Majakowski

Im Zuge der so genannten Bewältigung der Vergangenheit kann man sich auch über SEDLMAYR zynisch verbreiten. Als die Illusion des nationalen Sozialismus zerstoben war und sich als moralische Hypothek erwiesen hatte, blieb SEDLMAYRS Ordo-Denken «...durch diese Ereignisse unerschüttert, aber er kehrte jetzt wieder zu seinen katholischen Ausgangspositionen zurück. In dem von Angst und Schuld erfüllten Klima der Nachkriegsjahre nahm sein Krankenbericht apokalyptische Züge an. Aber diese Zeitstimmung sicherte seinem Buch auch einen beispiellosen Erfolg. Der Titel Verlust der Mitte wurde zu einem Schlüsselbegriff - - - Der Kunsthistoriker Sedlmayr schien nun tatsächlich der Pathologe zu sein, der wie kein zweiter die Krankheit des Zeitalters zu diagnostizieren vermochte. Eine nach Entschuldung verlangende Leserschaft griff begierig nach seinem Buch, das Auflagenhöhen erreichte wie kaum je eine andere kunsthistorische Publikation zuvor»18.

Umberto Eco's Buchbesprechung (1967) über den «Verlust der Mitte» unter dem frech-albernen Titel «Vom Cogito Interruptus» ist eine obszöne Pointe-Hascherei: Cogito... (ergo sum) wäre die Verstümmelung von Descartes' Satz «Ich denke, also bin ich». Aber der Coitus...interruptus eignet sich nur dann «vorzüglich, den Kunsthistoriker Sedlmayr methodisch zu charakterisieren»19, wenn das attische Salz zu dumm wird!

Triviale Vorwürfe belegen ihr Gegenteil, wiewohl man SEDLMAYR in Bezug auf den Untergang der großen Überlieferung nur zustimmen kann, auch und geradezu wenn er MAJAKOWSKIS schmerzverzerrten Schrei inmitten der Wirrnisse des Unmenschlichen bereits als knapp 30 jähriger NSDAP-Mitglied vernommen hat. Zu dieser Zeit jubelte Österreich noch dem Anschluss zu. HAYEK und POPPER waren am Anfang ihres Denkweges sogar Sozialdemokraten im Roten Wien. Was auch nicht wenig heißt. So genannte «Nazis» wie Heidegger, Sedlmayr oder Konrad Lorenz beweisen, dass nicht alles Schmutz sein muss, was dem «heutigen» Zeitgeist ungelegen ist. Die Freundschaft zwischen Heidegger und Jaspers, Husserl und anderen Juden, genauso zwischen Konrad Lorenz und seinem «Spezi» Karli Popper20 beweist, dass die wirklich großen Männer fähig sind, selbst über die ideologischen Hypotheken hinweg, dem menschlich Allzumenschlichen nahe zu bleiben. Die Irrtümer der großen Denker sind auch groß. Nur sauer gewordene Kleingeister können sich darüber moralisierend aufregen.

SEDLMAYR kann man den Vorwurf apokalyptischer Züge nur machen, wenn man selber die Apokalypse nicht gründlich studiert hat. Jede Schwarzseherei ist nämlich der Apokalypse und dem Denkenkönnen der Mitte überhaupt entrückt. Die Dramatik bei JOHANNES bezieht sich nicht auf die ewigen Nörgler und Verlierer, sondern viel mehr auf den Sieger: «...dem will ich ein weißes Steinchen geben und auf dem Steinchen einen neuen Namen schreiben, den niemand weiß als der Empfänger»21. Während und nach der exzentrischen Entwurzelung hat das Hochwasser der trüben Flüsse doch neue Steinchen gewälzt. Und auf dem fruchtbar gemachten Schwemmboden aus Lehm und Leid sind neue Namen und neue Haarwurzeln des Überlebens gewachsen. Die endgültig verloren geglaubte Mitte hat sich ungedachte Bahnen und Formen geschaffen. Auch in MAJAKOWSKIS Land. Niemand hat es für möglich gehalten. Auch die Überklugen waren dafür nicht gescheit genug. Als Hoffender wider alle Hoffnung, SEDLMAYR war durch und durch ein Vertrauter der Zukunft und gegen das Ende zu rief er ungebrochen aus: «Wir stehen an einem Anfang»22.

«Willst du ein Mensch der Zukunft sein, du Mensch der Gegenwart, so vergiss nicht in den rauchenden Trümmern deinen Vater ANCHISES und die heimischen Götter. Sie brauchten damals einen frommen Helden, der sie nach Italien hinübertrug, ihm aber und seinem Geschlecht konnten sie nur Italien und die Herrschaft der Welt geben. Unser Heiligtum ist aber größer als Troja, und unser Weg führt weiter als nach Italien und weiter als um das ganze Erdenrund. Der Retter rettet sich selbst. Das ist das Geheimnis des Fortschritts; ein anderes gibt es nicht und wird es auch nicht geben»23.


15 Tillich, Paul. 1961. Wesen und Wandel des Glaubens. Ullstein 318. «Glaube ist, was uns unbedingt angeht» – dieser Definition gemäß gibt es keinen Menschen, der nicht glauben würde, wenigstens an den Erfolg, die Nation oder einen Heiligen Baum... Es gibt auch beinahe kein Ding auf der Welt, das nicht auch schon Gegenstand eines Glaubenskultes geworden wäre.
16 Friedrich Schlegel, zusammen mit seinem Bruder August Wilhelm, war Begründer der romantischen Zeitschrift Athenäum.
17 Über das Studium der griechischen Poesie. Hg. Hankamer 1947, 133. Anmerkungen: Dionysos (Bacchus) war Sohn von Zeusvater (Jupiter) und als Wein- und Fruchtbarkeitsgott das Sinnbild der ekstatischen Hingebung ans Leben. Dionysien waren rauschende Feste zur Lesezeit. Athene (Minerva), die Tochter kam aus dem Hirn des Zeus hervor und war die Göttin der Denkenden, Künstler, Wissenschaftler und Krieger. Apollon war ebenfalls Sohn des Zeus als das göttliche Bild des Lichtes und der schönen Künste.
18 Sauerländer, Willibald. 1999. Geschichte der Kunst – Gegenwart der Kritik. DuMont, Köln. 231
19 Sic! Sauerländer 232
20 Cf. Taschwer, Klaus. Was es heißt, Arbeiter zu sein. Zum 10. Todestag von K. Popper. In: Presse 11.9.2004. Lorenz war Inhaber des Königsberger Kant-Lehrstuhles in der NS-Zeit. Popper wiederum war Heimatvertriebener aus dem selben NS-Motiv, aber mit entgegengesetztem Vorzeichen. Im Kindesalter waren sie Spielkameraden. Es wird u.a. die Anekdote zum besten gegeben, dass eines Tages Lorenz einen offiziell gehaltenen Brief an «Dear Sir Karl...» richtete, nicht ahnend, dass der weltberühmt gewordene Sir der ehemalige Freund war. Im Antwortschreiben hieß es dann: «Lieber Konrad, du scheinst nicht zu wissen, dass ich der Karli Popper bin...»
21 Apokalypse 2,17
22 Chr. Morgenstern
23 Solowjow, Wladimir. Das Märchen vom Fortschritt. In: Ausgewählte Werke. Bd I. Jena 1914, andere Bände Stuttgart 1916-22. Anmerkung: Anchises war trojanischer Prinz. Sein Sohn Äneas war Stammvater Roms und Held der Äneiden, eines epischen Gesangs, in dem VERGIL Äneas' Fährnisse nach dem Brand Trojas sowie den Einzug der Troer nach Italien erzählt und die Gründung Roms verkündet.


Die unauffällige Verwesung bedeutet nicht mehr das dramatische Auftreten eines heldenhaften Rebellen, der – wie LUTHER – seine Thesen ans Kirchentor nagelte und mit dem Reichsbann belegt werden konnte (Worms 1521). Das Unerhörte, was seit dem Siebenjährigen Krieg24 (1756-1763) geschah, ist die Weigerung, die Tugenden als solche überhaupt noch wahrzunehmen. Angefangen von KELSENS reiner Rechtslehre über TÖNNIES' reine Soziologie bis zur chemischen Reinheit des modernen Spezialistentums, werden sie – wienerisch ausgedrückt – nicht einmal ignoriert. Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Kunst, Recht und Politik stehen auf keinerlei fromme Hilfe mehr an und die Grundtugenden werden zum möglichen, aber nicht mehr notwendigen Bestandteil einer Gesellschaft, eines Betriebes oder einer Familie erklärt.

Damit ist der ruch- und gesanglose Abgang der ehemaligen Autoritäten von der Bühne der Geschichte überhaupt sichergestellt: Der leere Thron bleibt leer. Robert MUSILS Roman25 «Der Mann ohne Eigenschaften» ist geradezu das altösterreichische Paradebeispiel, und der eine Weltkrieg von Sarajevo über Trianon und Potsdam bis zum Fall der Berliner Mauer war der allerteuerste Preis dafür.

Das steigende ökologische Bewusstsein von heute ist auch ein gutes Beispiel: Das Wetteifern auf der Bio-Welle scheint eine Art Gegenreformation zur wissenschaftlichen Hybris des ausgehenden XIX. und des vollen XX. Jahrhunderts zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass die Grünen nicht in einem anderen Dauerrausch enden oder die berechtigte Sorge vieler kleiner Leute von heute nur opportunistisch ausnützen, in der völlig unmöglich gewordenen Nostalgie «Zurück zur Natur» (Rousseau). Die schlichte Einordnung von Chemie, Wirtschaftlichkeit und Genetik in eine Reihe mit dem Bösen deutet auf einen neuerlich ratifizierten Verlust der Mitte mit dem entgegengesetzten Ausschlag. Wer Bodenkultur studierte und als Ingenieur sehen und rechnen kann, der weiß, dass wir ohne chemische Industrie, ohne wirtschaftliches Denken, ohne Pflanzen- und Tierzucht nicht einmal eine Woche lang überleben könnten. Womit die «77 Todsünden» der zivilisierten Menschheit gegen Umwelt und Gesundheit auch nicht verniedlicht werden sollten.

Das Hinhören auf die Fusi/Phýsis ist etwas anderes als die Verherrlichung des Primitiven und Ungehobelten im Schoße der kleinen Horden. Dieses Hörenkönnen weist uns immer wieder auf den Weg eines hermeneutischen Zirkels, der keinem dialektischen Pendelschlag, sondern einer aufsteigenden Spirale gleicht. Wir können nur das verstehen, was wir schon vorher verstanden haben, mit der Maßeinheit einer tiefer gelegenen Skala. So wird unser Denken dem Mehrfarbendruck ähnlich, wobei es auf jede Platte ankommt, damit die richtige Mischung aller Farben aufleuchten kann.

§ 4 Klugheit26
Griech. Φρονησιζ (phrónesis), lat. prudentia

Die Griechen sprachen von Gesinnung und Empfindung, Denken und Verstand (Φρονησιζ /phrónesis), Einsicht und Klugheit (Φρονιζ/phrónis), verständiger Denkart voll des Selbstvertrauens und taktvollen Verständnisses (Φρονημ&aplha;/phrónema) in derart einmaliger Weise, dass sie in der Tat kaum überbietbar und übersetzbar sind. Im Italienischen, Spanischen, Französischen, Englischen blieb das lateinische Wort erhalten, mit kleinen Ab-schleifungen in der Endsilbe wie prudenza, prudencia, prudence und mit der völligen Abnützung seines semantischen Gehaltes. Im heutigen Spanisch sagt man dafür eher cordura nach dem lateinischen cordatus: verständig, gescheit. Selbst im Deutschen überlebte jedoch die Wurzel in der «Jurisprudenz der Richter», die sich klugerweise an Prinzipien, Interpretationen, Urteilssprüchen der Vergangenheit, im Besonderen aber auch der Höchstgerichte halten müssten. Das Wort «Kluc-heit» aus dem Mittelhochdeutschen verdanken wir Wolfram von Eschenbach (1150), der die geläufige Bedeutung von gescheit, gewandt, listig befestigte.

In unserer höchsten Sprachnot kann uns vielleicht Die Kluge von Carl Orff zur Hilfe eilen. Ich habe sie vor sehr langer Zeit in einem Puppentheater erlebt und somit erinnere ich mich ihrer nur vage, aber bestimmend für mein Leben lang als eine conditio humana: Ein König will sich von seiner königlichen Ehehälfte trennen, erlaubt ihr aber drei letzte Wünsche, die ihr teuer sind, zu erfüllen. Als kluge Frau wünscht sie sich Verschiedenes, und zum Schluss schläfert sie ihren königlichen Gemahl ein und nimmt ihn in einer Reisetruhe auf ihren Verbannungsort mit. Aus Orffs Musiksprache vermochte ich also einmal jene Klugheit zu vernehmen, die ich auch heute nicht ebenbürtig ausdrücken kann und die gerade deshalb so häufig der weib-lichen Intuition zugeschrieben werden muss.

In Verbalformen spricht uns der griechische Begriff noch deutlicher an: Das Zeitwort frontizw/phrontízo heißt bedenken, erwägen; Sorge tragen für etwas. Das nahverwandte Zeitwort fronew/phronéo heißt wiederum denken, bei Sinnen sein, vernünftig sein; meinen, aber nicht wollen – sondern mögen, beabsichtigen, gedenken zu tun. Dieses verhaltene Meinen anstelle des dirigistischen Wollens muss hervorgehoben werden. HAYEK hat an dieses Wortpaar die Bedingungen der liberalen Rechtsordnung angeknüpft. Worauf wir noch zurückkommen müssen.

In PLATONS Dialogen wird die Klugheit als Bedächtigkeit, Sich-selbst-Erkennen und schließlich als Erkenntnis der Erkenntnis bestimmt: «...sie allein aber ist sowohl der andern Erkenntnisse Erkenntnis als auch ihrer selbst»27 . Alle Definitionsversuche werden jedoch wieder in Frage gestellt. Als sichere These bleibt, dass keine Tugend ohne Klugheit möglich sei.

ARISTOTELES stellt die Klugheit allen Tugenden voran und sucht keine platonischen Ideen und transzendente Ideale, sondern legt Rechenschaft von den richtigen logoi(lógoi, Verhältnissen) in uns selbst ab. Das Kapitel über die Klugheit beginnt mit dem Satz: «...wir werden nur dann einen klaren Begriff gewinnen, wenn wir erwägen, welche Menschen wir als Träger der fronesi /phrónesis bezeichnen können»28 – sei es im Handeln, sei es in der Staatsführung, im praktischen Beruf, fern von gewöhnlicher Gerissenheit, aber auch fern von exakter Wissenschaft. Die situationsgerechte Klugheit ist demnach «ein vernünftiger Habitus, der die Wahrheit im Handeln, in Bezug auf das menschliche Gut und Übel, erreichen kann»29. Dieser Kardinaltugend werden wichtige Teiltugenden zugeordnet:


24 Mirgeler 240
25 1930-33 unvollendet
26 Hist.Wb.Phil. Bd.4, 857
27 Charmides. 166 c
28 Nikomachische Ethik IV, 5
29 Ibidem VI, V,1-4


Im Altertum und in der Patristik rückte das Prudente immer wieder in die Nähe des Weisen und Philosophischen. «Klug und weise» klingt noch heute in unseren Redewendungen nach. Prudentia ist jedoch deutlich weniger und in der weiblichen Klugheit auch pragmatischer als die Übergescheitheit der alten Männer und Philosophen. Weniger ist oft mehr als ein Zuviel. Klugheit als verhaltenes Besorgen des Richtigen und Zweckmäßigen übertrifft in einzigartiger Weise alle wissenschaftliche Einsicht und sophistische Kunstfertigkeit. Die Systeme kniffliger Kunstbegriffe (sofisma /sóphisma) und weltferner Weisheit (sofia/sophía) sind noch lange keine Klugheit. Es mag beinahe scheinen, dass das griechische Sprachgefühl das Prudente eigentlich viel höher einschätzte als die spitzfindigen Redensarten. Aus der sokratischen Liebe zur Weisheit ist deshalb keine Besserwisserei geworden, da er wusste, dass er eigentlich nichts weiß.

THOMAS VON AQUIN wie schon vorhin Platon und Aristoteles, meint: «Alle moralischen Tugenden müssen klug sein»30 . Erst durch die Klugheit wird aus der Tüchtigkeit vollendetes Können, in Kunst und Technik, sowie in allen öffentlichen und zivilen Bereichen des Lebens. An der Klugheit haben alle Tugenden teil und sind kraft dieser Teilhabe Tugend. Klugheit ist noch keine Teilhabe am lumen divinum, sondern eine Wegzehrung bereits für dieses Leben. Sie ist nicht theoretisch, sondern bezieht sich auf die konkrete Wirklichkeit menschlichen Handelns als rechte Vernunft31 der Geschäftstüchtigkeit mit acht integralen Bestandteilen32: Die praktische Vernunft muss sich auf dem Weg der Ungewissheit, der Wahrheit erinnern und dabei verständig, lernwillig, erfinderisch, berechnend, vorsorglich, umsichtig und vorsichtig ans Werk herangehen.

Klugheit ist nicht nur Tugend des Einzelnen, sondern auch Regierungskunst und Verhältnis des Untergebenen dem Vorgesetzten gegenüber. Die Klugheit in wirtschaftlichen Angelegenheiten bezieht THOMAS auf die richtige Leitung der Hausgemeinschaft. Eine Politische Ökonomie gab es damals noch nicht, sie begann erst mit den spanischen Doktoren der Spätscholastik, über die HAYEK öfters anerkennende Worte fand. Bei David HUME erfuhr die Klugheit nach einem langen Weg in der Geschichte eine wesentliche Abwertung. Er wunderte sich, inwiefern sie «by some moralists at the head of the virtues» plaziert werden konnte, da ihre Funktion sei, lediglich «to conform our actions to the general usage and custom»33.

Adam SMITH verstand die Klugheit als Besorgung des eigenen Glücks in der Sphäre des Wirtschaftlebens 34.

§ 5 Gerechtigkeit35
Griech. dikaiosunh (dikaiosýna), lat. iustitia

Das griechische Denken sprach nicht bloß vom Recht, der δικη (díka), als Brauch, Sitte, Urteil, von Rechts wegen erkannte Strafe, Buße in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Griechenglaube lebte durchdrungen in der tiefen Struktureinheit dessen, was würdig und recht zu empfinden dem Menschenwesen aufgegeben war. Im Lateinischen besagt dica Prozess, Klage oder das Amt des Richters selbst. Noch heute erinnern wir uns des Zeitwortes dico, dicare und de-dicare als Dedikation / Widmung, die eine Art göttliche Weihe meinte. Es handelte sich um eine religiös-ethische und zugleich öffentlich geregelte Angelegenheit. Auf die Göttin Dikh (Díka) zurückgehend, galt das Recht seit jeher als Weltnorm göttlichen Ursprungs.

Auch Israel sah das Gerechte in dem von Gott gewährten Bund begründet und bezog es über das moralische und forensische Verständnis hinaus auf das ganze Bundesverhältnis. Gott allein setzt das Recht und menschlicherseits ist das Recht stets Antwort auf seine Forderungen.

PLATONS Staatsideologie systematisierte die «Vier Angeln» der im griechischen Wesen breit angelegten Tradition. Er ordnete je einem Stand im Staat oder einem Seelenteil eine Tugend zu:

Somit stützte PLATON seinen, von keinem Erfolg gekrönten Regierungsanspruch auf ein solides Bauern- und Soldatentum. Er ließ jedoch das Geld- und Handelswesen als etwas Unehrenhaftes vom Szenarium des Anständigen versinken. «Poderoso caballero es don Dinero /Mächtiger Ritter ist Don Dinarius», sagt man vortrefflich im Spanischen. Geld und Geldverdienen schmecken aber in PLATONS aristokratischer Ethik nach etwas geradezu Verachtenswertem: Man betreibt «es» unter einem breiten Mantel der Verschwiegenheit oder hat «es» unter Lehenseid. Man spricht von so etwas doch nicht!

ARISTOTELES entwickelte Platons Tugendlehre zwar nicht hinsichtlich der Geldtheorie, aber rechtstheoretisch wesentlich weiter: «Die Gerechtigkeit ist eine Tugend, die einem jeglichen das Seine nach dem Gesetz zukommen lässt, Ungerechtigkeit ist es dagegen ein fremdes Gut illegal zu erhalten»37. Gerechtigkeit wäre also demnach die höchste Bürgertugend dem Gesetz und dem Brauch der Polis gegenüber. Der Stagirite38 stellte keine platonischen Forderungen nach einem Sozial- und Ständestaat auf, sondern sammelte klugerweise die gesunden Anschauungen seines Volkes. Er widmete seinem Sohn Nikomachos ein ganzes Buch über «die jegliche Tugend umfassende Gerechtigkeit»39. Dabei rief er emphatisch aus: «Weder Abend- noch Morgenstern sind so wundervoll» wie diese und differenzierte sie als


30 Omnis virtus moralis debet esse prudens. Virt. Comm. 12-23
31 Recta ratio agibilium. Summa theologica I / II, 57, 4
32 Memoria, intellectus, docilitas, sollertia, ratio, providentia, circumspectio, cautio
33 Treatise on Human Nature, 1739, III, 3,1,2
34 Theory of Moral Sentiment, 1759, III, I
35 Hist.Wb.Phil. Bd.3, 329
36 Respublica IV, 433a
37 Rhet. I, 9, 1366 b 9ff
38 Beiname des Aristoteles nach seinem Geburtsort Stageiro/Stágeiros in Mazedonien.
39 Nikomachische Ethik V, 3, 1129b, 25ff


Gleichgestimmt lautet die Eudemische Ethik, die von Aristoteles' Schüler EUDEMOS als Vorlesungsmitschrift aufgezeichnet worden ist.

Die aristokratische Light-Bauweise des Lehensstaates funktionierte mit dem Prinzip der möglichst geringen Anstrengungen für die Oberschicht. Worauf es ankam, war nicht die mit Verschleiß und Wettbewerb, Kosten und Nutzen verbundene, selbständige Unternehmer- und Gewerbetätigkeit. Bei gleichzeitiger Verkümmerung der Tauschverhältnisse wirkte die platonische Staatsidee an der Ausbildung der feudalen, austeilenden Gerechtigkeit von Grund und Boden, Pfründen (lat. praebenda), Privilegien und Erbschaften nach politisch-militärischen Rang- und Verdienstordnungen kräftig mit. Und dies freilich im strengen Verhältnis – auf Treu und Glauben – zur hierarchischen Ordnung der zentral angelegten Macht.

Im Vergleich dazu, die kommutativen Beziehungen der liberalen Kaufmannschaft blühten weniger im heimatlichen Mazedonien des ARISTOTELES, sondern vielmehr in zahlreichen griechischen Stadtstaaten und ihren Kolonien jeweils vom frischen Wind der Litorale, später in Rom, Venedig, Genua, Florenz, auch in den Hansestädten der Nordküste, in den Niederlanden und auf den Britischen Inseln.

PLATONS neurotisch gespaltene Seele und die ländlich-sittliche Bodenständigkeit des ARISTOTELES, aus der entlegenen Provinz Mazedonien im Norden Griechenlands, erwiesen wenig Gunst der weltmännischen Liberalität, die immer schon an den Küsten der Meere und den Ufern der großen Ströme zuhause war. Die Triumphzüge des mazedonischen Königs, ALEXANDER des Großen, der von ARISTOTELES erzogen worden war, im Besonderen

alle diese «Großtaten» vergingen unmittelbar mit seinem Tod während eines seiner unzähligen Feldzüge in Babylonien, da sein end- und maßlos scheinendes Reich nicht auf Handelsflotten, sondern auf Generäle aufgebaut worden war. Diese verteilten dann auch den Rest unter sich. War das eine Vorwegnahme dessen, warum das Englische und nicht das Spanische Weltsprache geworden ist? Warum Angloamerika und nicht Hispanoamerika an der Spitze der Welt von heute steht? Warum Österreich-Ungarn vorgestern mit dem höflichkeitshalber seliggesprochenen, aber unfähigen Kaiser Karl an der Regierung auseinandergefallen ist? Es gibt Beispiele ohne Zahl dazu, wer nicht liberal genug, handelsfähig und geschäftstüchtig ist, der soll sich nicht beklagen:

ARISTOTELES unterschied die Hausverwaltung (oikonomia/oiko-nomía) im Bereich der Güterwirtschaft von der unmoralischen Geldwirtschaft (crematistikh/chrematistiká)40. Damit nahm er in genialer Voraussicht die Doppelbegriffe von Mikro- und Makroökonomie, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, Gemeinschaft und Gesellschaft vorweg, erlag jedoch einer für die katholische Soziallehre bis heute folgenschweren Spitzfindigkeit:

«Eine der Erwerbsformen gehört naturgemäß zur Hausverwaltung, insofern wir mit ihrer Hilfe jene eingelagerten Güter zu unserer Verfügung verschaffen, oder zumindest versuchen müssen, sie zu verschaffen, die für das Leben nötig und für die Hausgemeinschaft nützlich sind. Jedenfalls diese Güter stellen den wahren Reichtum dar, kraft der nicht unbegrenzten Menge, die für ein gedeihliches Leben zureichend anzusehen ist, zu Unterschied der anderen Erwerbsform, auf die sich Solons Spruch bezieht "Es gibt keine Grenze für den Reichtum, bestimmt durch das Menschenwesen". - - - Es gibt also eine zweite Erwerbsart, die wir speziell und rechtens Chrematistik [Geldverdienen] heißen möchten. Und dieser zufolge glaubt man, dass Reichtum und Eigentum keine Grenzen haben. Dank ihrer Verwandtschaft mit der erst besprochenen Art und Weise, denken viele, beide seien ein und das Selbe. Keineswegs sind sie jedoch identisch, obwohl sie auch nicht weit entfernt auseinander fallen. Die erste ist, in der Tat, naturgemäß, während die andere nicht natürlich, sondern vielmehr das Produkt einer gewissen Erfahrung und Kunstfertigkeit ist»41.

Eine Bereicherung durch Gewinn bringende Erwerbstätigkeit und Zinsrechnung wird somit verpönt und ein möglicher Verlust durch den gerechten Tausch ausgeschlossen. Dabei wird das Scheinargument ins Treffen geführt, dass nur jene Aktion logisch und moralisch für den Verbraucher zulässig sei, die für die Bedarfsdeckung einer ordentlichen Hauswirtschaft nützlich und lebensnotwendig ist. Der «Natur» angemessen wäre die Vermarktung von Konsumgüter nur dann, wenn der Verkäufer mit dem Erlös wieder Konsumgüter für den Verbrauch im eigenen Haushalt einkaufen würde:

Bei dieser Argumentation liegt ein Trugschluss auf die Fangfrage «die Henne vor dem Ei» oder «das Ei vor der Henne» vor, da beide Ketten durch einfache Wiederholung mit der Zeit identisch werden:

ARISTOTELES' Befürchtung der unbegrenzten Habgier widerspricht seiner Mesoteslehre, ist aber in der Tauschwirtschaft von Gebrauchsgütern unter «sittsamen» mazedonischen Bauern genauso möglich und verwerflich wie in der Geldwirtschaft unter Händlern der «verdorbenen» Großstädte. Es dürfte sie schon damals, zahlreicher als es ARISTOTELES genehm war, gegeben haben, sehr zu Unwillen der rustikalen Moral- und Gesellschaftsverfassung. Im Gefolge des Stagiriten blieb diese primitive Soziallehre ein kontinentaler Hemmschuh für die Entwicklung der gesamten Geldwirtschaft weit in die Neuzeit hinein. Das fraglose Hängenbleiben am Zipfel des kanonischen Zinsverbots und an


40 Politica I, 3, 1258a 1-2; Ethik für Nikomachos V, 8 1133b 15-18
41 Politica I, 3, 1970a


der Idee des gerechten Preises (pretium iustum) verhinderte den sozioökonomischen Fortschritt überall dort, wo man sich daran gehalten hat.

Wie wir dessen spätestens seit HAYEK innegeworden sind, das fehlende Verständnis für die Funktionsweise der Markt- und Geldwirtschaft hat dramatische Folgen. Auf dem Weg in die Unfreiheit blieb das liebe Geld (man verzeihe mir die üble Ausdrucksweise!) vorwiegend den «schmutzigen Juden» und der «Untugend der Kapitalisten» vorbehalten.

«Geld tut Frauen gut»42. Sie sind auch in dieser Hinsicht klüger als die Männerwirtschaft. Auch der griechisch gebildete Apostel PAULUS hatte seine monetären Vorurteile: «Denn die Wurzel allen Übels ist die Geldgier»43, wie wenn sich das Üble nicht in verschiedene Richtungen unseres Daseins verzweigen könnte, von Neugier über Fressgier bis zur Machtgier und Eitelkeit. Jenseits von Gut und Böse hat die instrumentale Tausch- und Rechnungseinheit «Geld» mit den Tugenden nichts zu tun. Jede Währung ist an und für sich moralisch so belanglos wie jedwedes Maß – ein Meter, ein Liter, ein Augenblick – und so übel wie jede Maßlosigkeit. Erst im Frühkapitalismus, begünstigt durch die «Protestantische Ethik» (Max WEBER), wurde das Geldverdienen als unsere moralisch einwandfreie Existenzgrundlage anerkannt.

Im antiken Rom wurde die Gerechtigkeit neben dem Edlen, Guten und Geziemenden weit und breit überliefert: «In der Gerechtigkeit kommt der Tugend Glanz zum höchsten Ausdruck, nach ihr werden die guten Männer genannt...»44 und in einem viel zitierten Fragment wird auch mit höchster Präzision definiert: «Gerechtigkeit ist der feste und dauernde Wille, jedem sein Recht zuzuteilen»45.

«Jedem das Seine zu geben», stammt also aus dem wohlverstandenen griechisch-römischen Rechtsdenken. Der jüdisch-griechisch erzogene Apostel PAULUS als Kosmopolit an der Wasserscheide zweier Zivilisationen aus dem Nahen Osten und dem Abendland ermahnte mit aller Konsequenz die ersten römischen Frühchristen. «Gebt allen das ihnen Gebührende: Sei es Steuer, Zoll, Ehrfurcht oder Hochachtung»46. Aber er kennt und beschwört auch eine andere, transzendent überhöhte Gerechtigkeit, die «nicht aus dem Gesetz, sondern aus dem Glauben kommt»47. Sie wird in der paulinischen Theologie zum radikalen Zentralbegriff der Soteriologie48. Von da an existiert eine innige Verschränkung der antiken Tugendlehre mit der christlichen Theologie und Moral. Von der patristischen Ethik angefangen (Ambrosius, Augustinus) über die Scholastik, allen voran mit THOMAS VON AQUIN findet die Tugend- und Erlösungslehre ihre klassische Ausformung in harmonischer Einheit:

 

LUTHER kannte noch die überlieferte Lehre und teilte sie in iustitia evangelica et civilis ein. Evangelisch gesehen, wahre Gerechtigkeit gibt es aber allein in der radikalen Deutung der

paulinischen Rechtfertigungslehre: Allein die Zuteilung der Gnade Gottes ist iustitia distributiva. Somit wurden zwar die freien Vertrags- und Tauschverhältnisse (iustitia commutativa) und die weltliche Gesetzgebung (iustitia legalis) theologisch zum äußerlichen Wohlverhalten deklariert, aber paradoxerweise spielte sich die durchaus zentralistische Idee von «Platons Staat, Gottes Staat» in augustinischer Spätausgabe gegen die zentralistische Distribution aus Rom auf. Der Reformation gelang überall die Eigenständigkeit der euro-anglo-amerikanischen Peripherien zu verstärken. Das ländlich-sittliche Eisleben stellte sich gegen die schillernde Urbanität der Weltstadt Rom erfolgreich auf die eigene Beine.

Auch CALVIN reduzierte die griechisch-römischen Bürgertugenden, wenn möglich, in einer noch extremeren Strenge und Reinheit zum unbeugsamen Gehorsam Gottes Distributions- und Prädestinationswillen gegenüber. Freilich wusste er diesen Willen unter seiner autoritären Führung nur zu gut zu deuten und die Leitung der Kirchen- und Staatsgeschäfte in seiner «Modellstadt Genf» (1541) sich selbst zuzuschanzen. Dennoch entwickelte sich aus der ungeheuren religiösen Energie des Reformationszeitalters geradezu eine nie dagewesene Antriebskraft auf breitester Basis für die wirtschaftliche Entwicklung der Ersten Welt an beiden Ufern des Atlantiks. Die rigide Prädestinationlehre bestärkte das Selbstbewusstsein des individuellen Erwähltsein mit dem Kriterium des innerweltlichen Erfolgsdenkens.

Unterdessen die Gold- und Silbereinfuhren aus den Indias Americanas erhielten Europas monetäre Kapazität auf der entsprechenden Höhe und verhinderten sowohl eine katastrophale Deflation wie auch eine ebenso katastrophale Inflation. In den Ländern des gegründeten «Virreinato Río de la Plata /des Vizekönigtums am Silberfluss» (1776, heute Argentinien, Uruguay) wird das eigene Geld heute noch einfach «plata /Silber» genannt. Das Gold wurde aber nach Spanien und von dort aus in die europäischen Handelswege exportiert. Der Freihandel wäre in deflationäre Schwierigkeiten geraten ohne entsprechende Zunahme der Zahlungsmittel. Umgekehrt: Die enorme Zunahme des aus heiterem Himmel gefallenen Geldregens hätte Inflation zur Folge haben müssen, wenn das vom Freihandel begünstigte Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum nicht existiert hätte. Die Folgen wären in beiden Fällen einer extremen Inflations-Deflationsspirale unabsehbar gewesen. Nach der Hypothese, die wir verfolgen, reichten aber weder die Erhöhung des Geldvolumens noch die Freigabe des Handels aus, jede allein oder beide zusammen, um den wirtscsuphaftlichen Aufschwung voran-zutreiben. Worauf kam es dabei wirklich an? Dessen Spur wittern wir auf dem Weg dieser gewundenen Untersuchung.

Wenn auch vorerst die Autarkiebestrebung im Merkantilismus der europäischen Nationalstaaten dem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum Schranken auferlegte, die Öffnung des Hafens von Buenos Aires für den freien Welthandel war der erste wirklich große Schritt zur Einbeziehung d/supe las Americas (und nicht nur der Vereinigten Staaten) in die Produktivität der Marktwirtschaft und die unumkehrbare Globalisierung der Humanität. Argentinischer Weizen/sup stillte den Hunger der Industriearbeiter in Manchester und Textilien made in England schmückten die Mode der eleganten Porteñas von Buenos Aires... Ohne diese wechselseitige Anregung der Marktanteile wäre es nie zu einer industriellen Evolution gekommen. Adam SMITHS Forschungsarbeit über den «Reichtum der Nationen» – ebenfalls aus dem Jahre 1776 wie das Virreinat – hätte ebenso wenig geschrieben werden können.

Wir verdanken jedoch, durch lange Jahrhunderte hindurch, die Aufrechterhaltung der alten humanistischen Tradition in erster Linie THOMAS, dem Allgemeinen Lehrer (Doctor universalis) der Römischen Kirche, wenn auch ihre Machtkonzentration im Papsttum immer mehr von den antiken Vorbildern in die Dialogknappheit der Gegenreformation und in die Intoleranz des Kirchenkampfes abrutschte. Dank der Redlichkeit und Interpretationskunst Josef PIEPERS existiert jedoch das Viergespann heute noch in lesenswerter Form49.

 



42 Triftiger Buchtitel von Bodo Schäfer / Carola Ferstl. 42000. mvg-Verlag, Landsberg am Lech.
43 Erster Timotheusbrief 6, 10
44 Cicero: In iustitia virtutis splendor est maximus, ex qua boni viri nominantur.
45 Ulpian: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum unicuique tribuendi. Frg. 10
46 Römerbrief 13, 7
47 Philipperbrief 3, 9
48 Vom griech. sotér(sotér) / Retter, Erhalter, Heilbringer, Beiname des Zeus und anderer Götter. Im Neuen Testament wird Jesus Christus der «Erlöser, Heiland» genannt.
49 Pieper, Josef. 2004. Über die Tugenden. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. Kösel, München.

 


 

Die Neigung zum Tausch fördert die sozioökonomische Differenzierung. Die Prognose, nach der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden – bis zur völligen Ausbeutung und Niederschlagung jeder Gerechtigkeit –, hat die Prüfung in der Ersten Welt nicht bestanden und auch in der Dritten Welt braucht sie nicht verifiziert werden zu müssen, sobald auch dort das Gleichgewicht eines tragfähigen Kapitalismus aufgebaut werden sollte. Die Missstände in den unterentwickelten Ländern sind gerade nicht durch eine lebhafte Marktwirtschaft, sondern durch Stagnation der eigenen Kapital- und Traditionsbildung festgefahren. Solange die feudale Lebensweise in diesen Umständen nicht durch einen fortschrittlichen Kapitalismus abgelöst wird, müssen diese Länder so weiterleben wie sie es eben schaffen.

Der «Reichtum der Nationen» fällt nicht aus heiterem Himmel, sondern muss aus eigener Anstrengung erarbeitet werden und allererst braucht er einen langen Erziehungsprozess zur Aufklärung. Große Teile Hispanoamerikas weisen einen kulturellen Rückstand von 200, manche islamische Länder der Welt bis zu 500 Jahren auf. Paradephilosophen im fernen Argentinien sind Hegel – und nicht Kant, Max Weber – und nicht die Liberalen. Ja, die Letzteren werden von den Kirchenfürsten als eine Art zweiter Sündenfall angesehen. Mit so einem Abstand kann freilich keiner für ein modernes Wirtschaften aufgeklärt werden. Aufklärung wäre nämlich der Ausgang der Nationen der Dritten Welt aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit56,

wenn sie noch auf der Schwelle zur Zweiten stehen. Ihnen fehlen nicht nur das Geld, sondern noch mehr die Sprach- und Denkkategorien dafür. Nicht nur in Hispanoamerika sollte man glauben, auch im Herzen Kontinentaleuropas kam es auf den Resten des Ancien régime zur Apperzeptionsverweigerung. Die Zeiten der Dreiteilung des Heiligen Deutsch-Römischen Reiches in Preußen, Rheinische Konföderation und Österreich, als Kaiser Franz II auf die heilige Krone unter Druck Napoleons verzichten musste (1806), waren auch in Wien nicht geradezu günstig für die Bildung einer liberalen Tauschgesellschaft und sozusagen für das Aufblühen der kommutativen Gerechtigkeit. Im allgemeinen Waffenlärm der napoleonischen Verwüstung gab es auch ein Zuviel an Romantik, Nationalismus und intellektuellem Widerstand dafür. Auch die Entlarvungslust, um das falsche Bewusstsein des Anderen zu diagnostizieren, begann harmlos scheinend mit der Sprachverführung durch Wortspielereien. Sie verdichteten sich aber allzu oft zu Haltungen und die Haltungen zu Taten. Auch dafür haben wir einmal die Rechnung bezahlen müssen.

Adam SMITH war in Deutschland nur ein Karikaturobjekt des sozialen Rückstands. HAYEK bemerkte einmal, dass Hitler sogar mit dem Erzfeind Stalin verhandeln konnte, nur nicht mit den Liberalen! In Österreich liberal zu sein war ein Schimpfwort und Hochverrat zugleich. Unsere «Gloriose Revolution» fand nicht statt, nicht einmal nach dem Weltkrieg.

Nach den bösen Zungen, das Tauschbegehren sei bloß ein Manöver zur Täuschung, sobald «diese Engeländer» die eigenen Schwächen spüren und mit dem abnehmenden Reiz ihres Besitzes sich zu langweilen beginnen dürften. Bei Überhandnehmen der Eitelkeit, um den Wert des eigenen höher auszugeben und das Fremde neidisch zu begehren, kommt es freilich geistreich vor, dass der «Tauschende meint, er sei der Täuschende, aber der, mit welchem er tauscht, glaubt von sich dasselbe»57. Ein Gerede so niedrigen Gehalts kann nur für einen Spießer zur Belustigung dienen. Der Mensch würde sich nach dieser Metaphysik des Falschen zum «Listigen Einzelgänger»58 verwandeln, zum «Homo oeconomicus», dessen zwischenmenschliche Beziehungen im Wesentlichen auf Betrug angelegt seien. Wo man über den Anderen so denkt, wie der Schelm selber ist, gibt es wirklich wenig Raum für Liberalität – auch heute noch! Dafür kam in diesen engen Räumen Ferdinand TÖNNIES' «reine Soziologie» in Mode, mit der Konfrontation von «Gemeinschaft und Gesellschaft», die auffallende Parallelen zu ARISTOTELES' Ökonomie und Chrematistik zeigt:

LEIBNIZ verstand die göttliche und menschliche iustitia universalis als caritas sapientis ohne auf die frühere kommutativ-legal-distributive Dreiteilung einzugehen: Und zwar «nicht nur im göttlichen Willen, sondern auch im Intellekt, auch nicht nur in der Macht Gottes, sondern auch in der Weisheit»50. Nebenbei entdeckte er die Differenzial- und Integralrechnung (1676), die einmal noch in ferner Zukunft für die Österreichische Schule von Carl Menger (1871), Eugen von Böhm-Bawerk, Ludwig von Mises zum wichtigsten Bestandteil im Instrumentarium der Grenzkosten- und Grenznutzenrechnung gereichen sollte. Kennen wir sie noch, diese großen Österreicher? In Amerika sind sie bekannter als im undankbaren Österreich!

John LOCKE, einer der frühesten Promotoren des ankeimenden politischen Liberalismus, machte die Gerechtigkeit zur Pflicht der Regierenden, «um das Privateigentum der zum Leben nützlichen Dinge für jedermann zu sichern» (1689)51. Locke untersuchte die Bedingungen unter denen freie Individuen einander nütze werden können, entweder in Kooperationsabsicht oder im Austausch von Gütern, Diensten und Rechten. Ein Prozess, der jedenfalls zur Arbeitsteilung und Spezialisierung führen muss. Die Gleichheit der Tauschpartner wird dabei als Forderung der Gerechtigkeit angesehen52.

Für David HUME gilt wiederum: «Der Nutzen und ausschließliche Zweck dieser Tugend besteht darin, durch Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung Glück und Sicherheit zu schaffen»53. Dabei spielt auch bei ihm der kulturelle und wirtschaftliche Nutzen der Tauschgesellschaft eine zentrale Rolle.

KANT interpretierte die Gerechtigkeit nicht mehr als Tugend, sondern als Eigenschaft der bürgerlichen Gesellschaft: «Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann, und das formale Prinzip der Möglichkeit desselben, nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens betrachtet, heißt die öffentliche Gerechtigkeit»54.

Die Funktionstüchtigkeit der Tauschgesellschaft bildet den Mittelpunkt der Liberalität bei Adam SMITH (1776). Soweit noch im merkantilistischen Denken das größere Besitztum edler Metalle als Reichtum galt, Smith wusste bescheid um den Segen des fruchtbaren Tauschtriebes, d. h. in «propensity to truck, barter, and exchange one thing for another». Für Smith ist diese Neigung so natürlich wie das Denken- und Sprechenkönnen. Während Ferdinand TÖNNIES selbst 200 Jahre nach John Locke und 100 Jahre nach Adam Smith bei Ausprägung der Tauschfunktion eine unwiderstehliche «Sehnsucht nach Mazedonien», d. h. nach der Bodenständigkeit der sozialen Kleingebilden des Aristoteles verspürte. Die stark ideologiebeladene Landsoziologie auf seiner Spur, sowohl in Amerika wie in Europa, insbesondere in Österreichs Agrarpolitik vor dem Beitritt zur Union, begünstigte den antiliberalen Protektionismus.

Das Tauschbegehren ist Zeichen einer offenen Gesellschaft, die in ihrer Existenz von Kooperation und Wettbewerb getragen wird. Diese Offenheit darf sich dabei nicht auf das Wohlwollen des Austeilens durch eine schützende Autorität oder eine altruistische Solidarität, sondern auf die Wahrnehmung der eigenen Interessen durch alle Mitspieler verlassen. Das Tauschprinzip lautet demnach: «Give me that which I want, and you shall have this which you want»55. Kapital wird zur selbstverständlichen Voraussetzung dafür, dass man Güter, Dienste und Rechte im Überschuss und im Voraus produzieren könne.

 


 

50 Non tantum in voluntate divina, sed et in intellectu, nec tantum in potentia Dei, sed et in sapientia.
Werke, hg. Dutens 1768, IV/3,272
51 ...harum rerum ad vitam utilium suam cuique privata et secura sit possessio.
52 Two treaties of government. 1689-90. Works 1823. Nachdruck 1963, 5, 352-367
53 Enquiry conc. the principles of the morals III, 13ff
54 Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe 6, 305f
55 Inquisition into the nature and causes of the wealth of nations. 1776. Oxford 1976 II/1, 25-26
56 Kant, Immanuel. 1784. Was ist Aufklärung?
57 Nietzsche, Friedrich. Nachgelassene Fragmente. 1876-77, 20. Hg. Colli-Montineri 1967, 4/2, 459
58 So bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.


 

Gemeinschaft

Gesellschaft

Sittlich, natürlich: «Wir»

Verdorben, künstlich: «die Angelsachsen»

Gebrauchswert

Tauschwert (Marktpreis)

«Oikonomie»

«Chrematistik»

Werk

Ware

Arbeit

Gewinn

Ganzheitlich, integriert

Atomistisch, partikular, Stückwerk

Essentialismus, Weltanschauung

Funktionelle Welt

Gemeinschaftsgefühl

Versachlichung

Hauswirtschaft

Geldwirtschaft

Gesinnungsverband, Stände

Zweckverein, Klassen

Romantizismus

Pragmatismus

Vorzug der Geisteswissenschaften

Vorzug der Natur- und Sozialwissenschaften

Personenkult der Philosophenkönige:

Deutscher Idealismus und Kulturphilosophie

Personenkult der Soziologenpäpste:

Aug. Comte, Émile Durkheim, René König

Soziale Gesinnung

Gesinnungsloser Kapitalismus

Solidarismus, Familie, Sippenverband

Egoismus, Individualismus, Liberalismus

Gemeinwohl

Einzelwohl

Kooperation, Genossenschaftswesen

Wettbewerb

Treue & Dauer

Tausch & Täuschung

Organisch verbunden, geschichtlich

Mechanisch entwurzelt und enterbt

Hang zur feierlichen Gabe und Gegengabe:

Helfen, Schenken, Verleihen, Tun

Hang zum nüchternen Kauf und Verkauf:

Verdienen, Leisten, Machen

...zurück zum Gattungswesen!

ï Aus der Vereinzelung...

 

Auch Max WEBERS «Wirtschaft und Gesellschaft» (1922) kam im Wesentlichen über TÖNNIES nicht hinaus. Ein empirischer Vergleich von Primär- und Sekundärgruppen ist freilich absolut zulässig, was verhängnisvoll wurde, ist nur ihre Polarisierung59. In den Prozessen der Vergemeinschaftung finden vielleicht keine Tauschakte statt? Im Schoße der Familie gilt wirklich die Devise «Unter Brüdern feilscht man nicht»? Im Familienverband gibt es keine Konkurrenz, selbst unter Kleinkindern um Vaters und der Mutter Gunst? Nicht einmal der kostbarste Frauentausch zwischen exogamen Sippen führte immer aus der Rivalität zur ganzheitlichen Verbrüderung des familiären Blutverbandes. So gab es reichlich ideologische Verlogenheit in der Identifizierung nationaler Stereotypen: Gemeinschaftsgeist in deutschen Ländern und Commercial Society unter den Angelsachsen.

Mit alldem verbleibt die unleugbare Tatsache, dass die schottischen Moralphilosophen mit dem Wiederaufleben der ausgleichenden Gerechtigkeit und dem Begriff der Commercial societies ein gültiges Gegenmodell zu Rousseau's Gesellschaftsvertrag und zum französischen Zentralismus schufen. Worauf es am meisten ankam, ist nicht nur die Erkenntnis, dass die kleinen Horden durch Zuneigung, Verwandtschaft und Solidarität zusammengehalten wurden, und im Übergang von der Barbarei zur Zivilisation durch Handelsbeziehungen gemäßigt worden sind. Das Entscheidende dürfte vielmehr darin erblickt werden, dass auf der höheren Entwicklungsstufe das unantastbare, feste Gefüge der geschlossenen Gesellschaft zunehmend durch freigewählte Beziehungen in der Offenen Gesellschaft ersetzt worden ist. Dieser Unterschied trennte die der Realität entrückte Ideenwelt des Doktor Quesnay von Adam Smiths funktionstüchtiger Tauschwirtschaft.

Mit alldem verbleibt die unleugbare Tatsache, dass die schottischen Moralphilosophen mit dem Wiederaufleben der ausgleichenden Gerechtigkeit und dem Begriff der Commercial societies60 ein gültiges Gegenmodell zu Rousseau's Gesellschaftsvertrag und zum französischen Zentralismus schufen. Worauf es am meisten ankam, ist nicht nur die Erkenntnis, dass die kleinen Horden durch Zuneigung, Verwandtschaft und Solidarität zusammengehalten wurden, und im Übergang von der Barbarei zur Zivilisation durch Handelsbeziehungen gemäßigt worden sind. Das Entscheidende dürfte vielmehr darin erblickt werden, dass auf der höheren Entwicklungsstufe das unantastbare, feste Gefüge der geschlossenen Gesellschaft zunehmend durch freigewählte Beziehungen in der Offenen Gesellschaft ersetzt worden ist. Dieser Unterschied trennte die der Realität entrückte Ideenwelt des Doktor Quesnay von Adam Smiths funktionstüchtiger Tauschwirtschaft.

François QUESNAY (1694-1774) war Leibarzt der Madame Pompadour und des Königs Luis XV. Als Begründer der Physiokratischen Schule erachtete er die Bodenkultur als Quellgrund des Reichtums der Nationen. Er und seine Schüler feierten nach Erfindung der Schrift und des Geldes als drittgrößte Erfindung der Menschheit sein eigenes Tableau économique, das den Weg der Bodenprodukte durch drei soziale Klassen zeigen sollte:

SMITH kannte zwar den Wahlspruch des Laissez faire, laissez passer von einer Reise her, die er mit einem Zögling feinsten Standes nach Paris unternahm. Die Struktur der britischen Gesellschaft war aber entschieden anders als die soziale Klassenteilung Frankreichs. Physiokraten witterten zwar den Wind der Zeiten, waren aber nicht in der Lage dem Sturm der Revolution Einhalt zu gebieten. Dennoch wurde ihr französisch verfasstes Motto dem kommenden Liberalismus, der von der anderen Seite des Kanals aus dem insularen England kam, zugeschrieben. Frankreich war aus «Boden» gemacht und bald zu «Boden» gemacht worden. Das Symbol des kommenden Zeitalters, das sich allmählich den Weg freigelegt hat, wurde vorerst das «Schiff» und die «Steuermannskunst» (kubernhetikh /kybernetiká). Bis heute navigieren wir auf der Spur der Angelsachsen durch die Wellen des Internets. Dass Bill Gates kein Russe, Franzose oder Argentinier ist, das wundert's mich nicht im Geringsten. Seine Geschäftstüchtigkeit hat einen anderen kulturhistorischen Hintergrund, selbst wenn er davon keine Ahnung haben sollte. Es ist doch eine völlig andere Sache in Kategorien des Viergespanns zu denken – und in Kategorien des Selben zu schaffen. Die Denker erziehen, die Zweiteren verdienen das Geld. Dass John NEUMANN, der Schöpfer des ersten BASIC-Programmsprache, früher mit Vornamen «Johann / János Bácsi» geheißen hat, das gereicht uns aus dem alten Österreich-Ungarn noch irgendwie zur Ehre, im Gedenken an soviel andere Emigranten, die aus diesen Landen nach England und Amerika vertrieben wurden.

LUIS XVI unterstützte zwar die Unabhängigkeit der nordamerikanischen Kolonien, die wirtschaftliche Lage Frankreichs wandte sich aber so katastrophal, dass seine Minister (Turgot, Necker) sich unfähig erwiesen, Reformen gegen die Interessen der privilegierten Klassen durchzusetzen. Der König und Maria Antoinette von Österreich wurden vom Pöbel exekutiert. Die Destruktion des Kontinents ist vom Napoleons Kaiserreich eingeleitet, und vom Hitlers Dritten Reich besiegelt worden.

Frankreich war vor und erst recht nach seiner Revolution eine hermetisch geschlossene Gesellschaft. Der winzige Türspalt zur späten Union Europas wurde erst durch die Visionen des Generals de Gaulle geöffnet. Visionen, die ich in meiner Jugend für völlig verrückt halten musste, da sie bis zum Uralgebirge reichten, als noch der Eiserne Vorhang existierte. Freilich Adenauer, sein Wirtschaftsminister Ludwig Erhart und last not least Michail Gorbatschow waren auch noch unerlässlich dazu.

Für Ernst BLOCH war Gerechtigkeit die frustrierende Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der Jakobiner. Ihre Mütze war nie Ausdruck der Liberalität, sondern Symbol der antiliberalen Radikalität bis heute: «Die wirkliche Gerechtigkeit als eine von unten richtet sich gegen die vergeltende und austeilende selber, gegen die wesenhafte Ungerechtigkeit, die überhaupt den Anspruch erhebt, Gerechtigkeit zu üben»61. In der klassenlosen Gesellschaft, die alle Ausbeutung aufhebt, ergibt sich für alle die «Befugnis, nach seinen Fähigkeiten zu produzieren, nach seinen Bedürfnissen zu konsumieren»62. Haha», sagte jedoch die Wirklichkeit dazu.

Auf Grund der ungleichen Verteilung des privaten Eigentums in der Gesellschaft erfuhr der Gerechtigkeitsbegriff bei den Sozialisten die radikale Wandlung zum Prinzip der Neu- bzw. Umverteilung durch Zwangswirtschaft. Die grundsätzliche Verteilungsgleichheit heißt von

 



59 Zu bemerken bleibt, dass Tönnies' Welterfolg (1887) geht auf die Überspitzung von Sir Henry Maine's «Village communities in the East and West» zurück (1871). Main war gediegener Jurist und Soziologe.
60 A. Ferguson. An essay on the history of civil society. 1767. Nachdruck Farnborough 1969, 31. Dt. Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. 1986, 12ff
61 Naturrecht und menschliche Würde 1961, 229
62 Ibidem 252


nun an soziale Gerechtigkeit. Die jüngste Geschichte fegte die Apperzeptionsverweigerung63 des utopischen Sozialstaates weg. Die platonischen Illusionen wurden aber bereits von POPPER in dem Werk «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» zureichend widerlegt.

Hans KELSEN – einer der Autoren der österreichischen Verfassung von 1920 und Anhänger einer relativistischen Wertlehre – versteht Gerechtigkeit als mögliche, aber nicht notwendige Eigenschaft der Gesellschaftsordnung: «Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal»64 und die Definitionsversuche der Gerechtigkeit sind «völlig leere Formeln»65. Dieses Resümee ist eigentlich ein ausgelaugtes Resultat für einen Rechtstheoretiker seines Kalibers. Nach dem Common sense und nach der Liberalität des natürlichen Maßhaltens wird nämlich das Gerechte viel höher eingeschätzt, gefordert und gebraucht als, dass es Irrationalität und leerer Formelhaftigkeit verdächtigt werden könnte.

Eher Kelsens Reduktion der Gerechtigkeit bis zur «nicht notwendigen Eigenschaft» der Gesellschaftsordnung scheint gedankenarm geworden zu sein, als das allgemeine Verlangen nach Gerechtigkeit, auch der einfachsten Leute, die die Ankunft dieser göttlichsten Tugend aller Tugenden beschleunigt wissen wollen, um deretwillen «der Himmel sich in Feuer auflösen und die Elemente in der Glut zerschmelzen werden. Einen neuen Himmel aber und eine neue Erde, worin Gerechtigkeit wohnt, erwarten wir...»66.

Diesem prophetischen Übergewicht gegenüber gibt es kein relativistisches Argument, das Bestand haben könnte: Wer den Anspruch der Gerechtigkeit als schlichte Gewohnheit in allem und allen gegenüber aufgibt, der gibt sich dem Feuer der Revolutionen und der Glut der Menschenrechtsforderungen preis. Der wird nebenbei auch alle politischen Wahlen garantiert verlieren. Das glorreiche Leitwort der «Sozialen Marktwirtschaft» war nicht umsonst Fahne und Maß im Wetterwinkel einer ganzen Epoche. Der Wiederaufbau unserer ältesten Traditionen nach einem Zuviel von Auflösung und Kriegselend war auch nicht möglich ohne die nordamerikanische Hilfe des Marshall Plans und den Schutz des NATO-Verbandes.

§ 6 Tapferkeit und Mut67

Griech. ανδρεια (andreía,Andreas), lat. fortitudo (cor /Herz, Mut), sp. fortaleza (valor, valentía, coraje), ital. ànimo, (valore, coraggio von cuore /Herz), frz/engl. courage.

Der griechische Begriff wird von andreio /andreíos, männlich abgeleitet. Im Kanon der Kardinaltugenden ist diese «Mannhaftigkeit» als kriegerische Kampflust eingeordnet. Archaisch handelte es sich also um eine Soldatentugend, später im Urchristentum um den Märtyrertod, heute reden wir häufiger von Zivilcourage, also von Mut, für die eigene Meinung auch Nachteile zu riskieren – eine Tugend, die nicht nur für Männer reserviert ist.

«Kultur als Fleisch gewordene Religion eines Volkes»68 braucht nicht nur die feinsten Artikel der Schöngeistigkeit (kosmhtikh/kosmetiká, die Kunst sich auszuschmücken), sondern auch

Geld und Waffen in der Hand, wenn die Stunde der Entscheidungen schlägt. John Fitzgerald KENNEDY vertrat eine entschlossene Politik dem Kommunismus gegenüber sowohl in Berlin als auch während der Krise in Cuba und Vietnam. Vor dem Brandenburger Tor (1961) rief er mutig aus: «Ich bin ein Berliner!» und baute eine Luftbrücke der Solidarität nach Tempelhof. Mit dieser Erinnerung in den Knochen und mit der Angst im Nacken kommen wir zur letzten der Vier, nämlich der heldenhaften Tapferkeit. Die Werke der Mäßigkeit, Klugheit und Gerechtigkeit müssen auch verteidigt werden. Es gibt Situationen, in denen der Name des unbedingten Pazifismus «Feigheit» heißt.

Bei PLATON ist der eigentliche Sitz des Mutes im Herzen aufzufinden, beruht aber vorgängig auf «Klugheit» und einer «richtigen Meinung» (orJh doxa/ortha doxa): Man darf sich nicht opfern und Kopf und Kragen riskieren, es sei denn klugerweise. Nach ARISTOTELES ist die Tapferkeit ein Mittelmaß zwischen den Extremen von fobo/phóbos (phobia, timor): Furcht, Angst, Schrecken und Jarro/thárros (audacia): Frechheit, Übermut, Verwegenheit.

Der evangelische Theologe Paul TILLICH findet im «Mut zum Sein»69 jene existentielle Geistesstärke, die das «Wagnis des Glaubens» überhaupt erst ermöglicht, aus der «rational-demokratischen Ethik» unserer besten humanistischen Traditionen abstammt und von der heroisch-aristokratischen Tapferkeit des Soldatentums unterschieden werden muss.

Alldem ist von der Warte unserer Betrachtungen nicht mehr viel zuzusetzen. Der ungebrochene Mut zum Sein, Mäßigkeit im Geben und Nehmen, Gerechtigkeit und Klugheit – diametral dem rohen «Willen zur Macht» (NIETZSCHE) entgegengesetzt – werden auch vom wirtschaftlichen Handeln gefordert. Das unerhörte Risiko jeder schöpferischen Investitionstä-tigkeit ist geradezu unvorstellbar ohne Vertrauen in die grundsätzliche Güte der Schöpfung.

§ 7 Zusammenfassung

B eim Defilieren der vier Haupttugenden, welche nach der vorliegenden Arbeitshypothese immer noch als die Türangel der Zivilisation anzusehen sind, war ich bestrebt weder einer Frömmigkeitsübung noch einer schulmeisterhaften Zucht das Wort zu reden. Ich aber stehe nicht an, sie als renovierbare Energie darzustellen, ohne welche unsere Lebensform wie in einer gewaltigen Umweltkatastrophe eingehen, einfach vertrocknen müsste.

Ich rede nicht aus der Luft, ich verbrachte nämlich 24 Jahre in einer «Randkultur»70 wie Argentinien, wo der Verrottungsprozess der Kardinaltugenden praktisch abgeschlossen ist. Nicht als ob die einzelnen Argentinier unklug, ungerecht, feige und vermessen wären: Als freundliche Individuen sind sie weder moralischer noch unmoralischer als der Kleine Mann von der Straße im österreichischen Durchschnitt. Was jedoch diesem riesigen Land mit akuten wirtschaftlichen Dauerkrisen seit der Machübernahme des Generals Juan Domingo PERÓN (1945) bis heute gänzlich fehlt – dafür kann ich Zeugnis ablegen – das sind wirksame Institutionen mit zureichender Kapazität um die schlechten Herrscher, korrupten Politiker und Paten der Gesellschaft demokratisch loszuwerden.

Argentinien wird mit episodenhaft kurzen Augenblicken und Ausnahmen inselhaft kleiner Flecken auf der Landkarte, seit über 50 Jahren vom Peronismus regiert, dessen monolithische Alleinherrschaft – um das politische Unglück zu vollenden – sich auch noch als «Justicialismo» versteht. Die früh an Leukämie verstorbene Frau des Diktators «Evita, Evilein», Eva Perón, als «Engel der sozialen Gerechtigkeit für die Hemdlosen», wird so kitschig verehrt, wie der ehrenwerte Kaiser Karl von Kurt Krenn. Mit diesem Patronat kann eine gewisse nicht allzu tugendhafte Führungsschicht recht gut leben.


63 Apperzeption als philosophischer Terminus bedeutet seit LEIBNIZ ein «Sich-selbst-Bewusstsein» im Unterschied zur bloßen Perzeption: das Wahrgenommene wird nur erkannt, wenn der Wahrnehmende erst einmal des Unterschiedes zu sich selbst bewusst wird und es sich im Herzen zu eigen macht. D. h. der dem Hexenwahn Verfallene sieht das Schreckliche seines Tuns beim Anzünden des Scheiterhaufens, verweigert jedoch das Bewusstmachen des Unrechts in der Monade seines innersten Gewissens. Jede Ideologie ist eigentlich eine mehr oder minder schwerwiegende Verweigerung dem Anderen sein Anderssein zuzuerkennen und in aktiver «Anti-Intoleranz» (Gabriel Marcel) zu gewähren.
64 Was ist Gerechtigkeit? 1953, 40,2
65 Reine Rechtslehre. 19602 360f
66 Zweiter Petrusbrief 3,12-13
67 Hist.Wb.Phil. Bd.10, 894
68 Thomas Stearns Eliot. Premio Nobel der Literatur 1948. Dtsch. Zum Begriff der Kultur.
69 The courage to be. 1952. Dtsch. 1953
70 Girtler, Roland. 21996. Randkulturen. Theorie des Unanständigen. Böhlau, Wien


Gegen Stammesdenken und Clanherrschaft ohne wirksame soziale, wirtschaftliche und politische Selektion gibt es keine andere Medizin als die Klugheit, das unbedingte Gerechtigkeitsstreben, ein mutiges Herz der Zivilcourage und das Maßhalten in allem, was mit der schlichten Selbstdisziplin der bürgerlichen Tugenden beginnt. Das klassische Viergespann stellte gestern wie heute die Bedingungen des fairen Wettbewerbs in einer liberalen Gesellschaftsordnung, die hie und da, in Hellas, in Rom, unter den Pilgrim Fathers in Nord-Amerika, auf den Britischen Inseln oder in unserem «good old Europe», oft nur auf kleinem Maßstab und auf kurze Zeit, aber immer wieder zustande kam. Tugendhaftes Verhalten konnte nie von Staats wegen verordnet werden. Kirche und Religion könnten schon ein Wörtchen dabei mitreden, die eigentlichen ÜberträgerInnen der Tugend- und Werthaltungen sind jedoch die Mütter und Väter, deren beispielhaftes Leben zum ausschließlichen Garanten einer winzigen Überlebenschance inmitten der Barbarei wird. Den Anstand, der Hänschen im Kinderzimmer nicht beigebracht worden ist, den bringt auch Hans keiner mehr bei. Halten wir uns nicht daran, so kann aus Österreich auch im Herzen /suptopEuropas eine ausverkaufte Randkultur werden: Eine Frage der Zeit – mit immer kürzer werdenden Halbzeiten.

§ 8 «Historia dixit»: Zeittafel der Protagonisten

640-558 v.Chr. Solon
427-348 v.Chr. Platon
384-322 v.Chr. Aristoteles
356-323 v.Chr. Alexander der Große
1225-1274 Thomas von Aquin
1483-1546 Martin Luther
1632-1704 John Locke
1646-1716 Gottfried Wilhelm Leibniz
1711-1776 David Hume
1723-1790 Adam Smith
1724-1804 top Immanuel Kant

Der große Grabenbruch der Moderne (M Non tantum in voluntate divina, supsed et in intellectu, nec tantum in potentia Dei, sed et in sapspan style=/pspan style=ienti)
–tpr Verlust der Mitte (SEDLMAYR):

1689 Cf. Englands spezifischer Vorsprung: Die GLORIOUS REVOLUTION gab mit der Abschaffung königlicher Charten und Patente den Weg zum sozioökonomischen Aufschwung frei und erweiterte den Geltungsbereich des Common sense und des Common law.

1844-1900 Friedrich Nietzsche
1864-1920 Max Weber
1881-1973 Hans Kelsen
1883-1955 José Ortega y Gasset
1885-1977 Ernst Bloch
1893-1930 Wladimir Majakowski
1896-1984 Hans Sedlmayr
1899-1992 Friedrich August von Hayek
1974 Nobelpreis der Wirtschaftswissenschaften
1902-1994 Karl Raimund Popper

«Historia dixit»: Hören wir noch auf ihre Lehre? Kaum. Es kommt bei geschichtlichen Studien nicht auf Vollständigkeit, sondern auf die Auswahl an. Was im Wesentlichen nichts weniger zu sein scheint als ein Spiel von Geschick, Spürsinn und Pragmatik desselben Viergespanns, dessen Temperament uns während dieser Untersuchung angezogen hat.


II. TEIL: KATALLAKTIK NACH FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK

Die Doppelbedeutung der griechisch gedachten Wurzel, die der Hayek'schen Wortbildung «Katallaktik» zugrunde liegt, kann an Hand eines Schulwörterbuches überprüft werden:


§ 9 Strukturverfassung von Freiheit und Marktwirtschaft

Tauschvorgänge der Gesinnung und des Welthandels sind Prozesse, die im Liberalismus die Stelle der Raubwirtschaft der kleinen Horden einnehmen. In der Universität von Sydney sagte HAYEK in einem Vortrag am 6. Oktober 1976 dazu:

«Mehrmals habe ich vorgeschlagen, dass die Theorie für die Erklärung der Marktfunktion Katallaktik heißen müsste. - - - Ich habe mich ein wenig verliebt in dieses Wort, seitdem mir offenbar geworden ist, dass es im Altgriechischen nicht nur Handelsverkehr bedeutete, sondern darüber hinaus auch die Zulassung eines Feindes als Freund in eine Gemeinschaft. Demzufolge habe ich es vorgenommen, die Spielregeln des Marktes danach zu benennen, kraft dessen wir einen Fremden zu einer katallaktischen Runde willkommen heißen können. - - - Die Runde, die begann vielleicht schon eine kleine Schar von Männern, die Schirmherrschaft ihres eigenen Stammes verlassend, um sich zum Dienst von völlig Unbekannten bereitzuhalten. Als die ersten Neolithischen Handelsleute eine Ladung von steinernen Kriegsbeilen aus Britannien über den Kanal verschifften, um sie gegen Bernstein oder gar gegen volle Weinfässer einzutauschen, ihr Vorsatz war nicht, an Unbekannte einen Gefallen zu erweisen, sondern sie wollten einfach größere Gewinne erzielen. Gerade deshalb interessierten sie sich um Leute, obwohl völlig unbekannte, die sich bereit zeigten, bessere Preise zu erlegen. Durch die Übergabe der Kriegsbeile an Andere, die davon zweifellos auch gut profitierten, wurde ihr Lebensstandard viel besser als in der Nachbarwirtschaft zuhause»71.

Desgleichen bereits im Walter Eucken Institut72, Freiburg im Breisgau 1967 führte HAYEK in einem Vortrag aus, dass das griechische Verb καταλλασσω/katallásso, nicht nur im Aktivum austauschen und somit den Freihandel der Tauschgesellschaft, sondern im Passivum auch ein Sich-versöhnen, Sich-selber-austauschen und somit die Konversion eines Feindes in Freund, d. h. nichts weniger als die Beilegung einer ständigen Feindschaft in der Raubgesellschaft bedeute. Im dreibändigen Werk (1973-1976-1979)73, das die Beziehungen zwischen Recht und Gesetzgebung in Bezug auf den Liberalismus vertiefte, wird die Ordnung des Marktes als Katallaktik gedeutet. Auch in seinem Schwanenlied74, nennt er den Gegensatz zu Katallaktik

Dieses Denken more geometrico75 ist nicht nur eine Haltung in der sozioökonomischen Theorie und Praxis, sondern auch ein Titel für abstrakte Malerei und Plastik, bei der die Linienführung in geometrische Figuren aufgeht. Mir scheint es ein vertrauenswürdiger Indizienbeleg zu sein, zugunsten von SEDLMAYRS Interpretation der Kunstgeschichte, die darauf besteht, dass Kunst, Wirtschaft und Lebensform nicht in einem luftleeren Raum aneinander vorbeileben können. Konstruktivismus, der bei HAYEK die nicht humanistische Opposition zur Katallaktik benennen soll, bezeugt bei SEDLMAYR eine auffallende Homologie. Die gewaltige Strömung des Unmenschlichen nährt sich nach HAYEK von vier repräsentativen Einzugsgebieten:

  1. Empirismus, der für jede Annahme der Wahrhaftigkeit auf eine Versuchstätigkeit besteht.

  2. Positivismus, der die Koexistenz und die logische Verkettung aller Phänomene in Zeit und Raum unter der Bedingung beschreiben will, dass sie immer unserer Beobachtung zugänglich sein müssten.

  3. Utilitarismus, der die Rechtfertigung von allem mit dem Saldo einer Verlust- und Gewinn-, d. h. Lust-Un-Lust-Rechnung beschränken möchte.

Diese vier Schlagworte können als Glaubensbekenntnisse der hochmütigen Wissenschaft und der modernen Erkenntnistheorie verstanden werden. Sie stimmen alle in der Zurückweisung der traditionellen Moral überein. Daraus folgt der doppelte Schluss:

Diese und ähnliche Postulate der Wissenschaftlichkeit lassen vier unterschwellige Überzeugungen vermuten, die man wie folgt zusammenfassen kann:

  1. Alles ist unvernünftig, was sich keine wissenschaftliche Rechtfertigung leisten und der Beobachtung nicht unterworfen werden kann76.

  2. Nichts kann vernünftigerweise angenommen werden, was nicht verstandesmäßig erklärt wird: «Ich muss zugeben – sagt HAYEK – dass auch ich in anderen Zeiten dieser Idee nachgehangen bin. Der Philosoph, mit dem ich weitgehend übereinstimme, Sir Karl POPPER hat einmal behauptet, kein Rationalist "könne jemals blind irgendeine Tradition annehmen"77 Die Hervorhebung ist von mir und halte dafür, dass diese Forderung so schwierig zu erfüllen sei, wie eben gar keine anzunehmen. Es mag dabei um einen Lapsus des Autors handeln, da er ein anderes Mal das völlig Gegenteilige unterstellte, "wir wissen nie wovon in Wirklichkeit die Rede ist"78 Es kann mit Sicherheit angenommen werden, dass ein der Freiheit zugeneigter Mensch niemals davon Abstand nehmen wird, seine Orientierung, die er auf traditionellem Wege empfangen haben mochte, einer Prüfung zu unterziehen, um sie abzulehnen, falls dies nötig sei. Aber das Mitsein in gesellschaftlicher Lebensform kann nur in dem Maße erträglich werden, insofern wir zur Annahme eines gewissen Überlieferungskomplexes bereit sind (obwohl wir uns darüber) nicht immer Rechnung ablegen), dessen Effekte wir nie zur Gänze verständlich artikulieren können».

  3. Es wird auch jedes Verhalten unvernünftig hingestellt – dem vorherigen Punkt ähnlich – wenn die Zielvorstellung nicht im vornhinein festgestellt werden kann79.

  4. In gleicher Weise wird jedes Unterfangen unvernünftig angesehen, nicht nur wenn seine Wirkungen unbekannt bleiben, sondern auch wenn sie nach der utilitaristische Schule als ungünstig anzusehen sind.


71 Hayek (2) 54
72 Veröffentlicht durch das Institut für Wirtschaftliche Angelegenheiten, London 1968. Referenz in Hayek (2) 63, 80
73 Hayek (1) Kap. X
74 Hayek (3) Kap. IV. «Eine Litanei von Irrtümern». Cf. griech. lithá/litá, eine Wunschliste zu erflehen.
75 More geometrico beduetet «streng nach Art der Geometrie verfahrend», von lat. mos, moris, Pl. mores /Art, Gewohnheit, Brauch, Sitte, Moral. Baruch Espinoza (1632-1677), der nach Holland vertriebene Philosoph und Optiker spanisch-jüdischer Abstammung, versuchte seinen Tractatus theologico-politicus (1670) in dieser Form durchzudenken, womit er sich von seinen Religions-vorstehern die Exkommunikation aus der Synagoge einhandelte. Der Argentinier Jorge Luis Borges widmete seinem Andenken ein Sonett seltener Schönheit und geometrischer Klarheit.
76 Cf. Monod, Born
77 1948/ 63:122
78 1974/76:27. Cf. auch Bartley 1985/1987


Zweitens, die Verstellung der wirklichen Problemlage durch die überhöhte Erwartung von der Wissenschaft verdeckt

Trotz aller Klarheit der Positionen bleibt es unverständlich, dass HAYEKS Terminologie im HISTORISCHEN WÖRTERBUCH DER PHILOSOPHIE keine Erwähnung gefunden hat, weder unter dem Stichwort Tausch (allagh/allagé)80 noch unter Versöhnung (katallagh/katallagé). Beim letzteren werden katallagh und lasmoV/hilasmós als Synonyme dargestellt, obwohl das katallagh/hilastérion der Bibelsprache als Ort der Gnade und der Sühne81 dem kommutativen Versöhnen der Griechen ganz und gar nicht gleichzusetzen ist. Von einer gebührenden (vertikalen) Wiedergutmachung durch Ersatzleistung kann

Der griechische Begriff der Versöhnung hat also keine Rechtfertigung vor Gott im Visier, sondern die Aufhebung politisch-sozialer und persönlicher Feindschaften, wie z.B. zwischen kriegführenden Parteien oder Eheleuten, also im sozioökonomischen und klipp und klar nicht im theologischen Bereich der letzten Dinge.

Die katallaktische Runde als Akt der Versöhnung nach HAYEK ist weder eine Gnadenwahl noch eine göttliche Distribution. Sie kann am ehesten mit einem Handschlag als Symbol der Versöhnung unter Gleichen und am wenigsten mit einem Fahneneid, Bittgesuch oder Engagement unter vertikal differenzierten Ungleichen (Führer, Väter, Autoritäten) interpretiert werden. Mir scheint es, ich gehe richtig in der Annahme, dass wir damit zu dem – bereits erwähnten – Wesensunterschied gekommen sind, warum zwei extreme, bis zur letzten Grausamkeit bereite Führernaturen wie Hitler und Stalin, trotz aller Feindschaft und Vorspiegelung falscher Tatsachen, untereinander noch eher zu verhandeln bereit waren und wenn es sein muss, eine Beute wie Polen austeilen konnten, bevor sie ihre Rechte einem Liberalen als Gleiche unter Gleichen reichen würden. Liberalität ist das Schrecklichste, was einer Autorität widerfahren kann, da mit der Großjährigkeit jedes Zöglings ihr Mandat bereits abzulaufen droht und mit aller Sicherheit auch ablaufen wird, es sein denn der kluge Führer habe von Anfang an auf die Entlassung seines Untergebenen in die Freiheit hingearbeitet.

Katallaktik nach HAYEK wäre das Prinzip der universalen Reziprozität im ökonomischen, juristischen, sozialen, politischen und sogar im religiös-kirchlich-eschatologischen Bereich der Gott-Mensch-Beziehung82. Sie ist kein «Engagement», im Sinne der Unterordnung einer übergeordneten Menschengattung dunklen Mächten gegenüber, es sei denn eine klare Bindung an die Sache selbst. Katallaktik ist ein zurück zu den Sachen, ein zurück zum Meinen der Gesetze und ein weg vom autoritären Wollen der Verordnungsflut von Staats- und Kirchengewalt. Das Wesen der Katallaktik ist die Nomokratie83 und es bezieht sich somit auf den griechisch gedachten Kosmos:

Die gute Verfassung der liberalen Polis schließt Stageiros, Rom, Eisleben, nicht einmal Hinterkucking aus, wenn aber die Sitten, Bräuche und Interessen der Primärgruppen (clans, pressure groups85, Kirchen oder Sekten, Anarchisten oder Terroristen) die Schaltstellen der großen Gesellschaft belagern würden, dann käme die Freiheit selbst um. Insoweit die allgemeinen Normen dieser kosmisch-politischen Ordnung in einer «Zweiten Geburt» während 216 Monate bis zur Volljährigkeit (d. h. bis zur völligen Emanzipation86) assimiliert werden müssen, ist das Menschenwesen auch der Erziehung zur Freiheit bedürftig. Insoweit die Geburtswehen dieser Sozialisation auf ein Sosein des zivilisierten Wachstums und Zusammenlebens beziehen, Katallaktik ist auch eine objektive (sachliche) Naturgröße, die mit subjektiven Werten und Werturteilen nichts zu tun hat:

Wer die Grundtugenden – die allgemeinen Normen – ignoriert oder verkommen lässt, vernichtet die gute Verfassung der kosmisch-politischen Ordnung selbst. Die Teleokratie im


79 Einstein, Russell, Keynes
80 Hist.Wb.Phil. Bd.10, 920; Bd.11, 891
81 Römerbrief 3, 25
82 Hayek als respektvoller Agnostiker befasste sich nicht mit Religionswissenschaft. Zu bemerken bleibt, dass außerhalb des Christentums keine andere Religion gibt, in der sich Gott dem Menschen geradezu als Bruder angeboten hätte. Aber das ist ein anderes Kapitel für sich als Ursprung aller Gerechtigkeit auf Erden.
83 Herrschaft der abstrakten Gesetze
84 Lat. sponte, freiwillig; spontaneus, zwanglos, selbsttätig
85 The Oxford English-Reader's Dictionary 1952.
Clan: «Large family group, as found in tribal communities».
Pressure group: «Organized group of members of an association, union, etc. that exerts its influence for the benefit of its members».
86 Emancipatio hieß bei den Römern die Entlassung aus der väterlichen Gewalt und aus dem Skla-venstand.


Gegensatz zur Nomokratie bezieht sich daher nicht auf Normen, sondern auf «Taxis», d. h. auf Herrschaft von partikulären Interessen87 und Ausübung der Herrschaft durch verdienstvolle Nobilitäten:

Auf Vorschlag HAYEKS wäre «Katallaktik» ein anderer, gediegener Name für die Verfassung des neuzeitlichen Liberalismus, die ohnehin schon viele Namen hat: Politische Ökonomie, Makroökonomie, Nationalökonomie, Volkswirtschaftslehre, Geld- oder Marktwirtschaft, Kapitalismus. Diese Verfassung ist in dramatischen Wortgefechten unter Waffenlärm bis zur Schwelle der Neuzeit (1750) immer wieder als Chrematistik abgelehnt worden. Diese bedeutete für den Stagiriten nur eine sinnlos-müßige, gewinnbringende Erwerbsamkeit der Ameisen, die Kunst, ein sinnloses Vermögen anzueignen und im besonderen vielleicht noch einen οιωνοζ χρηματιστικος /oionós chrematistikós zu befragen, d. h. einen Raubvogel, der Reichtum verkündete, wann er wollte, ohne seine Verfügungen im vornhinein kennen, planen und verstehen zu können.