Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

 

Die Unzulänglichkeit der aufklärerischen Religionskritik

 

„Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritueller point d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. [...] Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“1

In scharfer Beobachtung der Verhältnisse erkennt Karl MARX (1818-1883) hier die Hauptfunktionen der Religion:

 

Damit nahm Karl MARX vorweg, was in späteren Jahrzehnten die Soziologie als die wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben der Religionen beschrieb2: Die erste dieser Aufgaben der Religion ist die Festlegung und Durchsetzung von Regeln für das gesellschaftliche Handeln. Die zweite Aufgabe besteht in der Erklärung und Rechtfertigung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere der Herrschaftsverhältnisse. Dies geschah in der Regel dadurch, dass diese Verhältnisse als von den göttlichen Mächten herbeigeführt dargestellt wurden. Die Könige regierten „von Gottes Gnaden“, Kriege wurden „für Gott und Vaterland“ geführt, Ehen wurden „vor Gott“ geschlossen und Ähnliches mehr. Die dritte von den meisten Religionen wahrgenommene Aufgabe ist das „uralte Problem der Theodizee [...] die Frage: Wie kommt es, dass eine Macht, die als zugleich allmächtig und gütig festgestellt wird, eine derartig irrationale Welt des unverdienten Leidens, des ungestraften Unrechts und der unverbesserlichen Dummheit hat erschaffen können. Entweder ist sie das eine oder das andere nicht oder es regieren gänzlich andere Ausgleichs- und Vergeltungsprinzipien das Leben [...]“3 Die Religionen beantworten diese Frage in zweifacher Weise: Die eine Antwort kann als die Theodizee des Glücks bezeichnet werden. Sie gibt den vom Schicksal Begünstigten die Gewissheit, dass sie sich ihres Wohlergehens entweder wegen ihrer eigenen Verdienste oder der ihrer Vorfahren zu Recht erfreuen dürfen. Die andere Antwort ist dann die der Theodizee des Leides, derzufolge die Elenden dieser Welt sich auf Grund ihres eigenen verwerflichen Tuns oder des ihrer Vorfahren ihr Unglück selbst zuzuschreiben haben. Auf diese Weise gelang und gelingt es den Religionen, dem Unverständlichen am Gang der Welt in den Augen der meisten Menschen einen Sinn zu unterlegen und sie dazu zu bewegen, sich darein zu schicken.

Diese Auffassung der Religion als Funktion der Gesellschaft bewog MARX, an seine einleitend vorgestellte Diagnose auch gleich die Therapie anzuschließen, nämlich die grundlegende Kritik der Religion. Was er sich davon versprach, führte er folgendermaßen aus: „Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch [...]“4 Mit diesem Vertrauen auf die Kraft des Verstandes erweist sich MARX als echtes Kind der Aufklärung, deren großer deutscher Vorkämpfer, Immanuel KANT (1724-1804), schon sechzig Jahre zuvor die Losung ausgegeben hatte: „Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“5

Die Geschichte der eineinhalb Jahrhunderte, die seit der Religionskritik MARXENS vergangen sind, hat jedoch gezeigt, dass dieses uneingeschränkte Vertrauen in den Verstand nicht gerechtfertigt war. Die liberale und die marxistische Religionskritik haben den Einfluss und die Macht der institutionalisierten Kirchen in gewissem Maße zurückdrängen können; von einer Überwindung der Religion kann angesichts des Zustroms zu Sekten und esoterischen Zirkeln, angesichts des Fundamentalismus jedweder Provenienz und angesichts der verschiedenen Strömungen zeitgeistiger Spiritualität in keiner Weise die Rede sein. Eine Ursache hierfür liegt darin, dass auch

 



1 Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; Einleitung (1844),. in: Karl Marx, Friedrich Engels – Werke. Bd 1. Berlin: Dietz 151988, S. 378. Hervorhebungen im Original.
2 Die nachstehenden Ausführungen über die gesellschaftlichen Funktionen der Religion folgen: Peter L. Berger, Brigitte Berger: Wir und die Gesellschaft; Eine Einführung in die Soziologie – entwickelt an der Alltagserfahrung (Sociology; A Biographical Approach, 1972). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1977, S. 258-259.
3 Max Weber: Der Beruf zur Politik (1919), in Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber – Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik. Stuttgart: Kröner 1956, S. 177-178.
4 Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie; Einleitung (1844),. in: Karl Marx, Friedrich Engels – Werke. Bd 1. Berlin: Dietz 151988, S. 379. Hervorhebungen im Original.
5 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) in: Karl Vorländer: Philosophie der Neuzeit; Die Aufklärung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969. S. 246. Hervorhebungen im Original.


die marxistisch ausgerichteten Denker die historische Dialektik der Aufklärung nicht wahrgenommen haben. Drei Beispiele sollen diese historische Dialektik veranschaulichen:

Für die Menschen bedeutet diese Dialektik der Aufklärung, dass sie zwar jedem, der selbstbewusst genug ist und die vorgefundenen Gelegenheiten zu nutzen versteht, Spielraum und Entfaltungsmöglichkeiten bietet, aber demjenigen, der nach Halt, Geborgenheit, Orientierung und Tröstung sucht, am Ende nichts anderes bieten kann als die Rückverweisung auf ihn selbst. Mit anderen Worten: Die Aufklärung setzt die Ich-Stärke, Orientierungssicherheit und Selbstgewissheit voraus, deren breitenwirksame Ausbildung sie durch ihren Relativismus zwar unbeabsichtigt, aber doch fortwährend untergräbt.

Vor diesem Erfahrungshintergrund der Enttäuschungen und allenfalls auch Bedrohungen, die von den durch die Aufklärung ausgelösten Entwicklungen ausgehend, begründete Sigmund FREUD (1856-1939) das Fortbestehen religiöser Erscheinungsformen mit den Worten: „So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts. Es ist deutlich erkennbar, dass dieser Besitz den Menschen nach zwei Richtungen beschützt, gegen die Gefahren der Natur und des Schicksals und gegen die Schädigungen aus der menschlichen Gesellschaft selbst. Im Zusammenhang lautet es: das Leben in dieser Welt dient einem höheren Zweck, der zwar nicht leicht zu erraten ist, aber gewiß eine Vervollkommnung des menschlichen Wesens bedeutet.“6

Der Mythos I

In dieser Situation bietet sich der Mythos hilfreich an, indem er Gewissheit und Sicherheit verspricht. Damit kommt der Mythos seelischen Bedürfnissen entgegen, die von der Vernunft und dem Verstand nicht erfüllt werden. Es sind dies:7

 

Bei genauerer Betrachtung sind die drei genannten Bedürfnisse nur drei Ausformungen des Versuches des Menschen, einer dreifachen Angst zu entfliehen, nämlich:

Diese drei Ängste ballen sich zu einer allgemeinen Angst vor der Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem Menschen zusammen. Die Mehrheit der Menschen flieht vor dieser Angst entweder in die Oberflächlichkeit des Alltags oder eben in den Mythos, wie Leszek KOLAKOWSKI (geb. 1927) meint: „In der Tat, die Erfahrung der Gleichgültigkeit der Welt stellt uns vor die Alternative, entweder es gelingt uns, die Fremdheit der Dinge durch ihre mythische Organisation zu überwinden, oder wir werden diese Erfahrung vor uns verheimlichen in einem komplizierten System von Einrichtungen, die das Leben in der Faktizität des Alltäglichen zerreiben.“8

Woher rührt nun diese Angst, ja Urangst, mit der die Menschen der Welt gegenüberstehen? Sie geht auf eine seelische Grundbefindlichkeit zurück, die sich bereits in den späten vorgeburtlichen Entwicklungsabschnitten des Menschen ausbildet und die ihn zeitlebens begleitet.

Der Narzissmus und seine Kränkungen

Das ursprüngliche Lebensgefühl des Menschen ist der Narzissmus9, ein Gefühl der harmonischen Einheit mit der Welt und der Allmacht10. Es war der französische


 

6 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 152.
7 Die folgenden drei Punkte sind eine gestraffte Wiedergabe der diesbezüglichen Ausführungen in: Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 14-16.
8 Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 104. Hervorhebungen im Original.
9 Sigmund FREUD leitete diese Begriffsbezeichnung von dem Jüngling Narkissos aus der griechischen Mythologie ab. Narkissos verliebte sich dermaßen in sein eigenes Spiegelbild, dass er die Welt rings um sich und insbesondere die Liebesseufzer der ihn begehrenden Nymphe Echo nicht mehr wahrnahm.


Kunstwissenschafter und Nobelpreisträger Romain ROLLAND (1866-1944), der in einem Brief an seinen Freund Sigmund FREUD diese seelische Grundbefindlichkeit des Menschen sehr treffend beschrieben hat. „Diese sei ein besonderes Gefühl“, gibt FREUD die Beschreibung wieder, „das ihn selbst nie zu verlassen pflege, das er von anderen bestätigt gefunden und bei Millionen Menschen voraussetzen dürfe. Ein Gefühl, das er die Empfindung der ‚Ewigkeit’ nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ‚Ozeanischem’. Dies Gefühl sei eine rein subjektive Tatsache, kein Glaubenssatz; keine Zusicherung persönlicher Fortdauer knüpfe sich daran, aber es sei die Quelle der religiösen Energie, die von den verschiedenen Kirchen und Religionssystemen gefasst, in bestimmte Kanäle geleitet und gewiß auch aufgezehrt werde.“11 Angesichts er Tatsache, dass Formen der Religiosität in allen menschlichen Kulturen vorkommen, kann vermutet werden, dass Romain ROLLAND mit seiner Annahme in etwa das Richtige getroffen hat. Sigmund FREUD hingegen bestreitet für sich zwar, dieses „ozeanische Gefühl“ zu empfinden, will aber nicht ausschließen, dass dies bei seinem Freund wie auch bei vielen anderen Menschen der Fall sein könne. Seiner Meinung nach handle es sich bei diesem ozeanischen Gefühl um „ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt“12 Auf der Suche nach dem Ursprung dieses ozeanischen Gefühls, in dem er ein Zerfließen der Grenzen des Ichs, des bewussten Teils der Persönlichkeit, gegenüber der Außenwelt erkennt – ein Vorgang, der bei verschiedenen Gelegenheiten von der entrückten Frömmigkeit der Gläubigen bei einem feierlichen Gottesdienst bis hin zur rasenden Massenbegeisterung der Fans in einem Fußballstadion beobachtet werden kann –, kommt FREUD zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei um das Fortbestehen des ursprünglichen, primären Ich-Gefühls des Säuglings neben dem gereiften Ich-Gefühl des Erwachsenen handelt. „Ursprünglich enthält das Ich alles“, fasst FREUD seine Untersuchung zusammen, „später scheidet es seine Außenwelt von sich ab. Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weit umfassenderen, ja – eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entsprach. Wenn wir annehmen dürfen, dass dieses primäre Ichgefühl sich im Seelenleben aller Menschen – in größerem oder geringerem Ausmaße – erhalten hat, so würde es sich dem engen und schärfer umgrenzten Ichgefühl der Reifezeit wie eine Art Gegenstück an die Seite stellen, und die zu ihm passenden Vorstellungsinhalte wären gerade die der Unbegrenztheit und der Verbundenheit mit dem All, dieselben, mit denen mein Freund das ‚ozeanische’ Gefühl erläutert.“13

Die Erkenntnisse der Säuglingsforschung seit den siebziger Jahren der vorigen Jahrhunderts haben mittlerweile bestätigt, dass die Annahmen FREUDS ihre Berechtigung hatten. Die von Romain ROLLAND und Sigmund FREUD beschriebenen Gefühlszustände sind solche, „deren Wurzeln in die besonderen Existenzbedingungen des Fetus hinabreichen“14. Der vorgeburtliche, werdende Mensch lebt gleichsam in einem Zustand außerhalb von Raum und Zeit. Seine Umwelt, der Mutterleib, ermöglicht ihm ein Dasein der wunschlosen Glückseligkeit, denn alle lebensnotwendigen Bedürfnisse, wie sie beispielsweise in Form von Hunger, Verdauung und Ausscheidung auftreten, werden vom mütterlichen Organismus befriedigt, noch ehe diesbezügliche Wünsche auftreten. Der Fetus lebt in einem Zustand der Koenästhesie15, der Empfindung der völligen Verschmolzenheit mit seiner Welt, aus der ein Gefühl vollkommenen Glücks hervorgeht.

Dieser Zustand findet mit der Geburt ein plötzliches Ende. Von da ab wird das Leben des Menschen bestimmt von Bedürfnissen, Trieben, Erregungen, Spannungen und dergleichen mehr. Die diese begleitenden Unlust- und Angstgefühle mischen der ursprünglichen Hochstimmung nach und nach die düsteren Färbungen der Geworfenheit, Verlorenheit und Verlassenheit bei. Der Narzissmus des Menschen erleidet seine unausweichlichen Kränkungen.

Bereits im Säuglingsalter erlebt das Kind, dass es und die Welt etwas voneinander Verschiedenes sind und dass diese Welt nicht seinen Bestrebungen unterworfen werden kann. So mag der Säugling, wenn er hungrig ist, noch so lange schreien – wenn seine Mutter oder eine andere Person, die ihre Stelle einnimmt, nicht in der Nähe ist, wird er damit nichts erreichen können. Andere Möglichkeiten, die Stillung seines Hungers zu erwirken, hat er in seinem Alter und Entwicklungszustand aber noch nicht. Erlebnisse dieser Art zeigen dem kleinen Menschen seine Grenzen, reißen ihn heraus aus seinen Empfindungen des Einsseins mit der Welt und lassen ihm diese unermesslich fremd und angsteinflößend erscheinen. Dadurch erfährt der Narzissmus des kleinen Kindes eine empfindliche Kränkung, die in ihm Wut und Angst auslöst. Sein noch geringer Reifezustand hindert das kleine Kind allerdings



10 „...jeder Mensch trägt aus dem seinerzeitigen Erleben des Kindes, als es noch Eins war im Mutterleib, und post partum im seelischen Erleben noch ungeschieden von der ersten Bezugsperson, dieses Gefühl einer narzißtischen Harmonie und Allmacht.“ [Sigrun Roßmanith: Religion als Forschungsgegenstand der Tiefenpsychologie, in: der freidenker 3 (1991), S. 7.]
11 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 197.
12 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 198.
13 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 200.
14 Béla Grunberger, Pierre Dessuant: Narzissmus, Christentum, Antisemitismus; Eine psychoanalytische Untersuchung (Narcissisme, Christianisme, Antisémitisme; Étude psychanalytique, 1997). Stuttgart: Klett – Cotta 2000, S. 43.
15 Béla Grunberger, Pierre Dessuant: Narzissmus, Christentum, Antisemitismus; Eine psychoanalytische Untersuchung (Narcissisme, Christianisme, Antisémitisme; Étude psychanalytique, 1997). Stuttgart: Klett – Cotta 2000, S. 39 passim.


daran, sich dieser Gefühle und ihrer Anlässe bewusst zu werden. So bleiben sie unbewusst.

Länger vielleicht als die Illusion des Einsseins mit der Welt kann das kleine Kind die des Einsseins mit der Mutter aufrechterhalten. Aber auch in dieser Beziehung kommt der Augenblick, in dem das Kind bemerkt, dass es nicht eins ist mit der Mutter, ja schlimmer noch, dass es nicht einmal das einzige Liebesobjekt der Mutter ist. Denn da ist noch in der Regel der Vater oder ein anderer Mann, dem die Mutter auch ihre Liebe zuwendet, und schließlich sind da vielleicht auch noch Geschwister, mit denen es ebenfalls die Liebe der Mutter teilen muss. Wieder erleidet der Narzissmus des kleinen Kindes eine schwere Kränkung. So wie das Kind seine Mutter grenzenlos bewundert hat, so wollte es auch von sei¬ner Mutter grenzenlos bewundert werden; so wie das Kind seine Mutter vorbehaltlos idealisiert hat, so wollte es auch von seiner Mutter vorbehaltlos idealisiert werden; so wie das Kind seiner Mutter bedingungslos angenommen hat, so wollte es auch von seiner Mutter bedingungslos angenommen werden. Und nun das!

Verschärft wird diese Situation des Kindes noch dadurch, dass es dann, wenn es seiner narzisstischen Wut gegenüber dem Vater und den Geschwistern Ausdruck gibt, von der Mutter dafür getadelt, vielleicht sogar bestraft wird. Da das Kind in seinem Alter seine Eltern auch noch für allmächtig und allwissend hält, weckt die narzisstische Wut in ihm auch sogleich Gefühle der Angst vor Strafe und Liebesentzug. Der seelische Zwiespalt des Kindes wird noch zusätzlich schmerzlich vertieft, weil seine ablehnenden Gefühle den anderen gegenüber auch gleichzeitig im Widerstreit stehen zu Gefühlen der Liebe, der Bewunderung und der Sehnsucht, die es ja auch gegenüber der Mutter, dem Vater und den Geschwistern hegt. Das Kind löst schließlich dieses unentwirrbare Knäuel an Gefühlen, für das in der Tiefenpsychologie auch die Bezeichnung ödipaler Konflikt16 verwendet wird, indem es sie zum größten Teil verdrängt17 oder sich mit den Objekten derselben, Mutter, Vater und Geschwister, mehr oder weniger nachhaltig identifiziert18.

Das Über-Ich

Als Ergebnis dieser Vorgänge der Verdrängung und Identifikation bildet sich bis ungefähr zum zehnten Lebensjahr des Kindes im Gefüge seiner Psyche das Über-Ich als Summe der im Zuge der Erziehung verinnerlichten, also in die eigene Persönlichkeit aufgenommenen moralischen Vorschriften, gesellschaftlichen Verhaltensregeln und weltanschaulichen Ansichten aus. In diesem Lebensalter ist die Ausbildung der wesentlichen Inhalte des Über-Ichs abgeschlossen, wenngleich im weiteren Verlauf des Lebens immer noch Umformungen eintreten. Dieser frühe Zeitpunkt der Abgeschlossenheit seiner Ausgestaltung bedingt einige Eigenschaften des Über-Ichs, die für die vorhin beschriebenen Wurzeln des Mythos im Menschen und seine weitere Entfaltung von bestimmender Bedeutung sind:

Das Über-Ich ist eine moralische Instanz. In dieser Funktion entspricht es dem, was gemeinhin als Gewissen bezeichnet wird. Es weckt Schuldgefühle, Reuegedanken und Bestrafungswünsche, wenn gegen die übernommenen Vorstellungen von Ehrbarkeit, Sittlichkeit und Anständigkeit verstoßen worden ist. Das Über-Ich belohnt andererseits auch das Wohlverhalten mit Erhobenseins und Erhabenseins über die anderen Menschen. Ein gutes Gewissen ist eben ein sanftes Ruhekissen, wie schon der Volksmund weiß.

Das Über-Ich ist unfähig, zwischen Wunsch und Tat zu unterscheiden. Dies entspricht zwar seiner Funktion als Gewissen, als das es auch schon das Eintreten als verboten und böse eingeschätzter Wünsche und Gedanken in das Bewusstsein zu verhindern hat, entspringt aber auch noch dem Seelenleben des Kindes. Kinder im Vorschulalter und mitunter auch noch ältere unterscheiden nicht so streng zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, sondern beide Bereiche fließen noch ineinander. Das Über-Ich bewahrt, indem es die Grenzen zwischen dem Wirklichen und dem nur Vorgestellten verwischt, diese Unschärfe des Denkens als Grundströmung des Seelenlebens bis ins Erwachsenenalter. Die Reaktion des Über-Ichs mit Schuldbewusstsein schon allein auf verbotene Gedanken erweckt in den solcherart empfindenden Menschen den Eindruck des Vorhandenseins einer allwissenden und allgegenwärtigen Instanz, die Kenntnis selbst von den verborgensten

 



16 Der sagenhafte König Ödipus von Theben tötete seinen Vater Laios und heiratete seine Mutter Iokaste. Allerdings entsprangen diese Taten des Ödipus nicht dem von Sigmund FREUD nach ihm benannten Komplex, weil er als ausgesetztes Kind seine Eltern ja gar nicht gekannt hat. Da FREUD den Kern des sogenannten ödipalen Konflikts darin sah, dass der Sohn unbewusst seinen Vater beseitigen und an seine Stelle bei der Mutter treten möchte, wählte er auf Grund dieser oberflächlichen Entsprechung der Taten des Ödipus mit den angenommenen unbewussten Wünschen des Sohnes die Bezeichnungen „Ödipuskomplex“ oder „ödipaler Konflikt“.
17 Mit Verdrängung bezeichnet die Psychoanalyse einen Vorgang, bei dem das Ich, also die Instanz der Psyche, die für die Steuerung der Triebe und ihre Anpassung an die Bedingungen der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt zuständig ist, ihm dieser Anpassung gefährlich erscheinende Triebwünsche und Bewusstseinsinhalte von sich abspaltet und dem Unbewussten, dem Es, zuschlägt. Das Ich ist daraufhin jedoch gezwungen, den andauernden Bestrebungen des Es, diese Inhalte wieder in das Bewusstsein zu heben und damit zur Befriedigung zu bringen, dauernden Widerstand entgegenzusetzen. Das Ich entlastet sich von diesem Druck, indem es den verdrängten Triebwünschen in wunscherfüllenden Fantasien, die in Gestalt von einfachen Tagträumen bis zu dichterischen und mythologischen Vorstellungen auftreten können, eine teilweise und ungefährliche Befriedigung ermöglicht. [Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 81-88.]
18 Das Wesen der Identifikation besteht darin, dass das Ich sich einer geliebten und verehrten wie auch einer gehassten und gefürchteten Person so weit anähnelt, dass sie letztlich nicht mehr als ein außerhalb des Ichs stehendes fremdes Objekt empfunden wird. Im Zuge der Identifizierung erfährt das Ich eine Erweiterung sowohl im Guten wie im Schlechten. Ihren äußeren Ausdruck findet die Identifizierung, wenn ein Mensch Verhaltensweisen, Bewegungen, Sprachgewohnheiten und anderes der als Identifikationsobjekt dienenden Person annimmt. [Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 109-112.


Seelenregungen hat. Da derartige Erfahrungen nicht auf einzelne Menschen beschränkt, sondern allgemein sind, wird diese Instanz mit einer überirdischen Sphäre in Verbindung gebracht. In polytheistischen Religionen nimmt diese Projektion des Über-Ichs in den Himmel beispielsweise die Gestalten der Erinnyen oder Furien an. In monotheistischen Religionen wird das Über-Ich zu den Eigenschaften der Allgegenwart und Allwissenheit Gottes.

Das Über-Ich strebt nach Vergeltung. Es verlangt, dass ein Missetäter den gleichen Schaden erleiden müsse wie den, den er angerichtet hat. Diese primitive Gerechtigkeitsauffassung – primitiv einerseits, weil sie den Gerechtigkeitsvorstellungen eines Kindes entspricht, und primitiv andererseits, weil sie nur in primitiven Gesellschaften anwendbar ist – bleibt vielfach das ganze Erwachsenenleben hindurch bestimmend. Darum ist es auch eher möglich, Zustimmung für die Todesstrafe oder schwere Kerkerstrafen zu erhalten als für Maßnahmen zur Betreuung und Wiedereingliederung Straffälliger in die Gesellschaft.

Das Über-Ich hat die Neigung, sich Ansichten von führenden und einflussreichen Personen zu eigen zu machen. Hierin zeigt sich das Wesen des Über-Ichs als Verinnerlichung der den Eltern gegenüber untergeordneten Stellung des Kindes ganz besonders deutlich. Jede in der Gesellschaftsordnung höhergestellte Persönlichkeit tritt für die anderen unbewusst in die Rolle des Vaters oder der Mutter ein, wodurch ihre Ansichten und Meinungen an Bedeutung und Gewicht gewinnen. „Tatsächlich hat die analytische Erfahrung [...] ganz klar ergeben, daß jeder, zu dem man als Älterem, als einem in der Position überlegener Weisheit, Autorität oder Fähigkeit Befindlichem aufblickt, unbewußt eine Elternfigur darstellt. [...] Der Präsident einer Republik wird unbewußt genauso als ein Vater betrachtet – wie Gott oder ein Diktator oder ein von Gott gesalbter König oder ein kaiserlicher Halbgott als Vater gilt.“19 Die Bezeichnungen „Landesvater“ für einen führenden Spitzenpolitiker oder „Heiliger Vater“ für das Oberhaupt der katholischen Kirche kommen also nicht von ungefähr.

Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass die genannten Funktionen und Eigenschaften des Über-Ichs in aller Regel den Menschen unbewusst bleiben. Nur wenige durchschauen wie beispielsweise Bertrand RUSSELL (1872-1970), dass „es aus vagen Erinnerungen an Vorschriften besteht, die man in früher Kindheit gehört hat, sodass es niemals klüger sein kann als das Kindermädchen oder die Mutter seines Besitzers.“20 Für die meisten Menschen sind hingegen die Ausdrucksformen des Über-Ichs als gesundes Volksempfinden, Achtung vor den Eltern oder Respekt vor Höhergestellten durchaus achtenswerte Charakterzüge.

Einige Worte zur psychischen Struktur des Menschen

Nachdem nun schon so viel vom Über-Ich die Rede war, ist es an der Zeit, einige Worte über das psychoanalytische Modell der psychischen Struktur zu sagen, das den vorliegenden Ausführungen zu Grunde liegt. Gemäß diesem Modell besteht die Gesamtheit der menschlichen Psyche aus drei Gruppen oder Strukturen psychischer Inhalte oder Abläufe, die in gegenseitigem Wechselspiel zueinander stehen und dadurch das Verhalten des Menschen lenken. Sigmund FREUD nannte diese Strukturen das Es, das Ich und das Über-Ich.21

Das Es ist der Teil der Psyche, der alle Triebe beinhaltet. Das Es entwickelt sich bereits gegen Ende der vorgeburtlichen Entwicklung des Menschen und umfasst unmittelbar nach der Geburt die gesamte Psyche des Menschen. Da das Es aber gleichsam blind und taub ist, kommt es gleichlaufend mit der zunehmenden Verfeinerung der Sinneswahrnehmungen zur Herausbildung des Ich aus dem Es. Das Ich übernimmt unter dem Eindruck der vorhin beschriebenen narzisstischen Kränkungen, beginnend etwa ab dem sechsten bis achten Lebensmonat, gleichlaufend mit der Ausbildung der Sinnesorgane die Aufgabe, die Triebwünsche des Es auf ihre Erfüllungsmöglichkeiten unter den Bedingungen der Wirklichkeit zu überprüfen, um sie entweder zu befriedigen oder auf Ersatzbefriedigungen umzuleiten oder sie auch zu unterdrücken, wenn die Befriedigung unmöglich erscheint. Ab dem zweiten oder dritten Lebensjahr sind diese Funktionen des Ich am Verhalten des Kindes bereits deutlich erkennbar und sie entfalten sich in den folgenden Lebensjahren noch weiter. Je mehr sich das Ich jedoch entfaltet und die umgebende Wirklichkeit erkennt, um so mehr gerät es auch mit den nach unverzüglicher und unbedingter Erfüllung heischenden Triebwünschen des Es in Widerstreit.

Wie bereits beschrieben, legt sich als Folgewirkung der erzieherischen Einflüsse der Eltern und der Gesellschaft in Gestalt der Verwandten, später des Kindergartens und der Schule etwa ab dem fünften bis sechsten Lebensjahr über Es und Ich als weitere Struktur der Psyche das Über-Ich. Das Über-Ich verritt gleichsam gegenüber dem Ich wie auch dem Es die Ansprüche der Gesellschaft an das Verhalten des Menschen und setzt das Ich damit einem zusätzlichen Druck bei seinen Bemühungen um einen Ausgleich zwischen den Triebwünschen des Es und den Erfüllungsmöglichkeiten in der Wirklichkeit aus. Finden diese erzieherischen Einflüsse nun unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und familiären Begleitumständen statt, die auf die Unterdrückung der freien Entfaltung der Persönlichkeit des



19 Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 196.
20 Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin (Why I am not a Christian and Other Essays on Religion and Related Subjects, 1957). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968. S. 81.
21 Die Darlegungen über die psychische Struktur folgen Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 40-61. Neuere Auffassungen über die psychische Struktur vor allem aus evolutionstheoretischer Sicht bietet Christopher Badcock: Psychodarwinismus; Die Synthese von Darwin und Freud (PsychoDarwinism; The New Synthesis of Darwin & Freud, 1994). München, Wien: Hanser 1999, S. 119-150.


heranwachsenden Menschen und seine Formung zu einem gehorsamen Untertanen abzielen, kommt es zur Ausbildung eines Persönlichkeitstypus, der von der Warte eines aufklärerisch-eigenständigen Menschenbildes aus gesehen sehr bedenklich ist.

Der sadomasochistische Charakter

Als Wissenschafter, der immer wieder versucht hatte, psychoanalytische und marxistische Denkansätze fruchtbar miteinander zu verbinden, hat sich Erich FROMM (1900-1980) unter dem Eindruck der totalitären politischen Systeme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bemüht, die Entstehung und gesellschaftliche Wirksamkeit dieses Persönlichkeitstyps zu erforschen. Seiner Ansicht nach erleidet die Persönlichkeit bei dem Versuch, sich den unerträglichen familiären oder gesellschaftlichen Bedrückungen zu entziehen mehr oder weniger tiefgreifende Verformungen.

Eine dieser Verformungen ist der Masochismus22,der sich in Gefühlen „von individueller Bedeutungslosigkeit“ äußert und die Menschen dazu bringt „sich als besonders schwach und leistungsunfähig hinzustellen“.23 Solche Menschen sehen sich auch oft außer Stande eine eigene Meinung zu äußern oder gar ihren Willen durchzusetzen. „In extremen Fällen – und deren gibt es viele – findet man neben der Neigung, sich herabzusetzen und sich äußeren Mächten zu unterwerfen, die Tendenz, sich selbst zu verletzen und leiden zu machen.“ Solche Menschen bringen dann Selbstbeschuldigungen gegen sich vor, wie sie selbst ihre ärgsten Feinde nicht gegen sie vorbringen würden. Zudem bringen sich diese Menschen oft zwanghaft in unangenehme, sie beschämende Lagen oder in solche, die fast unausweichlich zu Verletzungen und Unfällen führen.

Es wäre aber falsch, wollte man annehmen, dass der masochistische Mensch sich selbst auslöschen wolle, selbst wenn er manchmal in Selbstmordgedanken schwelgt. Der Masochismus erweist sich als raffinierte Strategie zur Gewinnung von Macht und Stärke. „Man liefert [...] sein Selbst aus und verzichtet auf alles, was an Kraft und Stolz damit zusammenhängt“, führt FROMM dazu aus, „man verliert seine Integrität als Individuum und verzichtet auf seine Freiheit. Aber man gewinnt dafür neue Sicherheit und einen neuen Stolz durch Teilhabe an der Macht, in der man aufgeht. Außerdem gewinnt man Sicherheit gegenüber quälenden Zweifeln. Der masochistische Mensch – ganz gleich ob sein Herr eine Autorität außerhalb seiner selbst ist oder ob er seinen Herrn als Gewissen oder als psychischen Zwang internalisiert hat – braucht nichts mehr selbst zu entscheiden, er ist nicht mehr für das Schicksal seines Selbst verantwortlich und ist hierdurch von allen Zweifeln befreit, welche Entscheidung er treffen sollte. Es bleibt ihm auch der Zweifel daran erspart, was der Sinn seines Lebens ist und wer er ist. Alle diese Fragen beantwortet die Beziehung zu der Macht, der er sich angehängt hat. Der Sinn seines Lebens und sein Identitätserleben werden von dem größeren Ganzen bestimmt, in dem sein Selbst untergetaucht ist.“24

Die andere Verformung der Persönlichkeit, die unter dem Druck unerträglicher Lebensumstände eintritt, ist der Sadismus25,der in drei Spielarten auftreten kann. „Die eine Form besteht darin“, führt FROMM dazu aus, „daß man andere Menschen von sich abhängig macht und daß man sie in seine absolute, uneingeschränkte Gewalt zu bekommen sucht, so daß sie nichts mehr sind als ein Werkzeug, als ‚Ton in des Töpfers Hand’. Eine andere Form des Sadismus besteht in dem Impuls, nicht andere auf diese absolute Weise zu beherrschen, sondern sie auszubeuten, auszunutzen, zu bestehlen, sie auszunehmen und sich sozusagen alles Genießbare an ihnen einzuverleiben. Dieser Wunsch kann sich ebenso auf materielle Dinge wie auf nicht-materielle beziehen, zum Beispiel auf die emotionalen oder intellektuellen Eigenschaften, die ein Mensch zu bieten hat. Eine dritte Art des Sadismus besteht in dem Wunsch, andere leiden zu machen oder leiden zu sehen. Dieses Leiden kann körperlicher Art sein, doch handelt es sich noch öfter um seelisches Leiden. Der Betreffende möchte den anderen verletzen, demütigen, in Verlegenheit bringen oder ihn in beschämenden und demütigenden Situationen erleben.“26

Nicht selten tritt der Sadismus unter dem Deckmantel der Liebe auf. Im Falle des Masochismus erscheint dies einleuchtender, weil die Hingabe an und die Selbstaufgabe für einen anderen Menschen landläufig für den höchsten Ausdruck der Liebe gehalten werden. Die sadistische Erscheinungsform von Liebe äußert sich in einer Überbefürsorgung eines anderen Menschen, der mit der Begründung, man wisse ja besser, was für ihn gut sei, an seiner eigenständigen Entfaltung und dem Erleben eigener Erfahrungen gehindert wird. Um echte Liebe handelt es sich in beiden Fällen keineswegs, wenn man unter Liebe das Bemühen versteht, durch gefühlsmäßige und tätige Zuwendung des Wachstum und die Freiheit des jeweiligen Gegenstandes der Liebe, sei dies nun ein Mensch, ein Tier oder eine Pflanze, zu fördern.

Was in der als Liebe getarnten Spielform des Sadismus deutlicher als in anderen zum Ausdruck kommt, ist die Abhängigkeit des Sadisten von seinem Opfer. Im Falle des

 



22 Der Begriff Masochismus wurde von dem Namen des österreichischen Schriftstellers Leopold von SACHER-MASOCH (1836-1895) abgeleitet, der in seinem im Jahre 1866 erschienenen Roman »Venus im Pelz« körperliche und seelische Demütigung und Erniedrigung als Mittel geschlechtlicher Erregung beschrieb.
23 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from Freedom, 1941). Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein 1987, S. 126.
24 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from Freedom, 1941). Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein 1987, S. 137-138.
25 Der Begriff Sadismus wurde von dem Namen des französischen Schriftstellers Donatien Alphonse François Marquis de SADE (1740-1814) abgeleitet, der in seinen Schriften die Bosheit als Triebkraft menschlichen Handelns und das Zufügen von Schmerzen als Mittel zur geschlechtlichen Erregung beschreibt.
26 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from Freedom, 1941). Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein 1987, S. 127-128


Masochisten ist die Abhängigkeit von der Macht, der er sich so vollständig unterwirft, um dadurch Anteil an ihr zu gewinnen, offensichtlich. Der Sadist hingegen ist ebenfalls unbedingt auf einen Menschen angewiesen, den er beherrschen kann, denn ohne einen solchen würde sein Selbstwertgefühl von Macht und Stärke in sich zusammenbrechen, weil ihm der Gegenstand, an dem es sich täglich und stündlich beweisen können muss, fehlt.

Diese vorhin beschriebenen Reinformen des Masochismus und des Sadismus kommen in den Menschen in aller Regel nicht in lauterer Ausprägung vor, sondern sie sind miteinander vermischt und bilden die Wesenszüge des sadomasochistischen Charakters, der einer Autorität bedarf, der er sich unterwerfen kann und aus der er die Kraft schöpft, sich in ihrem Namen andere Menschen zu unterwerfen.

Tabelle 1:
Erscheinungsbild des sadomasochistischen Charakters

 

  • Pedanterie
  • Dogmatismus, Prinzipienstarrheit
  • betont konservative Einstellungen
  • Sexualphobien

       -     Sittenstrenge

       -     Obszönitätsschnüffelei, „Pornojägerei“

       -     streng formeller Umgang mit Menschen des anderen Geschlechts

  • Betonung von Konventionen, Rangordnungen
  • Neigung zu zeremoniellem Verhalten
  • Rechthaberei
  • Herrschsucht

 

Dieser sadomasochistische Charakter, fasst FROMM an anderer Stelle zusammen, „fühlt sich also stark, wenn er sich der Autorität unterwerfen und ein Teil von ihr werden kann, wobei die Autorität (durch die Realität teilweise unterstützt) aufgebläht und vergöttlicht wird und er zugleich sich selbst aufbauscht, indem sich jene, die seiner Autorität unterworfen sind, einverleibt. Es handelt sich um einen Zustand sadomasochistischer Symbiose, die ihm das Gefühl von Stärke und Identität verleiht. Weil er ein Teil des ‚Großen’ (was immer es sein mag) ist, wird er selbst groß; wäre er allein, auf sich gestellt, so würde er zu einem Nichts zusammenschrumpfen. [...] So ist er gezwungen, gegen die Bedrohung des Autoritären ebenso zu kämpfen, wie er gegen die Bedrohung seines Lebens oder seiner geistigen Gesundheit kämpfen würde.“27

Der Mythos II

Die verdrängten Inhalte und Triebwünsche der narzisstischen Kränkungen und des ödipalen Konflikts sind der Stoff, aus dem die Mythen sind. Da dieser Stoff bereits auf einer Entwicklungsstufe des Kindes angelegt wird, auf der sein Ich oder Selbst noch nicht voll ausgereift ist, erfolgt seine Formung gemäß den Regeln des primären Denkens28. Dieses unterscheidet sich in mehrerlei Hinsicht von den Denkformen des reifen Erwachsenen, die als sekundäre Denkformen bezeichnet werden.

Eines der hervorstechendesten Merkmale des primären Denkens ist seine Ungebundenheit gegenüber einschränkenden Bedingungen und Unmöglichkeiten. Daraus folgt, dass im primären Denken Gegensätze und Widersprüche nebeneinander bestehen können. Für das primäre Denken ist weiters die Darstellung durch Anspielungen oder Ähnlichkeiten kennzeichnend oder der Umstand, dass Teile von Gegenständen beziehungsweise Bruchstücke von Gedanken oder Erinnerungen für das Ganze stehen können wie auch umgekehrt. Ein weiteres Merkmal des primären Denkens ist seine Bildhaftigkeit und seine enge Gebundenheit am die Eindrücke der sinnlichen Wahrnehmung. Zuletzt sei noch erwähnt, dass dem primären Denken jedwedes Zeitgefühl abgeht, dass im Umstände wie „vorher“ und „nachher“, „jetzt“ und „später“, „zuerst“, „als nächstes“ und „zuletzt“ fremd sind. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eines.

Obwohl diese kurze Beschreibung den Eindruck erwecken mag, dass das primäre Denken im Leben der Erwachsenen keine Rolle mehr spielt, zeigt das folgende Beispiel, dass es gegenwärtiger und wirksamer ist, als gemeinhin angenommen wird. Der Ausruf „das ist ja großartig!“ kann verschiedene Bedeutungen haben, je nachdem, ob er ernst, spaßhaft oder spöttisch gemeint ist. Im letzten Fall drückt das Wort „großartig“ genau das Gegenteil dessen aus, was es gemäß Wörterbuch ausdrücken sollte. Die Darstellung durch das Gegenteil ist also auch im alltäglichen Sprachgebrauch durchaus üblich. Die Darstellungen durch Anspielungen und bildhafte Ausdrücke ist sowohl in der dichterischen Sprache Lyrik gängig als auch in der Umgangssprache, im Witz und bei Beschimpfungen. Dass bildliche Darstellungen besonders dem primären Denken entgegenkommen und daher auch besonders eindrucksvoll sind, machen sich sowohl die Werbeindustrie als auch die politische Propaganda zunutze.

Geformt durch dieses primäre Denken finden die verdrängten frühkindlichen Erlebnisse und narzisstischen Kränkungen in den fantastischen und symbolischen Mythen der Weltentstehung, der Menschwerdung und des Weltendes ihren Ausdruck. In vielen Mythen lassen sich tatsächlich Entsprechungen zwischen den in ihnen beschriebenen Weltepochen und den Entwicklungsfasen vom Kind zum Erwachsenen erkennen. Die nachstehende Gegenüberstellung bietet einige Beispiele zur Verdeutlichung

 


 

27 Erich Fromm: Der revolutionäre Charakter (The Revolutionary Character, 1963). In: Erich Fromm: Das Christusdogma und andere Essays (The Dogma of Christ and Other Essays on Religion, Psychology, and Culture, 1963). München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1984, S. 120-121.
28 Die Darstellung des primären Denkens folgt Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 55-56


Tabelle 2:
Mythische Weltepochen und Persönlichkeitsentwicklung


Mythische Weltepoche

 

Menschliche Entwicklungsphase

Gestaltloses Chaos am Beginn der Welt.

 

Narzisstische Einheit des Selbst mit der Welt.

Trennung von Himmel und Erde, Land und Wasser.

 

Gewahrwerden der Verschiedenheit von Selbst beziehungsweise Ich und der Welt.

Titanenkämpfe, Engelsstürze mit Verbannungen in die Unterwelt; Paradiesesvertreibungen und Sündenfälle mit angedrohten, aber in ihrem Eintreten unbe­stimmten Strafen.

 

Gefühlsstürme des ödipalen Konflikts mit Verdrängungsvorgängen ins Unbewußte und Bestrafungsängsten.

Derzeit bestehende Welt, die jedoch von Katastrophen, Götterdämmerungen oder Jüngsten Gerichten bedroht ist, wenn die Mächte der Unterwelt wieder emporsteigen.

 

Abschluss der Persönlichkeitsentwicklung; das Ich ist in dauernder Abwehr der unbewussten Triebe begriffen und sieht sich von der Wiederkehr des Verdrängten bedroht.

 

Von dieser Warte aus besehen, sind Mythen nicht nur Versuche zur Erklärung der Welt, sondern auch – und hier zeigt MARX in seiner Charakterisierung der Religion eine erstaunliche Vorausahnung tiefenpsychologischer Erkenntnisse – „die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens“. Hierin liegt auch ein Teil der angstmindernden Wirkung des Mythos begründet, weil er die Welt nach dem Ebenbild des Menschen darstellt, der sich zwar in vielerlei Hinsicht selbst nicht versteht, aber mit seinen unverstandenen Teilen zu leben gelernt hat.

Es wurde vorhin ausgeführt, dass die Wurzeln des Mythos in den narzisstischen Kränkungen und den Begleitumständen der Persönlichkeitsentwicklung zu finden sind. Je nachdem, wie diese erlebt worden sind, gestaltet sich die mythische Weltsicht. Im großen und ganzen lassen sich zwei solcher Sichtweisen29 unterscheiden: Da gibt es den Mythos, der aus dem Bewusstsein des Verschuldens erwächst, in dem die irdische Welt nur ein Ort der Verbannung und der Bewährung vor einer überweltlichen Macht ist. Diese Grundeinstellung entspricht einer vorwiegend masochistisch bestimmten Persönlichkeitsstruktur. Da gibt es aber auch den Mythos, der aus einem Bewusstsein des Gläubigers entspringt, der auf künftige Utopien gerichtet ist, die noch unerfüllte Forderungen zu befriedigen haben. Hierin findet die eher sadistisch gefärbte Persönlichkeit ihren Ausdruck. Beide Sichtweisen können bei ein und demselben Mythos auch ineinander übergehen, sodass beispielsweise ein Weltende als Strafgericht oder Anbruch eines Neuen Zeitalters gedeutet werden kann.

Die Anziehungskraft des Mythos

Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich nun einigermaßen schlüssig ableiten, warum die aufklärerische Religionskritik erfolglos geblieben ist, ja hat bleiben müssen:

 

„Angesichts eines Universums voller Ungewissheiten und Rätsel schaltet sich der Mythos ein, um die Dinge zu vermenschlichen“, schreibt hierzu der Altertumswissenschafter Pierre GRIMAL (1912-1996), „die Wolken des Himmels, das Licht der Sonne, die Stürme des Meeres, all dieses Außermenschliche büßt ein Gutteil seines Schreckens ein, wenn man darin eine Absicht, ein Empfindungsvermögen, eine Motivierung solcher Art zu erkennen glaubt, wie sie jedes Individuum tagtäglich erfährt. [...] Alles, was in uns nicht vom rationalen Wissen erleuchtet ist, gehört dem Mythos an, der nichts anderes ist als die spontane Abwehrreaktion des menschlichen Geistes gegenüber einer unverständlichen oder

 



29 „Die Funktion des mythischen Bewußtseins ist es vor allem, das Gefühl der Verbindlichkeit zu erwecken, das Bewußtsein der Verschuldung gegenüber dem Sein [...] Das Wort ‚Mythos’ wird üblicherweise auch zur Bezeichnung eines völlig entgegengesetzten Bewußtseins verwendet, des Bewußtseins des Gläubigers. Die Mythen, die sich vorwiegend auf eine künftige Utopie richten, die noch unerfüllte Forderungen befriedigen soll, Mythen, die vor allem Anrechte kodifizieren, nicht aber Verpflichtungen [...]“ [Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 121. Hervorhebungen im Original.]


feindseligen Welt. [...]; seinem Wesen nach ist er eher eine Arbeitshypothese, ein Versuch, aus der Ohnmacht, die unser Los ist, herauszukommen.30

Religion - Die Anwendung des Mythos

Denn in vielleicht unbewusster Ahnung dessen, dass die mythische Welt nach ihrem Ebenbild geschaffen ist, und ausgehend von ihren eigenen kindlichen Lebenserfahrungen sind die Menschen davon überzeugt, ein Mittel in der Hand zu haben, mit dem sie in diese Welt lenkend eingreifen können. Dieses Mittel ist die Magie.

Magie

Der Magie liegt die Überzeugung zu Grunde, Gedanken und Worte könnten andere Menschen, Geister, aber auch unbelebte Gegenstände der Umwelt im gewünschten Sinne beeinflussen. Dieser Glaube an die Allmacht des Gedankens geht auf frühkindliche Erlebnisse zurück, die auf durchaus wirklichen Erfahrungen beruhen. Wenn das Kind sprechen lernt, entdeckt es auch, dass es damit ein Mittel zur Kontrolle, ja teilweisen Beherrschung der Umwelt erlangt, das buchstäblich magisch ist. Mittels der Sprache kann das Kind gegenüber Mutter und Vater seine Wünsche zum Ausdruck bringen, und sie tun und bringen ihm, was es will. Diese Erlebnisse und Erfahrungen kommen dem Narzissmus des Kindes sehr entgegen. Mehr noch: nach seinen vielfachen Kränkungen, von denen bereits die Rede war, klammert er sich dermaßen an die Überzeugung von der Allmacht des Gedankens, dass es eines lange dauernden Erfahrungsprozesses bedarf, bis das Kind, lernt, dass selbst die inständigsten Wünsche an den harten Tatsachen der Wirklichkeit zerschellen. Nichtsdestoweniger bleibt der Glaube an die Allmacht der Gedanken, an die Zauberkraft von Worten bei den meisten Menschen mehr oder weniger stark das ganze Leben lang erhalten. Wer, beispielsweise, hat noch nicht seinem Auto oder seinem Computer gut zugeredet, doch so zu tun wie man es von ihm haben will. Auch der Brauch, jemandem Glück, Erfolg und Gesundheit zu wünschen, ist ein Ausfluss des magischen Denkens.

Die wohl bedeutendste und am weitesten verbreitete Erscheinungsform dieses ungebrochen Glaubens an die Allmacht des Gedankens ist das Gebet. Das Gebet ist von seiner Entstehung her im eigentlichen Sinn eine Beschwörungsformel, ein Zauber, der den Willen der Geister oder Götter lenken soll, ähnlich wie der geäußerte Wunsch des Kindes den Willen der Eltern in die Richtung seiner Erfüllung zu lenken vermag. Mit dem Gebet, der Verbindungsaufnahme des Menschen mit den überirdischen Mächten erhebt sich die Magie von der gewöhnlichen Zauberei zur Religion. Mit Hilfe der Religion will der Mensch auf die überirdischen Mächte beeinflussend einwirken. Man kann in der Religion die praktische Anwendung des Mythos31 sehen, wie etwa die Technik die praktische Anwendung der Wissenschaft ist.

In Analogie zu Beobachtungen von Religionsformen in gegenwärtig noch beste-henden urtümlichen Gesellschaftsformen kann angenommen werden, dass das Gebet anfänglich eine Sache der Gemeinschaft war. Die Familie, die Sippe, der Stamm trat unter Leitung eines Vermittlers, etwa des Ältesten, des Häuptlings oder des Zauberers, im Gebet vor die höheren Mächte. Dieses Gruppengebet hatte infolgedessen auch nur Anliegen und Vorhaben der betenden Gemeinschaft zum Inhalt. Dies konnte der Jagderfolg, der Erntesegen, das Gelingen eines Gemeinschaftswerkes, das Kriegsglück, der Eintritt der Jugend in die Welt der Erwachsenen und ähnliches sein. Bis in die heutige Zeit bieten Anlässe dieser Art, man denke hierbei nur an Fronleichnamsprozessionen oder Einweihungen öffentlicher Bauwerke, Gelegenheit zu öffentlicher Religionsausübung mit dem damit verbundenen Schaugepränge. Da die Zahl von derlei Anlässen begrenzt ist und diese auch mit einiger Regelmäßigkeit wiederkehren, erstarren die Gruppengebete zu bestimmten, streng reglementierten Formen, die oft über Generationen hinweg unverändert bleiben. Auf diese Weise entstehen Riten. Nicht zum geringsten Teil ziehen die solcherart zu kultischen Handlungen und Liturgien geronnenen Gruppengebete ihre Feierlichkeit und Erhabenheit aus der altertümlichen, manchmal auch unverständlichen, weil fremden Sprache32 und aus dem in langer Überlieferung verlorengegangenen Sinn der sie begleitenden rituellen Handlungen.

Neben dem Gruppengebet steht das freie persönliche Gebet.33 Das persönliche Gebet tritt in zwei Spielarten auf. Die eine weist noch große Ähnlichkeit mit dem formalisierten Gruppengebet auf. Es besteht in der Aneinanderreihung sich wiederholender Formeln und Wendungen, die keinen unmittelbaren Bezug zur jeweiligen Befindlichkeit des oder der Betenden haben. Beispiele hierfür sind die bekannten Gebete der katholischen Religion wie Glaubensbekenntnis, Vaterunser,

 


 

30 Pierre Grimal: Der Mensch und der Mythos (1963). In: Pierre Grimal (Hg.): Mythen der Völker (Mythologies, 1963). Bd 1: Ägypter – Sumerer – Babylonier – Hethiter – Westsemiten – Griechen – Römer. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1977, S. 13-14.
31 „Der Mythos erhebt gleich der Wissenschaft den Anspruch, die Welt zu erklären, ihre Phänomene verständlich zu machen. Gleich der Wissenschaft möchte er dem Menschen ein Mittel in die Hand geben, mit dem er, der Mensch, auf das Universum einwirken kann.“ [Pierre Grimal: Der Mensch und der Mythos (1963). In: Pierre Grimal (Hg.): Mythen der Völker (Mythologies, 1963). Bd 1: Ägypter – Sumerer – Babylonier – Hethiter – Westsemiten – Griechen – Römer. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1977, S. 12-13.]
32 Verballhornungen der unverständlichen Gebetsformeln lassen deren magischen Charakter im Volksglauben deutlich in Erscheinung treten. So wurde aus der Wandlungsformel der katholischen Messfeier „hoc es corpus Christi“ – dies ist der Leib Christi – die Zauberformel „hokus pokus“.
33 In Europa erreichte das persönliche Gebet erst mit dem Protestantismus, der eine Religion der individuellen Beziehung des Menschen zu seinem Gott ist, entstanden aus der Auflösung der strengen gesellschaftlichen Bindungen im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit, seine allgemeine Verbreitung.


Ave Maria und Rosenkranz, die zu verschiedensten Anlässen gebetet werden. Diese Art des Einzelgebetes hat oft den Charakter einer Opferleistung. Die in dieser Art Betenden opfern einen Teil ihrer Zeit und nehmen die Mühe und Langeweile des Aufsagens langer Litaneien auf sich. Das Abbeten einer Anzahl formalisierter Gebete wird in der katholischen Religion auch tatsächlich als Bußübung absolviert. In indischen oder indisch beeinflussten Religionen kommt der beständigen Wiederholung eines „Mantras“ eine ähnliche Bedeutung zu.34

Die andere Spielart ist das persönliche Gebet im eigentlichen Sinn. Der Mensch trägt in ihm Anliegen und Wünsche, zu deren Erfüllung seine Kraft nicht ausreicht, seinem Gott, Heiligen oder Schutzgeist vor. Jedoch führen derartige Gebete nie zum Eintreten des Gewünschten. Die Gebetsbitten bleiben unerfüllt. Und dennoch beten die Menschen, obwohl sie sich der unmittelbaren Wirkungslosigkeit ihres Betens im allgemeinen durchaus bewusst sind. Die Erklärung für dieses scheinbar unsinnige Verhalten liegt darin, dass das andächtige, inbrünstige Gebet nicht ohne Wirkung auf die Empfindungen des oder der Betenden bleibt. Es können dies Erlebnisse der Tröstung, der geistigen Stärkung, der innerlichen Beruhigung sein. Diese subjektiven Erlebnisse, deren Echtheit nicht zu bestreiten ist, werden aus der Sicht derer, die sie haben, als Zeichen oder Antwort der jeweils angerufenen höheren Macht gedeutet, wodurch sich in den Augen dieser Menschen auch die Wirksamkeit der magischen Praktik erweist. Der sogenannte Psychoboom hat eine große Zahl von Techniken der Autosuggestion und von körperlichen Übungen populär gemacht, die gleichartige Wirkungen auch bei religiös ungebundenen Menschen hervorrufen können, sofern sie von deren Wirksamkeit überzeugt sind. Unter diesem Blickwinkel gesehen, kann auch das Gebet in die Reihe dieser psycho-physischen Techniken eingeordnet werden.

Priestertum

Doch zurück zum Gruppengebet. Die Neigung der Gebetsformeln und kultischen Handlungen zur Erstarrung, verbunden mit magischen Glauben an die Allmacht des Wortes, das, richtig gesprochen, sogar die Götter zwingen kann, war die Ursache zur Ausbildung des Priestertums. Auf die richtige Anwendung der Formeln kommt es im Bereich der Magie vor allem an. Ein Wort verfehlt, eine rituelle Bewegung unrichtig ausgeführt, und die magische Wirkung tritt nicht ein. Die unsichtbaren Mächte haben sich nur auf eine bestimmte Formel verpflichtet.35 Diese einzig richtige und daher einzig wirksame Formel wird von den Wissenden geheimgehalten. Die Erlangung ihrer Kenntnis erfolgt nur durch einen Aufstieg über verschiedene Weihestufen, im Zuge dessen die Würdigen von den Unwürdigen getrennt werden. Auf diese Weise konstituiert sich ein Stand, der die Ausübung der Religion für sich monopolisiert. Wie vielfältig die äußerlichen Erscheinungsformen des Priestertums in Geschichte und Gegenwart auch waren und sind, ihr gemeinsamer Wesenskern liegt in dem Anspruch, im Alleinbesitz des magischen Geheimnisses zu sein, tiefere Einsicht und umfassendere Kenntnis der Offenbarungen und des Willens ihrer jeweiligen Götter zu haben.

Wo immer in der menschlichen Kulturentwicklung das Priestertum auftritt, ist es nicht nur eine Macht, sondern strebt es auch nach Macht und sucht diese Macht auch mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu behaupten und auszudehnen. Wo es also eine Priesterschaft gibt, gibt es auch - mehr oder weniger verhüllt - eine Priesterherrschaft und einen priesterlichen Machtwillen.

Wie aus der Geschichte zu ersehen ist, ist das Priestertum der bevorzugte Tummelplatz des sadomasochistischen Charakters. Die Unterwerfung unter die als allmächtig und allwissend oder zumindest jede menschliche Macht turmhoch überragend vorgestellte Gottheit, lässt die Priester einen Herrschaftsanspruch über die Menschen erheben, der keine Beschränkung kennt. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür unter vielen ist etwa die Bulle »Unam sanctam« des Papstes BONIFATIUS VIII. (Benedetto GAETANI, 1225-1303, Papst seit 1294) aus dem Jahr 1302, worin ausgeführt wird: „So erklären, sagen und bestimmen Wir, dass jedes menschliche Geschöpf dem Bischof von Rom unterworfen sein muss und dass dies ganz und gar heilsnotwendig ist.“36 Dieser Satz ist der krönende Schlusssatz eines Dokuments, das als Musterbeispiel narzisstischer Größen- und Allmachtsfantasien gelten kann. BONIFATIUS VIII. erhebt sich darin selbst zur Göttlichkeit, wenn er über die Autorität der Kirche – und damit seine Autorität meinend – schreibt: „Diese Autorität aber, auch wenn sie einem Menschen gegeben ist und von einem Menschen ausgeübt wird, ist nicht menschlich, sondern vielmehr göttlich: aus göttlichem Munde wurde sie dem Petrus und seinen Nachfolgern gegeben [...]. Wer sich jedoch dieser von Gott gegebenen Gewalt widersetzt, widersetzt sich der Anordnung Gottes.“37 Ihr Sadismus beflügelt die Fantasie der Priester auch bei der Ausmalung der Strafen, welchen denen drohen, die sich den priesterlichen Machtansprüchen widersetzen. Die von den Priestern in düsteren Farben gemalten Bilder einer Unterwelt oder Hölle erwiesen sich immer wieder als brauchbares Mittel zur Einschüchterung der Gläubigen. Dass die Lehre von der Hölle im Katholizismus kein totes Holz ist, zeigt sich immer wieder. Hierzu nur zwei Beispiele: In den sechziger Jahren verfasste Georges PANNETON (1892-1978) ein zweibändiges Werk über Himmel und Hölle, in

 


 

34 Peter Stiegnitz: Sekten und Freikirchen; Religiöse Antworten auf psychologische Fragen und Bedürfnisse? Wien: hpt-Verlag 1989. S. 43.
35 In vielen Märchen und Sagen stehen die vergessene magische Formel und die Gefahren, die daraus erwachsen können, im Mittelpunkt. Man denke nur an die Geschichte vom Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird.
36 „Porro subesse Romano Pontifici omni humanae creaturae declaramus, dicimus et definimus, omnino esse de necessitate salutis.” (Carl Mirbt: Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus. Tübingen: Mohr – Siebeck 31922, S. 164.)
37 „Est autem haec auctoritas, etsi data sit homini, et exerceatur per hominem, non humana, sed potius divina potestas, ore divino Petro data, sibique suisque successoribus [...]. Quicunque igitur huic potestati a Deo ordninatae resistit, Dei ordinationem resistit […]”. (Carl Mirbt: Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus. Tübingen: Mohr – Siebeck 31922, S. 163-164.)


dem er mit bischöflicher Druckerlaubnis bekräftigt: „Es gibt eine Hölle und sie ist ewig. Dämonen und Verdammte haben darin in Ewigkeit ihren Aufenthalt.“38 Auch der neue Katechismus bekräftigt: „Die Lehre der Kirche sagt, dass es eine Hölle gibt und dass sie ewig dauert. Die Seelen derer, die im Stand der Todsünde sterben, kommen sogleich nach dem Tod in die Unterwelt, wo sie die Qualen der Hölle erleiden, ‚das ewige Feuer’.“39 Auch dem Islam ist die Vorstellung der Höllenfeuer nicht fremd. Der Koran enthält viele Stellen, in denen darauf hingewiesen wurde, zum Beispiel: „An jenem Tage werden die Ungläubigen vor das Höllenfeuer gestellt, und es wird zu ihnen gesagt: ‚Ist es nun nicht wahr geworden?’ Und sie werden antworten: ‚Bei unserem Herrn! Jawohl.’ Und Allah wird sagen: ‚So kostet nun auch die Strafe, weil ihr Ungläubige gewesen seid.’“40

Diese eingehende Beschäftigung mit dem Ort eines jenseitigen Strafgerichts entspringt immer wieder zu beobachtenden priesterlichen Bestrafungswünschen. Die Ausflüsse dieser Wünsche sind nicht bloß bei Strafpraktiken islamisch geprägter Staaten und Todesurteilsverkündigungen durch fundamentalistische Mullahs zu beobachten, auch christliche Kardinäle ergehen sich gerne in derartigen Vorstellungen, wobei sie ihr Bedauern, dass sie sich unter dem Einfluss der humanistisch-aufgeklärten Kultur etwas Zurückhaltung auferlegen müssen, kaum verhehlen können. Deutliche Worte fand in dieser Hinsicht der aus Österreich stammende Kardinal Alfons STICKLER (geb. 1910), der in einem Interview äußerte: „Ich habe gelernt, dass im zivilen wie auch im kirchlichen Strafrecht der Strafzweck ein dreifacher ist: Sühne für das, was man gegen das Recht getan hat; die Besserung und die Abschreckung. Heute hat man auf den Begriff der Sühne völlig vergessen, und das ist auch einer der Gründe, warum heute wieder so oft die Todesstrafe strikt abgelehnt wird. [...] Weitere Belege für die von Gott der weltlich-staatlichen Obrigkeit gegebenen Vollmacht, die Todesstrafe zu verhängen, stammen von Paulus im Römerbrief und von Petrus in seinem ersten Brief. [...] Der kirchlichen Obrigkeit ist diese Vollmacht nicht gegeben – sie schreckt zurück vor dem Blut; ja sie muss für die Begnadigung der zum Tod Verurteilten bitten. Das aber hebt die der weltlichen Obrigkeit ausdrücklich von Gott verliehene Vollmacht nicht auf.“41

Zwischen Priestern und Laien besteht somit eine seltsame Wechselbeziehung. Die Priester wollen die Laien beherrschen und bestrafen; die Laien wollen sich den Priestern unterwerfen und zeigen eine hohe Bereitschaft zu leiden. In Begriffen der Tiefenpsychologie ausgedrückt, besteht zwischen Priestern und Laien eine sadomasochistische Symbiose. So kann die religiöse Persönlichkeit in verschiedenen sadomasochistischen Ausprägungen auftreten, die sich beim Überwiegen der masochistischen Komponente darin schickt, unerträgliche Lebenssituationen als „Kreuz“ auf sich zu nehmen, oder sich in Bußübungen bis hin zu Selbstgeißelungen, Bußgürteln und ähnlichem ergeht. Es gibt aber auch die sadistische Ausprägung der religiösen Persönlichkeit, die von dem unstillbaren Bedürfnis getrieben ist, andere zu bekehren, ihnen den eigenen Glauben aufzuzwingen, bis hin zu den Charakteren der Hexenjäger und Inquisitoren.

Das Dogma – Die Entartung des Mythos

Mittel und Ausdruck des priesterlichen Machtanspruches ist das Dogma. Das Dogma – entweder als Bezeichnung für einen einzigen oder aber auch der Gesamtheit eines ganzen Systems theologischer Glaubenssätze verwendet – erfließt aus dem von den Priestern sich zugeschriebenen Naheverhältnis zu den höheren Mächten. Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass nur sie Gültiges über deren Wesen, deren Absichten und Pläne sagen können. Daraus folgt, dass die Priester keine Freiheit für eine persönliche Gotteserkenntnis zulassen können, um nicht den Ast abzusägen, auf dem sie sitzen. Darin liegt auch die Problematik jedweden Dogmas begründet:

Die Aussagen des Dogmas sind metaphysische, unbeweisbare Glaubenssätze, das heißt, sie werden nicht bewiesen und können es auch gar nicht werden. Das heißt, die gläubige Annahme derartiger Glaubenswahrheiten wird anbefohlen. Wie schon die eigentliche Bedeutung des Wortes Dogma – Beschluss – sagt, werden diese Glaubenssätze von einer Instanz beschlossen und ihre uneingeschränkte und allgemeine Anerkennung hängt von dem Ansehen dieser Instanz und von ihrer Macht ab, sie nötigenfalls zu erzwingen.

Eine zweite Schwachstelle des Dogmas liegt in seinem Inhalt. Es besteht in der Regel aus angeblich der Überprüfung durch die Vernunft nicht zugänglichen Behauptungen, allen voran der Behauptung der Existenz eines Gottes oder mehrerer Götter oder sonstiger überirdischer Wesen. Der ganze Komplex religiöser Dogmen steht jedoch in dauerndem Gegensatz zu der aus der allgemeinen Erfahrung stammenden Lebenswirklichkeit der Menschen, sodass das Priestertum, um das Dogma durchzusetzen, das Bestehen einer zweifachen Wahrheit, nämlich der auf Erfahrung beruhenden Vernunftwahrheit und der höherwertigen, auf Offenbarung beruhenden Glaubenswahrheit, behaupten muss. Die Annahme einer derartigen Behauptung ist nur unter der Bedingung der Aufgabe jedes verstandesmäßigen Denkens möglich. Dessen war sich auch schon PAULUS bewusst, weshalb in seinem Zweiten Brief an die Korinther die dortige Gemeinde anfeuert: „Wir stoßen alle Vernunftgründe und alles Hochfahrende um, das sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes, und wir nehmen jeden Gedanken gefangen, um ihn Christus gehorsam zu

 


 

38 Georges Panneton: Himmel oder Hölle (Le ciel ou l’enfer, 1955-1956). Innsbruck u.a.: Tyrolia Verlag 2 Bde 1961-1963. Bd 2: Die Hölle. S. 49.
39 Katechismus der katholischen Kirche. München, Wien: Oldenbourg u.a. 1993. Art. 1035.
4046. Sure, Al Ahkaf, 35. [L.-W. Winter (Hg.): Der Koran, Das heilige Buch des Islam. München: Goldmann 61978, S. 410.]
41 [Alfred Worm: „... soll mit dem Schwert getötet werden ...“; Kurienkardinal Alfons M. Stickler über die Todesstrafe, den Gehorsam, Pater Udo Fischer und Bischof Kurt Krenn, in: profil 19/93 (10.5.1993) S. 24.]


machen.“42 Ist man einmal so weit gekommen, so ist es nur mehr ein kleiner Schritt bis zur Haltung des Quintus Septimius Florens TERTULLIANUS (~160-~220), der vom Dogma sagte: „Es ist glaubhaft, weil es unsinnig ist [...] es ist gewiß, weil es unmöglich ist.“43

Ein dritter sehr fragwürdiger Punkt des Dogmas besteht darin, dass die Zustimmung zu ihm, der Glaube, nicht intellektuell, sondern moralisch bewertet wird. Wer das Dogma verwirft, ist ein Verworfener, er irrt nicht, sondern er frevelt. „Wer immer euch als Evangelium etwas verkündet außer dem, was ihr angenommen habt, er sei verflucht!“,44 gibt PAULUS aus Tarsos (3-62) hierzu den Ton an. Schärfer ist schon die Drohung, die PETRUS (gest. ~64) in seinem angeblichen Zweiten Brief gegen Irrlehrer ausstößt, wenn er schreibt: „Aber gleich vernunftlosen Tieren, die von Natur dazu geboren sind, eingefangen und vernichtet zu werden, werden diese Menschen in bezug auf Dinge, über die sie unwissend sind und lästerlich reden, auch Vernichtung erleiden.“45

Um ihn sich noch verfügbarer zu machen, betreibt das Priestertum häufig auch eine Vergeschichtlichung des Mythos. Diese Verbindung des Mythos mit der Geschichte forderte denn auch im Bereich des christlichen Kulturkreises schon sehr früh Kritik heraus.46 Wäre die Welterlösung tatsächlich ein Ereignis der Weltgeschichte, wandten die Kritiker an der Vergeschichtlichung des Mythos ein, dann bedürfe es keiner Vermittlung durch Priester mehr, denn eine göttliche Erlösungstat müsse wohl ebenso allumfassend sein wie es der Sündenfall der Menschen gewesen sei. Um nun das Dogma von der in der Geschichte stattgefunden habenden Welterlösung und damit auch die eigene Daseinsgrundlage zu retten, mussten es seine priesterlichen Verteidiger mit weiteren Geschichtsklitterungen stützen. Die dergestalt verfeinerte Lehre besagte dann, dass die Welt zwar grundsätzlich, aber nicht tatsächlich erlöst worden sei. Die tatsächliche Erlösung jedes Menschen sei eben die Aufgabe der Priester. Diese Aufgabe sei auch zugleich ein Auftrag, dem fallweise auch mit mehr oder weniger sanftem Nachdruck zum Erfolg verholfen werden müsse. „Zwingt sie, einzutreten!“, nämlich in die Kirche, forderte Aurelius AUGUSTINUS47 (354-430) bereits im Jahre 411 von den Vertretern der Staatsgewalt in bezug auf die Donatisten.

 Damit ist der Weg jedweden Dogmas gewiesen. Da seine Annahme nicht durch Beweisführung und Begründung erwirkt werden kann, wird eher früher als später zur Gewalt als ultima ratio gegriffen, wenn es um seine Durchsetzung geht. Deshalb kann das Priestertum nicht auf die staatlichen Zwangsmittel verzichten, will es seine Machtstellung behaupten. Es entwickelt sich daher auch eine enge Symbiose zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Die weltliche Macht stützt die geistliche, indem sie die religiösen Vorschriften zur Richtmaß ihrer Gesetzgebung nimmt, während die geistliche Macht die weltliche durch die Ableitung aller Obrigkeit von der Herrschergewalt Gottes legitimiert. Im Rahmen dieser Symbiose bleibt die geistliche Macht so lange die stärkere, wie ihr Zugriff auf das Gewissen der Menschen ungeschwächt ist. Denn dann hat es das Priestertum in der Hand, der weltlichen Macht die Legitimierung in den Augen der Menschen zu entziehen, sollte sie sich als störrisch erweisen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, sind die Bemühungen des Vatikans, der hierbei als Speerspitze für alle anderen Religionsgemeinschaften Europas handelt, um die Aufnahme eines Gottesbezuges in die künftige europäische Verfassung verständlich.

„Der Mythos begann zu entarten, als er in eine Doktrin umgewandelt wurde, das heißt in ein Gebilde, das eines Beweises bedurfte und einen Beweis suchte“, schreibt Leszek KOLAKOWSKI48 mit Blick auf die vorhin nachgezeichnete Entwicklung. Der Mythos ist, wie bereits gesagt worden ist, der Versuch des Menschen, der Welt einen Sinn zu unterlegen, das heißt sie so zu betrachten, als ob sie – in Analogie zu seinen eigenen Schöpfungen – einen Sinn hätte. Somit geht es dem Mythos auch gar nicht so sehr darum, im wissenschaftlichen Sinn wahr zu sein. Der Mythos erklärt die Welt, aber er erforscht sie nicht. Anders das Dogma. Es versucht sich – vor allem in der Konkurrenz zu der sich emanzipierenden Philosophie und den Wissenschaften – selbst den Anstrich einer Wissenschaft zu geben. Mit dem Zugriff des Dogmas auf den Mythos wurde dieser seiner Kraft, die Menschen zu ergreifen – ergriffen zu machen – beraubt. Dadurch wurde er dem menschlichen Verstand und der Kritik überantwortet, die sich an seinen Widersprüchen und Ungereimtheiten festbissen und ihren Spott über ihn ausgossen, wie es beispielsweise der Nobelpreisträger für Physik des Jahres 1979, Steven WEINBERG (geb. 1933),tat, als er der Einleitung zu seinem Buch über die Entstehung des Weltalls schrieb: „Eine Erklärung für die Entstehung der Welt finden wir in der ›Jüngeren Edda‹ [...] Am Anfang, so heißt es dort, gab es nichts. ‚Da war nicht Erde unten, noch oben Himmel, Gähnung grundlos, doch Gras nirgend.’ Nördlich und südlich des Nichts erstreckten sich eisige und feurige Welten, Nebelheim und Muspellheim. Die von Muspellheim ausgehende Hitze brachte das Eis von Nebelheim zum Schmelzen und aus den

 


 

42 2 Ko 10, 5-6: „et omnem altitudinem extollentem se adversus scientiam Die et in captivitatem redigentes omnem intellectum in obsequium Christi“ [Roger Gryson (Hg.): Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 41994, S. 1798.]
43 Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte. Tübingen: Mohr 131971. § 17e. Das geflügelte Wort „credo quia absurdum est“ – ich glaube es, weil es unsinnig ist – stammt in dieser Form nicht von TERTULLIANUS, sondern aus unsicherer Quelle. Es trifft aber den Sachverhalt.
44 Gal 1, 9: „si quis vobis evangelizaverit praeter id accepistis anathema sit“ [Roger Gryson (Hg.): Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 41994, S. 1802.]
45 2 Pe 2, 12: „hii vero velut inrationabilia pecora naturaliter in captionem et in perniciem in his quae ignorant blasphemantes in corruptione sua et peribunt” [Roger Gryson (Hg.): Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 41994, S. 1871.]
46 Die bedeutendsten dieser Kritiker waren die Philosophen KELSOS im zweiten und PORPHYRIOS im dritten Jahrhundert.
47 Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte. Tübingen: Mohr 131971. § 25k.
48 Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 15


herabfallenden Tropfen entstand ein Riese namens Ymir. Wovon ernährt sich Ymir? Außer ihm gab es offenbar noch eine Kuh namens Audhumla. Und wovon ernährte sie sich? Nun, es gab außerdem salzige Steine. In diesem Sinne geht es mit dem Mythos weiter. Ich möchte niemandes religiöse Empfindungen verletzen, auch nicht die der Wikinger, aber ich glaube, man darf dennoch sagen, dass hier keine sonderlich befriedigende Darstellung der Anfänge des Universums vorliegt.“49

Es war aber weniger der Mythos, es war vor allem die Religion, die durch das Dogma nachhaltig beschädigt wurde. Wie seine Aussagen sich als unsinnig erwiesen haben, wurde auch der Gegenstand, über den es etwas aussagte, als unsinnig erachtet. Der in den heiligen Schriften mit so großartigen und furchterregenden Zügen ausgestattete Gott wurde nun als mitleiderregender, siecher, sterbender Greis gesehen. Heinrich HEINE (1797-1856) zeichnete diese Entwicklung mit feinem Spott nach: „Unsere Brust ist voll von entsetzlichem Mitleid – es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet. Wir haben ihn so gut gekannt, von seiner Wiege an, in Ägypten, als er unter göttlichen Kälbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wurde. Wir haben ihn gesehen, wie er diesen Gespielen seiner Kindheit und den Obelisken und den Sphinxen seines heimatlichen Niltales ade sagte und in Palästina, bei einem armen Hirtenvölkchen, ein kleiner Gottkönig wurde und in einem eigenen Tempelpalast wohnte. Wir sahen ihn späterhin, wie er mit der assyrisch-babylonischen Zivilisation in Berührung kam und seine allzu menschlichen Leidenschaften ablegte, nicht mehr lauter Zorn und Rache spie, wenigstens nicht mehr wegen jeder Lumperei gleich donnerte. Wir sahen ihn auswandern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurteile entsagte und die himmlische Gleichheit aller Völker proklamierte und mit solchen schönen Phrasen gegen den alten Jupiter Opposition bildete und so lange intrigierte, bis er zur Herrschaft gelangte und vom Kapitole herab die Stadt und die Welt, urbem et orbem, regierte. Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philanthrop – es konnte ihm alles nichts helfen. Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder. Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte.“50 Hierin liegt die Bedeutung der geflügelt gewordenen Worte „Gott ist tot“51 von Friedrich NIETZSCHE (1844-1900). Gott ist tot – bei Lichte besehen waren es die Priester, die ihn getötet haben.

Gott und Teufel

Gott ist also tot. Dies dürfte aber weithin unbemerkt geblieben sein, denn noch immer sprechen die Priester magische Worte, noch immer vollziehen sie rituelle Handlungen, noch immer beanspruchen sie die Macht über die Menschen. Mögen diese auch nicht mehr so willfährig sein wie in früheren Jahrhunderten und den Priestern aufmüpfiger gegenüberstehen – dies ist vielleicht der einzige Erfolg, den die aufklärerische Religionskritik an ihre Fahnen heften kann –, so besteht in vielen Menschen doch immer noch der Glaube, dass es doch „irgend etwas geben“ müsse, wie immer dieses Etwas auch beschaffen sein mag.52 Daraus erklärt sich wohl auch der Umstand, dass das 19. Jahrhundert nicht nur das Jahrhundert der bedeutendsten wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern auch das der Religionsgründungen war, wie die nachstehende Tabelle deutlich macht.

Tabelle 3:
Wissenschaft und Religiosität im 19. und 20. Jahrhundert (in Auswahl)

Naturwissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen

Erfindungen

Jahr

Land

Religiöse und esoterische Bewegungen und Gruppen

Wellentheorie des Lichts

Augustin Jean Fresnel

Frankreich

1815

 

 

Atomgewicht

Jöns Jakob von Berzelius

Schweden

1818

 

 

Magnetismus

Hans Christian Ørsted

Dänemark

1819

 

 

Schiffschraube

Josef Ressel

Österreich

1827

 

 

 

 

1830

USA

Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen)

Joseph Smith

Elektrisches Induktions-Gesetz

Michael Faraday

Großbritannien

1831

 

 

Schreibtelegraf

Samuel Finley Breese Morse

USA

1837

 

 

 

 

1840

Österreich

Lorber-Gesellschaft

Jakob Lorber

 

 

1844

Persien

Bahai

Mirza Ali Muhammed

Entdeckung des Neandertalers

Johann Karl Fuhlrott

Deutschland

1856

 

 

Evolutionstheorie

Charles Robert Darwin

Großbritannien

1859

 

 

Vererbungsregeln

Johann Gregor Mendel

Österreich

1863

Großbritannien

Neuapostolische Kirche

 

 

1865

Großbritannien

Societas Rosicrucianum in Anglia

Dynamomaschine

Ernst Werner von Siemens

Deutschland

1867

 

 

Periodisches System der Elemente

Dmitrij I. Medelejew

Russland

1869

 

 

Deszendenztheorie

Charles Robert Darwin

Großbritannien

1871

 

 

 

 

1874

USA

Zeugen Jehovas (Ernste Bibelforscher)

Charles Taze Russell

 

 

1875

USA

Theosophische Gesellschaft

Helena P. Blavatsky

Benzinmotor

Nikolaus August Otto

Deutschland

1876

 

 

Telefon

Alexander Graham Bell

USA

1876

 

 

 

 

1884

Deutschland

Gemeinschaft in Christo Jesu (Loenzianer)

Emil Hermann Lorenz

Elektromagnetische Wellen

Heinrich Rudolf Hertz

Deutschland

1888

 

 

 

 

1893

USA

Koreshan Vereinigung

Cyrus Teed

Röntgenstrahlen

Wilhelm Konrad Röntgen

Deutschland

1895

 

 

Drahtlose Telegrafie

Guglielmo Marconi

Italien

1897

 

 

Radioaktivität

Marie Skłodowska Curie

Frankreich

1898

 

 

Quanten-Theorie

Max Planck

Deutschland

1900

 

 

Luftschiff

Ferdinand Graf Zeppelin

Deutschland

1900

Österreich

Ordo Novi Templi

Jörg Lanz-Liebenfels

 

 

1901

Deutschland

Ordo Templi Orientis

Carl Kellner

Motorflug

Wilbur und Orville Wright

USA

1903

 

 

Relativitätstheorie

Albert Einstein

Schweiz

1905

 

 

 

 

1906

Großbritannien

Astron Argon

Aleister Crowley

 

 

1909

USA

The Rosicrucian Fellowship

Max Heindel

 

 

1911

Österreich

Hoher Armanen Orden

Guido List

 

 

1912

USA

Peace Mission

George Baker (Father Divine)

Atommodell

Niels Bohr

Dänemark

1913

Schweiz

Anthroposophische Gesellschaft

Rudolf Steiner

 

 

1915

Österreich

Gralsbewegung

Oskar Ernst Bernhardt (Abd-ru-shin)

 

 

1916

USA

Antique Mystic Order Rosae Crucis (AMORC)

H. Spencer Lewis

 


 

49 Steven Weinberg: Die ersten drei Minuten; Der Ursprung des Universums (The First Three Minutes; A Modern View of the Origin of the Universe, 1977). München, Zürich: Piper 1977. S. 17.
50 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in 12 Bänden. Bd 5: Schriften 1831 - 1837. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. S. 590/591.
51 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Kap. 108 (1886). In: Karl Schlechta (Hg.): Friedrich Nietzsche – Werke in drei Bänden. Bd 2. München: Hanser 1994, S. 115.
52 Ein Beispiel hierfür bietet der international bekannte deutsche Kernphysiker Harald FRITZSCH (geb. 1943), der seinem Buch über die Entstehung und das mögliche Ende des Weltalls am Ende ein Kapitel mit Überlegungen über die Vereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaft beziehungsweise über eine allfällige Natur Gottes anhängte, obwohl er zuvor während seiner ganzen Darlegungen ohne die Annahme eines göttlichen Eingreifens in das Geschehen im Weltall ausgekommen war. (Harald Fritzsch: Vom Urknall zum Zerfall; Die Welt zwischen Anfang und Ende. München, Zürich: Piper 21983, S. 325-338.)


Das Wesen Gottes

Der Gott der monotheistischen Religionen ist eindeutig als übersteigerte Vorstellung eines Königs zu erkennen. Seine königliche Macht wird zur Allmacht überhöht, er ist umgeben von einem hierarchisch gestaffelten Hofstaat und Heer von Engeln, Cherubim und Seraphim, an deren Spitze gleich den Ministern eines irdischen Königs die Erzengel stehen. Doch nicht nur die Herrlichkeit der Könige ist in Gott übersteigert, auch ihre Schattenseiten. Der Zorn Gottes ist schrecklich und kann bis zur Auslöschung des Menschengeschlechts gehen. Die Menschen sind gleich den Untertanen eines Königs seinen Launen ausgeliefert, und jede Wohltat, die er ihnen erweist, erfahren sie in dem Bewusstsein ihrer Unverdientheit. Wie vor einem irdischen König erniedrigen sich die Menschen vor ihrem Gott, indem sie beim Gebet in die Knie sinken oder sich zu Boden werfen und sich ihrer Unwürdigkeit im Vergleich zu ihm bezichtigen. Und sie schmeicheln ihm auch, indem sie unausgesetzt seine Größe, seine Gnade, seine Güte und seine Liebe preisen. Das ist das Bild Gottes, wie es die Propheten und Priester entworfen und immer weiter ausgestaltet haben. Einerseits soll die Großartigkeit des so dargestellten Gottes Eindruck auf die Laien machen und andererseits auch das Ansehen der Priester heben: Was für großartige, erhabene Menschen müssen sie sein, wenn sie mit diesem gewaltigen Himmelskönig in Verbindung treten, in seinem Namen Handlungen setzen können, an die selbst Er sich gebunden fühlt.

Neben dieser offiziellen Seite hat Gott auch eine mehr private, wenn er gleichsam als überhöhter Vater die Anlehnungsbedürfnisse der Menschen erfüllt. Es sind vor allem drei Funktionen, die ihm diesbezüglich von den Menschen zugewiesen werden:53

Gott ist der unendliche Sinngarant: Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass es ein Urbedürfnis des Menschen ist, die Welt geordnet und sinnvoll zu begreifen. Wie stark dieses Bedürfnis ist, zeigt sich daran, dass der Mensch sogar versucht, selbst in das verwirrende Bild des bestirnten Nachthimmels eine Ordnung zu bringen, indem er es zu Sternbildern gruppiert, damit aus dem Chaos ein Kosmos54 werde. Ebenso bedarf der Mensch der Gewissheit, dass sein Leben einen Sinn habe. Er ist immer auf der Suche nach einem Sinn, und er erträgt nichts weniger als die allgemeine Sinnlosigkeit, die ihm so oft aus dem Leben der einzelnen wie der Völker entgegenstarrt. Da aber das All anscheinend völlig sinnlos ist, bringt der Mensch unablässig Vorstellungen hervor, die einen Sinn im Weltgeschehen mutmaßen lassen. Die letzte und sicherste Gewährleistung dafür, dass hinter allem, was vorkommen mag, und sei es auch noch so schrecklich, ein Sinn vorhanden ist, übersteige er auch das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes, ist Gott

Gott ist das absolute Du: Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Er kann als vereinzeltes Individuum nicht auf Dauer leben ohne Schaden an seiner seelischen Gesundheit zu nehmen. Er bedarf eines Gegenübers, mit dem er sich austauschen kann. In der modernen Massengesellschaft mit ihren Merkmalen der technokratischen Anonymität, der Asozialität und Unsolidarität entbehren immer mehr Menschen eines lebendigen Gegenübers. Sie schaffen sich dann ein irreales, ein fantasiertes Gegenüber, an das sie sich in ihrer Einsamkeit unter all den anderen Menschen wenden können, ein Gegenüber, das immer und überall für sie da ist.55Mit diesem Gegenüber führen sie dann ihre inneren Monologe, die sie jedoch als Dialoge mit Gott missverstehen.

Gott ist das Ich-Ideal: Die vielfachen Einschränkungen, die die Gesellschaft der freien Entfaltung der Persönlichkeit entgegenstellt, führen dazu, dass die Menschen die Entfaltung ihres Ichs in wunscherfüllenden Phantasien außerhalb ihres engen Lebenskreises verlegen. Sie suchen sich ein „Ich-Ideal“. Dieses kann eine herausragende Persönlichkeit der Geschichte sein, der sie sich verbunden fühlen und die Vorbildcharakter für sie hat. Dieses kann ein Zeitgenosse oder eine Zeitgenossin sein, deren Überlegenheit man sich unterwirft, um an ihr teilzuhaben. Allen narzisstischen Größenvorstellungen und Allmachtsfantasien kommen aber am vollkommensten die Vorstellungen eines allmächtigen Gottes und eines Naheverhältnisses zu ihm entgegen. Ich-Ideal und Gottesvorstellung verschmelzen dann zu einem fast ununterscheidbaren Ganzen, das zum kostbarsten Seeleninhalt und zur Zielvorstellung alles Seins und Werdens wird.

Es ist vor allem dieses private Gottesbild, das sich jeder Religionskritik am beharrlichsten entzieht. Während der Himmelskönig mit seinen Thronen und Heerscharen, mit seinen Cherubim und Seraphim auf die meisten Menschen keinen Eindruck mehr macht, bleibt der Himmelvater für sie nach wie vor unentbehrlich. Darin liegt aber auch eine gewisse Gefahr, denn welcher Gott es auch immer ist, dem die Menschen zu zuwenden – sei der allmächtige und ewige Gott der Priester oder sei es derjenige der privaten Wunschvorstellungen –, er enttäuscht diese Grundbedürfnisse nach einem Gegenüber nie, sodass sich der Mensch lieber diesem fantasierten Gegenüber anvertraut als einem realen, das keine Gewähr gegen Enttäuschungen bietet.

 


53 Die diesbezüglichen Ausführungen folgen: Josef Rattner: Tiefenpsychologie und Religion. Ismaning: Hueber 1987. S. 194-196.
54 Das griechische Wort „kosmoV“ bedeutet so viel wie Ordnung.
55 Ausdruck dessen ist das Kirchenlied: „Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Wem künd’ ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz? Zu Dir, zu Dir, o Vater, komm’ ich in Freud’ und Leiden. Du sendest ja die Freuden, Du heilest jeden Schmerz.“ (Cantate – orate; Lieder- und Gebetbuch für katholische Mittelschüler. Linz: Veritas Verlag 1952. S. 51/52.)


Das Wesen des Teufels

Wie alle Gefühle, so sind auch die Gefühle der Demut, der Frömmigkeit, der Liebe gegenüber Gott ambivalent56. Da nun in allen Religionen die Menschen wieder zu Kindern werden, die ihre Götter und Priester als Eltern betrachten, ist die Ambivalenz ihrer Gefühle diesen gegenüber besonders heftig, und ebenso heftig sind die Ängste vor der Bestrafung für die „bösen“ Regungen ihnen gegenüber. Diese Regungen werden daher vom göttlichen Ich-Ideal abgespalten und auf eine andere Figur projiziert – auf den Geist des Bösen. Diese Personifizierung des Bösen ist daher in den sogenannten monotheistischen Religionen untrennbar wie ein Schatten mit Gott verbunden. In der Religionsgeschichte lässt sich beobachten, dass die Personifizierung des bösen Prinzips in gleicher Weise an Größe und Macht zunimmt wie sich aus der Schar der Götter ein Vatergott erhebt, alle anderen entweder verdrängt oder zu niederen Geistern hinabdrückt und zum allmächtigen Himmelskönig emporwächst. Schon in der Religion des ZARATHUSHTRA (~630-~550) stand dem guten und weisen Gott Ahura Mazda sein Zwillingsbruder, der böse Gott Angra Mainyu gegenüber. Der jüdische Gott Jahwe findet seinen Widersacher in Satan, dem klügsten und schönsten der Engel. Dieselbe Gegnerschaft findet sich im Christentum, wo einander Gott und Teufel gegenüberstehen, und im Islam, wo Allah in Iblis den Gegenspieler findet, den er nicht überwinden kann. Zwar mag in allen diesen Religionen behauptet werden, dass der Widersacher Gottes gleichsam nur von dessen Gnade lebt und am Ende der Zeiten endgültig niedergeworfen werden wird, so ist es doch eine unleugbare Tatsache, dass das Übel und Leid in der Welt offensichtlich ist und der dauernden Erklärung seines Vorhandenseins angesichts eines gütigen Gottes bedarf, während der endgültige Sieg Gottes lediglich eine Zukunftshoffnung darstellt. Von dieser Warte aus betrachtet, sind alle Eingottreligionen im Grunde Zweigottreligionen.

Als Gegenbild zu dem guten Gott und als Verkörperung der von den Religionen verpönten Wesenszüge des Menschen kann man an der Gestalt des Teufels die folgenden Eigenschaften ausmachen:57

Der Teufel ist der Repräsentant der Rebellion und des Machtwillens. Er hat von Anfang an gegen Gott rebelliert und wurde von diesem in die Unterwelt verstoßen, von wo aus er weiterhin versucht, die göttlichen Pläne zu durchkreuzen. So verführt er die ersten Menschen, und seither sind alle Menschen, die sich gegen die bestehenden Verhältnisse auflehnen, verdächtig, mit ihm im Bunde zu stehen. Der Teufel kann somit durchaus als Vorkämpfer der menschlichen Autonomie gegenüber der Unterwerfung des Menschen unter Herrschafts- und Machtinteressen gelten.

Der Teufel ist der Repräsentant der Intelligenz.58 Er verkörpert Klugheit, Vernunft, List und Verschlagenheit und lehnt jede blinde Gläubigkeit ab. Es ist nur folgerichtig, dass die Priester aller Religionen in der Wissenschaft und im Erkenntnisdrang Werke und Wirkungen des Teufels erkennen und Wissenschafter als Teufelssöhne und Zauberer bei den Menschen in Misskredit zu bringen versuchten und teilweise immer noch versuchen.

Der Teufel ist der Repräsentant der Sexualität. Häufig wird der Teufel auch mit wüsten und perversen Orgien seiner Anhängerinnen und Anhänger in Verbindung gebracht, bei denen er im Mittelpunkt steht. Vor allem das leib- und lustfeindliche Christentum hob diese Züge des Teufels besonders hervor.

Der Teufel ist der Repräsentant des Ekels. Oft wird bei Beschreibungen des Teufels hervorgehoben, dass seine Welt ein Bereich des Schmutzes, des Gestanks und des Ungeziefers sei. Wo immer er erscheint, umweht ihn der Geruch nach Kot und Schwefel. Die Hölle ist nicht nur ein Ort der Quälerei, sondern auch eine riesige, stinkende Kloake, in der die gemarterten Seelen im Dreck ersticken. Die Hölle und der Teufel werden auf diese Weise zum grellen Gegenbild des Lichtes und der Reinheit des Himmels und Gottes.

Der Teufel ist aber auch Ausdruck der Paranoia, in die die Menschen von den monotheistischen Religionen getrieben werden. Diese Paranoia, dieser Verfolgungswahn ist eine treibende Kraft dafür, dass überall die Machenschaften des Satans gewittert werden, die auszurotten ein verdienstvolles Werk ist, um die Liebe des gestrengen Königs im Himmel zu gewinnen. Angefeuert von den Ausrottungsfantasien gegenüber den Feinden Jahwes im Alten Testament, die auch Eingang in das Neue Testament und den Koran gefunden haben, ergingen und ergehen sich Juden, Christen, Muslime und Fundamentalisten jeglicher Art in Pogromen, Kreuzzügen, Heiligen Kriegen, Terroranschlägen und Todesdrohungen.

Wenn vorhin davon die Rede war, dass die Aufklärung mit ihrer Kritik an den religiösen Dogmen wesentlichen Anteil am Tod Gottes hat, so gilt dies auch für den Teufel. Auch er stirbt, aber er stirbt auf eine andere Weise. Seit Beginn des vorigen Jahrhunderts gewinnt der Teufel in der Literatur zunehmend angenehmere Züge. Er

 



56 „Das heißt, daß je nach den Umständen Gefühle der Liebe und ebenso intensive Gefühle des Hasses miteinander abwechseln. [...] Diese [...] Ambivalenz ist normalerweise in gewissem Umfang das ganze Leben hindurch vorhanden, aber für gewöhnlich ist sie in der späteren Kindheit wesentlich weniger stark ausgeprägt [...], und in der Adoleszenz und im Leben des Erwachsenen ist sie noch schwächer. Es ist zuzugeben, daß das Nachlassen der Ambivalenz oft mehr scheinbar als wirklich ist. Die bewußten Gefühle gegenüber dem Objekt spiegeln oft nur die eine Hälfte der Ambivalenz wider, während die andere Hälfte im Unbewußten gehalten wird, trotzdem aber auf das psychische Leben des Betreffenden eine starke Wirkung ausübt. [Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 99.]
57 Die diesbezüglichen Ausführungen folgen Josef Rattner: Tiefenpsychologie und Religion. Ismaning: Hueber 1987. S. 202-204.
58 Es ist bezeichnend, dass ein Name des Teufels in der christlichen Religion Luzifer lautet, abgeleitet vom lateinischen „lucifer“ – Lichtträger.


wird zum Lichtbringer, zum Aufklärer, dessen Aufstand gegen Gott in den berechtigten Zweifeln an dessen Güte und Gerechtigkeit begründet ist,59 bis sich zuletzt sogar die Rollen vertauschen.60 Es ist zuletzt der Teufel, der den paranoiden Dualismus von gut und böse aufhebt und zu einer dialektischen Einheit zusammenfügt, wenn er dem Abgesandten Gottes entgegenschleudert: „Willst du nicht so gut sein, einmal darüber nachzudenken, was dein Gutes täte, wenn das Böse nicht wäre, und wie alle Erde aussähe, wenn die Schatten von ihr verschwänden? Kommen doch die Schatten von den Dingen und den Menschen. Da ist der Schatten meines Degens. Aber es gibt auch die Schatten der Bäume und der Lebewesen. Du willst doch nicht etwa den Erdball kahl scheren, alle Bäume und alles Lebende von ihm entfernen und deine Phantasie an nacktem Licht ergötzen? Du bist dumm.“61 Lediglich die Religionen halten am überkommenden Bild des Teufels fest,62 und bestätigen damit, was Theodor REIK (1888-1969) bereits im Jahr 1922 festgestellt hat: „Wer den Teufel wirklich abschafft, kann an Gott nicht mehr glauben, denn die beiden Gestalten sind nur die einander ergänzenden Teile eines früher einheitlichen Ganzen.“ 63

DIE IDEOLOGIE

Die Dogmenkritik der Aufklärung hat zwar, wie bereits gesagt wurde, die Religion nachhaltig beschädigt, zumindest in den Augen der Menschen, auf die die weltanschaulichen Folgen des aufklärerischen Denkens nicht ohne Einfluss geblieben sind. Der Mythos blieb davon jedoch weitgehend unberührt. Lediglich seine masochistisch geprägte Spielart, die aus dem Bewusstsein des Verschuldens erwächst, hat an Bedeutung verloren. Der aufgeklärte, selbstbewusste Mensch konnte sich nicht dazu verstehen, sich als von vornherein schuldig zu sehen. Ganz im Gegenteil, die Aufklärung beinhaltet den Auftrag an den Menschen, mit Hilfe der Vernunft und des Verstandes die Gebrechen der Welt und der Gesellschaft zu beheben. Es gewann also die narzisstisch-sadistische Spielart des Mythos an Gewicht, die dem Bewusstsein des Gläubigers entspringt, das heißt der Mythos, der in seinen Bildern die Verheißungen der Zukunft darstellte. Eine der Ursachen für diese Bedeutungsverschiebung liegt in dem, was Max WEBER (1864-1920) als „Entzauberung der Welt“ im Gefolge des Erkenntniszuwachses der Wissenschaften bezeichnet hat. „Die zunehmende Intellektualiseirung und Rationalisierung bedeutet [...] nicht, eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht“, erläutert WEBER den zum geflügelten Wort gewordenen Begriff, „sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran, daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gibt, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Dies aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“64 Diese zog als Ergebnis nach sich, dass von den seit ARISTOTELES (384-322) geltenden Weltbild des Stufenbaus der Natur die zwei oberen Stufen, die für Gott und die Geistwesen standen, abgetragen wurden und der bisher in der Mitte über den Tieren, Pflanzen und der unbelebten Natur angesiedelte Mensch dadurch auf der obersten Stufe zu stehen kam. Diese neue Welt- und Menschenbild regte in den gebildeten Kreisen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine bunte Vielfalt von philosophischen und wissenschaftlichen Entwürfen an. „Niemand wußte genau, was im Werden war“, beschrieb Robert MUSIL (1880-1942) in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« diese Aufbruchstimmung, „niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagte jeder davon, was ihm paßte. Aber überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen. Allenthalben war plötzlich der rechte Mann zur Stelle; und was so wichtig ist, Männer mit praktischer Unternehmungslust fanden sich mit den geistig Unternehmungslustigen zusammen. Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft.“65

Aus diesem Amalgam an Anschauungen und Vorstellungen entwickelten sich die Mythen der Moderne, die „Großen Erzählungen“ wie sie Jean-François LYOTARD (1924-1998) genannt hat, die nach der Entzauberung der Welt deren Sinn und den

 


 

59 Einzelheiten dazu in: Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur; Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Kröner 31970. S. 657-661. (Stichwort „Satan“)
60 In dem Roman »Der Meister und Margarita« von Michail BULGAKOW (1891-1940) kommt der Teufel in Gestalt des Professors Voland in das Moskau der dreißiger Jahre, wo er die Stolzen beugt, die Bösen bestraft und die Sanftmütigen belohnt.
61 Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita (Мастер и Маргарита, 1929/39). München: Deutscher Taschenbuch Verlag 21980. S. 353/354.
62 Katechismus der katholischen Kirche. München, Wien: Oldenbourg u.a. 1993. Art. 391-395.
63 Zitiert bei: Patrizia Giampieri-Deutsch: Die Psychoanalyse des Teufels. In: Anton Szanya (Hg.): Religion auf der Couch; Von den unbewussten Wurzeln himmlischer Mächte. Wien: Picus Verlag 1993, S. 91.
64 Max Weber: Vom inneren Beruf zur Wissenschaft (1919). In: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber; Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik. Stuttgart: Kröner 1956, S. 317. Hervorhebungen im Original.
65 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 55.
66 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen; Ein Bericht (La condition postmoderne, 1979). Graz, Wien: Böhlau 1986.


der Menschheit nun nicht mehr in den unerforschlichen Ratschlüssen höherer Mächte suchten, sondern hier auf Erden zu finden vermeinten. Vereinfacht gesagt, schlugen diese Großen Erzählungen in der Hauptsache zwei Themen an:

Das eine Thema war die Annahme, dass mit der Erweiterung der Kenntnisse der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, die Menschen sich endgültig von jeglichem unvernünftigen Aberglauben befreien und zu einem friedvollen Zusammenleben führen könnten. Diese Annahme war unter anderem auch eine der beflügelnden Kräfte der Volksbildungsbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts. Außerdem war in dieser auch enthalten, dass mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften der Mensch auch in den Stand gesetzt würde, die Natur zu beherrschen. Zu einem nicht geringen Teil kann in dieser Vorstellung auch die narzisstisch-magische Natur des Menschen zum Ausdruck, indem man glaubte, die Flucht der Erscheinungen durch die Einschreinung in ein ausgeklügeltes Ordnungssystem bannen zu können. Carl von LINNÉ (1707-1778) schuf im Jahr 1735 ein solches Werkzeug mit seinem »Systema naturae«, einer durchgehenden hierarchischen Ordnung und Klassifizierung aller damals bekannten Pflanzen und Tiere. „Schon sein Ordnungswille, der den ganzen Kosmos in einem System von Bildern und Begriffen zu fassen suchte, nährte sich aus jener narzißtischen Energie“,67 beschrieb Mario ERDHEIM (geb. 1940) dieses beharrliche Streben des Menschen nach Ordnung und Übersicht.

Das zweite Thema war die Vorstellung, dass die Entdeckung der Ablaufgesetze der Geschichte knapp bevorstehe oder sogar bereits erfolgt wäre. „Während wir also früher die Entstehung der Welt als einen Schöpfungsakt auffaßten, welcher in der Erschaffung des Menschen als des vollkommensten und vornehmsten aller Geschöpfe seinen endgiltigen Abschluß gefunden hat“, schrieb Moritz von REYMOND (Lebensdaten unbekannt) in seiner im Jahr 1893 erschienenen zweibändigen »Weltgeschichte«, „sehen wir jetzt alles Bestehende als das Ergebnis eines Entwickelungsprozesses an, der an und für sich nicht an zeitliche und räumliche Grenzen gebunden ist, obgleich er sich unserem Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen nur innerhalb solcher Grenzen darstellt.“68 Indem REYMOND den Verlauf der Geschichte ähnlichen Gesetzmäßigkeiten unterwirft, wie es Charles Robert DARWIN (1809-1882) in seiner Evolutionstheorie mit der Entwicklungsgeschichte des Lebens getan hat, wird ihre Erforschung erst richtig zu einem Bestandteil der Bildung. „Weit entfernt, durch diese Auffassung an wissenschaftlichem und sittlichem Wert zu verlieren, kann die Weltgeschichte vielmehr nur dann zu einem wahrhaften, fruchtbringenden Bildungsmittel für den einzelnen, wie das Menschengeschlecht in seiner Gesamtheit werden, wenn sie sich auf die natürliche Grundlage des Entwickelungsgesetzes stellt [...].“69 In diesem Sinne stellte sich für REYMOND die Weltgeschichte als eine Aufeinanderfolge von Kulturkämpfen dar, vom urgeschichtlichen „Zeitalter des Kulturkampfes ums Dasein“ bis zum „Zeitalter des wissenschaftlichen und nationalen Kulturkampfes“, das in etwa mit der Französischen Revolution begann und bis in seine Zeit reicht, und deren Fortsetzung in einem sozialen Kulturkampf sich bereits ankündigt. „Der ‚vierte Stand’ [...] hat der bestehenden Gesellschaftsordnung [...] den Krieg erklärt und sammelt seine Massen unter der Fahne der ‚Sozialdemokratie’“, schloss REYMOND sein Werk. „Der soziale Krieg tritt, einer Wetterwolke gleich, auf die Bildfläche, und wie auch sein Ausgang sein mag, er wird jedenfalls im nächsten Abschnitte der Entwickelungsgeschichte der Kulturmenschheit die wichtigste Rolle spielen.“70 Sah REYMOND noch den Klassenkampf, sah ein gewisser Hans ZACHE (Lebensdaten unbekannt), seines Zeichens Regierungsrat und Bezirksamtmann a. D., etwa dreißig Jahre später einen anderen Kampf bevorstehen: „Sollte gar einmal der große Rassenkampf der Welt beginnen, den viele Sachkenner für unvermeidbar halten, – nur über das wann ist man sich noch nicht einig –, [...] scheint [es] nicht ausgeschlossen, daß Deutschland einmal dazu berufen ist, Afrika für Europa zu retten.“71

Aus den Worten REYMONDS und auch ZACHES ist ein Geschichtsbild zu erkennen, das durch eine Übertragung der von Charles DARWIN geprägten Vorstellung, wonach die vorherrschende Triebkraft für den stetigen Fortgang der Weiterentwicklung der Lebensformen im „Kampf ums Dasein“ bestünde, auf den Ablauf der Menschheitsgeschichte bestimmt ist. Bei REYMOND weniger deutlich als bei ZACHE schimmert in diesem Weltbild auch die Vorstellung durch, dass das Endziel oder der Endzweck aller dieser Kämpfe letztlich die Überwindung aller Gegner und Feinde durch das Deutschtum sein werde. Dass dies Vorstellung sogar die Form eines Glaubens wider alle Vernunft annehmen kann, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel ZACHES, der fast zehn Jahre nach dem Verlust der Kolonien Deutschlands mit dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg noch immer eine weltpolitische Rolle Deutschlands als Kolonialmacht für möglich hält. Die Unwahrscheinlichkeit des Eintretens eines solchen Falles überdeckt er vor sich und seinen Leserinnen und Lesern mit der in seinen Augen wissenschaftlichen Begründung: „Es ist nicht immer nichtige Spielerei, sich mit derart weitliegenden Fragen zu beschäftigen, denn auch rassenpolitische Entwicklungen schlagen im Zeitalter der Hertzschen Wellen ein anderes Tempo ein als im Zeitalter der Postkutsche. Ein deutsches ‚Mandat für Afrika’ liegt auch unter diesem Gesichtspunkte nicht außerhalb des Bereichs der Möglichkeit in den nächsten Jahrzehnten.“72 Die von REYMOND und ZACHE entwickelten Vorstellungen sind, um mit den Worten des Chemikers und Kritikers

 


 

67 Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit; Eine Einführung in den ethnopsychoanalystischen Prozeß (1984). Frankfurt am Main: Surhkamp 41992, S.411.
68 M[oritz von] Reymond: Weltgeschichte. Bd I. Neudamm: Neumann o.J. (1893), S. 2.
69 M[oritz von] Reymond: Weltgeschichte. Bd I. Neudamm: Neumann o.J. (1893), S. 3.
70 M[oritz von] Reymond: Weltgeschichte. Bd II. Neudamm: Neumann 1893, S. 686.
71 Hans Zache: Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonien, S. 40. In: Die neue Volkshochschule; Bibliothek für moderne Geistesbildung. Zweiter Band: Geschichte, Erziehung, Sport. Wien: Hutter o.J. (~1928).
72 Hans Zache: Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonien, S. 40. In: Die neue Volkshochschule; Bibliothek für moderne Geistesbildung. Zweiter Band: Geschichte, Erziehung, Sport. Wien: Hutter o.J. (~1928).


der politischen Ordnung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Robert HAVEMANN (1910-1982) zu sprechen, „nicht nur individuelle Eigenschaften einzelner menschlicher Wesen, sondern sie sind zugleich eine gesellschaftliche Erscheinung. Was die Menschen denken, entspringt der Gesellschaft, in der sich leben. Ein Teil davon mag Einsicht sein, Bewußtsein, das meiste aber ist Ideologie. Was die Gesellschaft an Vorstellungen über sich in den Köpfen der Menschen produziert, Vorstellungen, die keinen wissenschaftlichen Charakter haben, die aber zu dieser Gesellschaft gehören als eine der Bedingungen ihrer Existenz, das ist Ideologie.“73

Wie eine Ideologie entsteht

Der vorhin nur kurz angedeutete Vorgang, wie aus wissenschaftlichen Theorien unter dem Einfluss narzisstischer Größenfantasien eine Ideologie wird, soll nachfolgend am Beispiel der Forschungen und Lehren von Karl MARX noch einmal beispielhaft verdeutlicht werden. Wie schon anfangs festgehalten, stand MARX in der geistigen Tradition der Aufklärung, ebenso wie sein Kampfgefährte Friedrich ENGELS (1820-1895). Aus dieser aufklärerischen Grundhaltung heraus kritisierte ENGELS in seinem Brief vom 4. Mai 1891 an Laura LAFARGUE (1845-1911) einige Strömungen der Arbeiterbewegung, „weil sie diese lebendige Theorie der Aktion, der Arbeit mit der Arbeiterklasse in jedem möglichen Stadium ihrer Entwicklung nur begreifen können als eine Sammlung von Dogmen, die auswendig zu lernen und aufzusagen sind wie eine Beschwörungsformel oder ein katholisches Gebet.“74 Es war Wladimir I. LENIN (eigentlicher Name ULJANOW, 1870-1924), der einen ersten wichtigen Anstoß zur Ideologiewerdung des MARXschen Gedankengebäudes gab, als er es im Jahre 1913 in der kleinen Abhandlung »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« mit den Worten charakterisierte: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie richtig ist. Sie ist in sich abgeschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt.“75 Er schloss dann den Aufsatz mit den Worten: „Erst der philosophische Materialismus von Marx hat dem Proletariat den Ausweg aus der geistigen Sklaverei gewiesen, in der alle unterdrückten Klassen bisher geschmachtet haben. Erst die ökonomische Theorie von Marx hat die wirkliche Stellung des Proletariats im Gesamtsystem des Kapitalismus erklärt. In der ganzen Welt [...] mehren sich die selbständigen Organisationen des Proletariats. Es schreitet in seiner Aufklärung und Erziehung fort, indem es seinen Klassenkampf führt, es entledigt sich der Vorurteile der bürgerlichen Gesellschaft, schließt sich immer enger zusammen und lernt, an seine Erfolge den richtigen Maßstab anzulegen, stählt seine Kräfte und wächst unaufhaltsam.“76 Die Behauptung der Allmächtigkeit einer Lehre und ihrer Fähigkeit, ein geschlossenes Weltbild zu vermitteln, war der erste Ansatz, aus einer wissenschaftlichen Theorie eine Ideologie zu machen, die auf dem Mythos der Menschheitserlösung, hier im besonderen der Erlösung durch den Kampf, die Leiden und den endlichen Sieg der Arbeiterklasse, beruhte, wie es in den Schlusssätzen zum Ausdruck kommt. Diese Ideologisierung fand Anklang. Als Beispiel unter vielen sei Angelica BALABANOFF (1878-1965) herausgegriffen, die in den zwanziger Jahren im gleichen Sinne schrieb: „Dank Marx, ... dem größten aller Materialisten ... hat sich die materialistische Philosophie zu einer geschlossenen, harmonischen und konsequenten Weltanschauung entwickelt.“77 Wie bei LENIN schimmert auch in diesem Satz der Wunsch nach einem allseits abgerundeten Denksystem durch, einem Denksystem, das alles erklärt und dem keine unliebsamen Überraschungen mit widersprüchlichen Tatsachen widerfahren. Diese Philosophie galt BALABANOFF als geistige Waffe im Klassenkampf, von dessen eindeutigem Ausgang sie überzeugt war. „Heißt es an der Front des Klassenkampfes Klasse gegen Klasse, so muß es an der Front der Ideologie Weltanschauung gegen Weltanschauung heißen In diesem Kampfe müssen die herrschenden Klassen unterliegen, die Aufstrebenden haben die soziale Entwicklung für sich, sie brauchen sich nicht überlebter, künstlicher ideologischer Mittel bedienen, sondern lediglich die sozialen Zusammenhänge und revolutionären Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung vor Augen halten und aus diesen, gestützt auf den Marxismus, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.“78 Damit war in die marxistische Philosophie auch noch die Teleologie eingeführt worden. Die Teleologie, die Auffassung von der Zielgerichtetheit des geschichtlichen Prozesses, ist ein kennzeichnendes Element des religiösen oder ideologischen Denkens, aber mit einer wissenschaftlichen Weltanschauung im Grunde unvereinbar. Die gleichsam authentische Fassung des Dogmas „von der welthistorischen Rolle des Proletariats als Totengräber des Kapitalismus und Schöpfer der kommunistischen Gesellschaft, von der Diktatur des Proletariats als entscheidendem Mittel der Arbeiterklasse zur Verwirklichung ihrer historischen Mission“79, fand sich schließlich in den fünfziger Jahren im vierten Band der Gesamtausgabe der Werke von Karl MARX und Friedrich ENGELS. Dass selbst kritische Geister der Verführung des mythischen Denkens erliegen, zeigt das Beispiel Herbert MARCUSES (1898-1979), der noch in den sechziger Jahren über das Proletariat schrieb: „Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen,

 


 

73 Robert Havemann: Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und Weltanschauung (1963). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1971, S. 110. Hervorhebung im Original.
74 Friedrich Engels an Laura Lafargue. In: Karl Marx, Friedrich Engels – Werke. Bd 38 (Briefe Januar 1891 bis Dezember 1892) Berlin: Dietz 41988, S. 101.
75 Wladimir I. Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913). In: W[ladimir] I. Lenin: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Bd I. Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1945, S. 61.
76 Wladimir I. Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913). In: W[ladimir] I. Lenin: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Bd I. Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1945, S. 66.
77 Angelica Balabanoff: Sozialismus als Weltanschauung (o.J.). In: Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung; Texte aus der Zwischenkriegszeit. Wien: Junius Verlag 1981, S. 45.
78 Angelica Balabanoff: Sozialismus als Weltanschauung (o.J.). In: Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung; Texte aus der Zwischenkriegszeit. Wien: Junius Verlag 1981, S. 45-46. Hervorhebungen im Original.
79 Karl Marx, Friedrich Engels – Werke. Bd 4 (Mai 1846 bis März 1848) Vorwort (1959). Berlin: Dietz 111990, S. V.


ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, dass sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz und Ordnung. Die Tatsache, dass sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert.“80 Wenn Günter GRASS (geb. 1927) einmal darüber spöttelte, dass so „viele vom Proletariat wie von einer Marienerscheinung schwärmen“81, so kritisierte er damit die Entwicklung der marxistischen Philosophie zu dem, was Irakli DSCHORDSCHADSE, der Präsident der Stalin-Gesellschaft, offen aussprach, als er Josef W. STALIN (eigentlicher Name DSCHUGASCHWILI, 1879-1953) als den Mann pries, der „den Leninismus geschaffen hat, die Leninsche Religion“.82 Damit hat sich der Kreis geschlossen. Die letzten Epigonen geben unumwunden, wenn auch wohl unbeabsichtigt zu, dass sie den Marxismus zu dem gemacht haben, das zu beseitigen sein Begründer angetreten ist – zu Opium.

Ideologie und Religion

Irakli DSCHORDSCHADSE hat damit aber auch ausgesprochen, dass zwischen Religion und Ideologie kein wesentlicher Unterschied besteht. Beide haben ihren Ursprung in den narzisstischen Kränkungen und den daraus erwachsenden Grundbedürfnissen nach der Gewissheit der Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins und der Welt und nach der Gewissheit, dass die Welt geordnet und beherrschbar ist. ist die mythische Grundlage der Suche nach diesen Gewissheiten auf ein wie auch immer geartetes Jenseits ausgerichtet, nimmt sie die Formen der Religion an, steht hingegen die Bewältigung des Diesseits im Vordergrund, kleidet sie sich in die Denkmuster der Ideologie. So macht es vom tiefenpsychologischen Standpunkt aus betrachtet keinen Unterschied, ob eine Prozession mit Ikonen von Göttern oder Heiligen oder mit Bildern von Politikern durch die Straßen ziehen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Menschen Bücher, mögen sie nun »Thora«, »Bibel«, »Koran« oder »das Kapital« oder »Worte des Großen Vorsitzenden« heißen, zum Fetisch erheben und meinen, nur in diesen die Wahrheit finden zu können.

Strahlende Helden und Magische Helfer

Auf den ersten Blick überraschend mag die Feststellung sein, dass die enge Verwandtschaft zwischen Religion und Ideologie auch in den Rollen, die Priester und Politiker in der Gesellschaft innehaben, zum Ausdruck kommt. „So wie die Religion den Glauben an einen väterlichen Beschützer lehrt, und dem Menschen damit erlaubt, sein aus der Kindheit stammendes Abhängigkeitsbedürfnis vom Vater zu befriedigen, so erspricht die Politik“ – oder im hier behandelten Sinne die Ideologie – „dem Bürger Ähnliches, indem der Spitzenpolitiker als Repräsentant der Vollkommenheit zur Projektionsfläche magischer Wünsche und zum Garanten für das Beseitigen jeglicher Gefahrenquelle und für das Bewerkstelligen von scheinbar Unmöglichem wird.“83 Religion und Ideologie rufen immer wieder die vergessenen und verdrängten Wünsche und Triebe der Kindheit wach und versuchen, die Familiensituation der Kindheit nachzubilden. „Tatsächlich hat die analytische Erfahrung [...] ganz klar ergeben, daß jeder, zu dem man als Älterem, als einem in der Position überlegener Weisheit, Autorität oder Fähigkeit Befindlichem aufblickt, unbewusst eine Elternfigur darstellt. Religiöse und atheistische politische Regierungssysteme stehen in dieser Hinsicht keineswegs allein da. Jede Bürokratie wird nicht bloß von oben aufgezwungen. Sie wird auch von unten gestützt [...] Der Präsident einer Republik wird unbewusst genauso als ein Vater betrachtet – wie ein Gott oder ein Diktator oder ein von Gott gesalbter König oder ein kaiserlicher Halbgott als Vater gilt.“84 Dass Priester gegenüber die Anrede „Vater“ gebraucht wird, ist ebenso ein Hinweis darauf, wie die Bezeichnung „Landesvater“ oder „Landesmutter“ für volkstümliche Politiker oder Politikerinnen. Dem kindlichen Selbstverständnis entsprechen denn auch die Rollen, in denen Politiker und Politikerinnen sich nur zu gern zeigen.

Eine dieser Rollen ist die des Strahlenden Helden. Die Gestalt des Helden ist ein Erzeugnis des Wunsches nach Rache. Rache ist der Wunsch, eine seelische oder körperliche Verletzung, die man in einem Zustand der Wehrlosigkeit hat hinnehmen müssen, zu vergelten. im Vollzug der Rache soll die Vergeltungshandlung, die im Augenblick der Verletzung angemessen gewesen wäre, aber unmöglich war, nachträglich ausgeführt werden. Dies kann etwa durch wunscherfüllende Fantasien geschehen, in denen die Situation der Verletzung und die Vergeltung, die ihr angemessen gewesen wäre, immer neu durchgespielt und in ein Erlebnis des Sieges umgewandelt werden. Durch diese Ersatzbefriedigung wird die Einsicht, dass die in Wirklich tatsächlich eingetretene Verletzung nicht ungeschehen gemacht werden kann, vorübergehend ausgeblendet. Ein anderer ersatzweiser Ausweg aus dieser Lage ist es, die Vergeltungshandlung an unterlegenen Dritten auszuüben. „Wenn man den Herren nicht prügeln kann, dann prügelt man eben seinen Hund“, beschreibt der Volksmund diese Art des Rachenehmens. Da aber durch derartige Ersatzhandlungen die Verletzung nicht ungeschehen gemacht werden kann, bleibt

 


 

80 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch; Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (The One-Dimensional Man; Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, 1967). Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 201985. S. 267.
81 Günter Grass: Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1972. S. 52.
82 Stalin-Gesellschaft gegründet. In: Der Standard, 19.1.1990, S. 5.
83 Sigrun Roßmanith: Der magische Helfer; Der Spitzenpolitker in den Augen der Menschen. In: Anton Szanya (Hg.): Politik auf der Couch; Über die unbewußten Antriebe öffentlichen Handelns. Wien: Picus Verlag 1992, S. 88.
84 Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 196.


der oder die Verletzte im Kreis der letzten Endes immer in einer Enttäuschung endenden wunscherfüllenden Fantasien gefangen.85

Der andere Weg, Rache zu nehmen, ist der Weg des Helden. „Das vornehmste Ziel des Helden ist die Heilung“, führt Bernd NITZSCHKE (geb. 1944) in diesem Zusammenhang aus, „die allerdings gegen die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Wiederherstellung der vortraumatischen Unverletztheit erreicht werden soll. Der Held besteht vielmehr auf der Verwirklichung seiner wunscherfüllenden Phantasien. Das heißt, der Held will nicht Heilung, er will das Heil. Er will keine Versöhnung, er will Erlösung. Also darf der Held auch kein Mensch bleiben, der seine Endlichkeit und Verletzlichkeit akzeptiert. Er muß vielmehr zum Übermenschen, zum Illusionisten werden, dem es scheinbar gelingt, die Realität zu korrigieren. So wird der Held zu Schöpfer einer illusionären Welt, in der er sich als unverletzter Mensch neu erzeugen will.“86Obwohl die allgemeine Lebenserfahrung jedem Menschen immer wieder vor Augen führt, dass der Weg des Helden letzten Endes ein Holzweg ist, bleibt der Zauber, den der Held auf die Menschen – vielleicht auch nur überwiegend auf die Männer – ausübt, ungebrochen. Von den Heldensagen der alten Mythen, über die Literatur und den Film bis zu den Comics spannt sich der Bogen der Heldendichtung über die Jahrtausende. Woran liegt das?

Einen Erklärungsansatz hierfür bot Sigmund FREUD im Jahr 1909 mit seiner kleinen Schrift »Der Familienroman der Neurotiker«. In diesem Aufsatz geht FREUD von dem Umstand aus, dass jedes Kind im Zuge der elterlichen Erziehungshandlungen Kränkungen seines Narzissmus hinnehmen muss. Das noch im primären Denken verhaftete Kind versucht nun, in wunscherfüllenden Fantasien seine darob „geringgeschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen. Dabei wird das zufällige Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen (die Bekanntschaft des Schloßherrn oder Gutsbesitzers auf dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt87 ausnützt. Solche zufälligen Erlebnisse erwecken den Neid des Kindes, der dann den Ausdruck in einer Phantasie findet, welche beide Eltern durch vornehmere ersetzt.88 Dabei geht es im Grunde dem Kind gar nicht darum, seine Eltern tatsächlich zu beseitigen oder zu ersetzen, denn es ist leicht erkennbar, „daß diese neuen und vornehmen Eltern durchwegs mit Zügen ausgestattet sind, die von realen Erinnerungen an die wirklichen niederen Eltern herrühren, so daß das Kind den Vater eigentlich nicht beseitigt, sonder erhöht. Ja, das ganze Bestreben, den wirklichen Vater durch einen vornehmeren zu ersetzen ist nur der Ausdruck der Sehnsucht des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit, in der ihm sein Vater als der vornehmste und stärkste Mann, seine Mutter als die liebste und schönste Frau erschienen ist.“89

Während es bei einer durchschnittlich normal verlaufenden Entwicklung des Kinde zu einer schrittweisen Verarbeitung der unvermeidlichen Verletzungen des narzisstischen Größenselbst durch die Eltern und zur Ausformung und Annahme eines wirklichkeitsnahen Elternbildes kommt, bleiben bei dar nicht so wenigen Menschen Haftungen, Fixierungen, an die Fantasien über ideale Eltern zurück. Mit Hilfe dieser Fantasien und der Identifikation mit dem fantastischen Helden-Vater sollen dann die nicht bewältigten Gefühle der Hilflosigkeit, Ohnmächtigkeit und Minderwertigkeit überwunden und beseitigt werden. All das gelingt ja auch – aber nur in der Fantasie und nur für kurze Zeit. Darum bedürfen die Menschen – und das zeigen die dauernden Erfolge der Western-, Kriminal- und Fantasy-Literatur wie auch der „heldisch“ auftretende Politiker deutlich – immer neuer Heldengestalten, an deren Stärke, Größe und siegen sie in der fantasierten Identifikation teilhaben und damit selbst für einige Zeit stark, groß und sieghaft sein können.

Mit seinem großsprecherischen Auftraten macht sich der „heldische“ Politiker zum Identifikationsobjekt für die Unzufriedenen; die sich in ihrer Bedeutung verkannt sehen, für die Modernisierungsverliererinnen und Modernisierungsverlierer, deren zunehmend bedrohte gesellschaftliche Stellung von der Allgemeinheit mit mehr oder weiniger Bedauern zur Kenntnis genommen wird, und für die sich ausgegrenzt Fühlenden, weil sie treu bleiben, wenn alle untreu werden, für alle also, deren Lebensumstände es ihnen nicht gestatten oder geraten erscheinen lassen, selbst großsprecherisch zu sein. Alle die genannte fühlen sich von Umständen behindert, bedrängt und bedroht, gegen die anzukämpfen sie sich entweder zu schwach fühlen oder es bereits aufgegeben haben.

Der „heldische“ Politiker blickt seinerseits in der Regel auf eine ähnliche Lebensgeschichte zurück und kämpft einen ähnlichen Kampf. Meist hat er eine strenge Erziehung erfahren, die auf Traditionsverbundenheit, Mannestum und Härte ausgerichtet war und es ihm als Heranwachsendem verwehrt hat, zu einer selbstständigen und selbstbewussten Persönlichkeit zu werden. Er steht daher zeitlebens unter dem Druck der ihm zwar aufgezwungenen, aber auch verinnerlichten Wertvorstellungen, denen er in einer hassliebe verbunden ist, da er sie weder vorbehaltlos anerkennen noch endgültig verwerfen kann. Aus einer derartigen Spannungslage heraus entwickelt sich das Persönlichkeitsbild des

 


 


85 An dieser Stelle sei angemerkt, dass auch der Vollzug der Rache am Verursacher oder der Verursacherin einer Verletzung keine Lösung ist. Eine angemessene Vergeltung kann im Augenblick ihrer Übung vielleicht Genugtuung verschaffen, den eine vergoltene Verletzung bleibt anders in Erinnerung als eine, die man ohnmächtig hinnehmen hat müssen. Der Zustand der Unverletztheit kann aber nicht wieder hergestellt werden. Es ist lediglich eine neue Verletzung verursacht worden, die nun ihrerseits Vergeltung erheischt.
86 Bernd Nitzschke: Männerhelden, die einsamen Rächer; Über das Verhängnis, sein eigener Vater werden zu wollen und dabei zu scheitern. In: Anton Szanya (Hg.): Elektra und Ödipus; Zwischen Penisneid und Kastrationsangst. Wien: Picus Verlag 1995, S. 124-125.
87 In unserer Zeit liefern wohl Fernsehen und Film die Ersatzfiguren für die Eltern.
88 Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker (1909). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IV: Psychologische Schriften. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 224.
89 Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker (1909). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IV: Psychologische Schriften. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 226.


 

Hysterikers. in seiner tatsächlichen Ohnmacht sieht sich der Hysteriker „auf den ‚Willen zum Schein’ verwiesen [...]. Mehr scheinen als sein ist die Parole, [...] die [...] den Menschen nicht danach beurteilt, was er ist, sondern was er hat und was er vorstellt, und somit jedermann nahelegt, Selbst- und Fremdtäuschungen zur Eigenwertbestätigung zu benützen.“90

Der „heldische“ Politiker weicht daher der wirklichen Welt aus, indem er eine Scheinwelt mit Scheinbedrohungen schafft, die im politischen Kleid des Komplotts der vereinigten Linken, des Weltjudentums oder der Bonzen und Abkassierer daherkommen können. Gegen diese Scheinbedrohungen wendet er dann seinen Heldenmut, den er in der „großen Szene“, wie sie sich in Bierzelten, auf Massenkundgebungen oder auf Parteitagen bietet, breitenwirksam vorführt und wo ihn ein gläubiges und hingabebereites Publikum als den annimmt, der für es und an seiner statt den Kampf gegen die Unbill der Welt aufnimmt.

Die andere Rolle, die Politikerinnen und Politiker vor allem in Demokratien gerne annehmen, ist die des Magischen Helfers. Sie sprechen damit Menschen an, „deren ganzes Leben auf eine subtile Art an eine Macht außerhalb ihrer selbst gebunden ist. [...] Von ‚ihr’ erwarten sie Schutz, von ‚ihr’ möchten sie behütet werden, ‚sie’ machen sie aber auch verantwortlich für alles, was bei ihrem Tun und Treiben herauskommt. Oft ist sich der Betreffende dieser Abhängigkeit keineswegs bewußt. Wenn er sie auch irgendwie ahnt, hat er doch von der Person oder Macht, von der er abhängig ist, oft nur eine unbestimmte Vorstellung. Er hat kein deutliches Bild von ihr. Ihre Haupteigenschaft besteht darin, daß sie eine bestimmte Funktion erfüllt, nämlich den Betreffenden zu beschützen, ihm zu helfen und ihn voranzubringen, immer an seiner Seite zu sein und ihn nie zu verlassen. Man kann dieses ‚X’, das diese Eigenschaften besitzt als den magischen Helfer bezeichnen. Häufig ist der magische Helfer personifiziert: Mann stellt ihn sich als Gott vor, als ein Prinzip oder auch als wirkliche Personen, wie etwa seine eigene Eltern, seinen Mann, seine Frau oder seinen Vorgesetzten“91 oder eben auch als Politiker. Die Vorgänge im Seelenleben, die im Zusammenhang mit den Vorstellungen eines magischen Helfers ablaufen, wurden auch als „Goldene Fantasie“92beschrieben.

Politiker – Politikerinnen meiden auffälligerweise diese Art der Selbstdarstellung – schlüpfen nicht ungern in die Rolle des Magischen Helfers, ja mehr noch, diese Rolle scheint für sie richtiggehend maßgeschneidert zu sein. Sie erspart es ihnen nämlich, sich allzu offensichtlich in Widerspruch zum demokratischen Gleichheitsgrundsatz zu setzen. Sie begeben sich vielmehr in eine mehr väterliche Position, die das Machtgefälle zwischen ihnen und den andern Menschen nicht in seiner ganzen Schroffheit erkennen lässt. Gefördert wird die Erhöhung des Politikers zum Magischen Helfer durch seine fast allgegenwärtige Anwesenheit in der bildgeprägten Mediengesellschaft, die unterschwellig aber wirksam den primären Denkprozess anspricht. Dem Politikerporträt in den Zeitungen, auf Plakaten und im Fernsehen kommt die gleiche manipulative Wirkungsabsicht zu wie den Heiligenbildern auf den Bildstöcken am Wegesrand.

Das Ziel ist die Idylle

Ob Politiker nun als Strahlende Helden oder als Magische Helfer auftreten – Politikerinnen wählen für sich eher die Rolle der Großen Mutter –, sie versprechen immer die Erfüllung der narzisstischen Ursehnsucht nach der Idylle. Unterschiede gibt es lediglich in ihren Erscheinungsformen, die sich de nach Ideologie und Zeitgeschmack ergeben. Ob die Idylle als klassenlose Gesellschaft, als ständische Ordnung oder als freie Vereinigung der gleichen vorgestellt wird, hinter all diesen Bildern steht der Wunsch nach einem „Ende der Geschichte“93 und ihren Umwälzungen und Umstürzen. In dieser Sehnsucht treffen Religion und Ideologie wieder zusammen. Dem endzeitlichen Paradies in einem jenseitigen Himmelreich der Religionen entspricht das irdische Paradies einer gerechten menschlichen Gesellschaft. Das heißt, dass die Allmachtsfantasien und Harmoniewünsche des kindlichen Narzissmus in der „wissenschaftlichen“ Form der Religion beziehungsweise Ideologie ihren Ausdruck finden. Da diese Fantasien und Wünsche weder untereinander noch mit den Gegebenheiten der Umwelt in Einklang stehen, müssen sie zwangsläufig immer scheitern, wodurch immer neue Religionen und Ideologien hervorgerufen werden mit all den schlimmen Folgen für die Menschen, die in ihren auf einer kindlichen Entwicklungsstufe festgefahrenen, nur ein Entweder-Oder kennenden Denkmustern begründet sind. Aus diesem Kreislauf gilt es herauszutreten, wozu der Pädagoge Gustav WYNEKEN (1875-1964) mit den Worten aufforderte: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ward: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Ich aber sage euch: Wenn ihr nicht endlich aufhört, zu sein wie die Kinder, werdet ihr nicht das Reich des Menschen bauen.“94

 


 

90 Josef Rattner: Tiefenpsychologie und Politik; Einführung in die politische Psychologie. Freiburg im Breisgau: Rombach 1970, S. 125. Hervorhebungen im Original.
91 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from Freedom, 1941). Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein 1987, S. 153. Hervorhebungen im Original.
92 Sidney Smith: The Golden Fantasy; A Regressive Reaction to Separation Anxiety. In: International Journal of Psycho-Analysis, 58. Jg. (1977), S. 311-324.
93 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte; Wo stehen wir? (The End of History). München: Kindler 1992. In diesem Buch versucht FUKUYAMA (geb. 1952) im Anschluss an die Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich HEGELS (1770-1831) den Nachweis zu führen, dass mit der endgültigen Durchsetzung der liberalen Demokratie das Ende des von Kämpfen geprägten historischen Ablaufs eintreten würde.
94 Gustav Wyneken: Abschied vom Christentum; Ein Nichtchrist befragt die Religionswissenschaft (1963). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1970, S. 259.


Die Aufklärung ist noch nicht beendet

 

An diesem Punkt soll die bisher entrollte Gedankenkette noch einmal zusammengefasst werden.

Die Suche nach den Gründen für das Scheitern der aufklärerischen Religionskritik führte zum Mythos, der die Grundbedürfnisse der Menschen nach Sinnhaftigkeit und Sicherheit ihres Daseins und der sie umgebenden Welt zur Grundlage hat. Die Wurzeln dieses Bedürfnisses wurden in den frühesten Kindheitserlebnissen der narzisstischen Kränkung gefunden. Diese Erlebnisse können wegen des zur Zeit ihres Eintretens noch ungenügenden Reifestandes der seelischen und geistigen Entwicklung nicht angemessen verarbeitet werden und werden daher ins Unbewusste verdrängt und auch dort gehalten. Von dort aus wirken sie jedoch ständig in das Bewusstsein hinein, indem sie den genannten Grundbedürfnissen immer neue Energie zuführen.

Es sind, vereinfacht ausgedrückt, die narzisstischen Allmachtsfantasien, die dem Menschen vorspiegeln, ihm mit der Magie und der Religion Mittel zur Beeinflussung des Unerklärlichen in die Hand gegeben zu haben. Beide erweisen sich jedoch als sehr zweifelhafte Mittel, weil sie den Menschen in zweifacher Hinsicht in eine kindliche Abhängigkeit stoßen. Zum einen werfen sich die Priester als Sachverständige im Umgang mit den höheren Mächten zu Beherrschern der Menschen auf, zum anderen unterwirft sich der Mensch selbst einem Bündel von Projektionen, die sich zu den Vorstellungen von Gott und Teufel verdichten.

Unter dem Druck der Konkurrenz der antiken Philosophie haben die Priester der christlichen Religion eine Scheinwissenschaft entwickelt – die Dogmatik. Unter der Argumentationskraft der Philosophie der Aufklärung hat sie jedoch ihre Glaubhaftigkeit verloren. Dadurch konnte zwar die Kraft der Religionen und der Kirchen geschwächt werden, die seelischen Grundbedürfnisse blieben aber weiterhin unbefriedigt.

Als Folge der „Entzauberung der Welt“ durch Wissenschaft und Technik traten an die Stelle der ins Jenseits weisenden Religionen treten innerweltlich orientierte Ideologien, die aus den nach wie vor ungestillten Bedürfnissen nach Sicherheit und Sinnhaftigkeit hervorgehen. Ideologien nehmen daher das Wesen von Religionen an und haben für viele Menschen auch den gleichen Stellenwert in ihrer Wertordnung. Aus der Ausschließlichkeit, mit der sowohl Religionen und Ideologien untereinander und gegeneinander ihren alleinigen Wahrheitsanspruch behaupten, und aus der Unduldsamkeit und Verblendung, mit denen sie um dessen Durchsetzung kämpfen, hat den österreichischen Staatswissenschafter und Geschichtsphilosoph Erich VOEGELIN (1901-1985) im Jahr 1938 dazu bewogen, zwischen beiden eine Wesensverwandtschaft anzunehmen: „Anhänger von Bewegungen, die religionsfeindlich und atheistisch sein wollen, sträuben sich dagegen, daß auf dem Grund ihrer fanatischen Haltung religiöse Erlebnisse zu finden sein sollen, nur anderes als heilig verehrend als die Religion, die sie bekämpfen. Wir müssen daher eine sprachliche Entscheidung fällen: die Geistreligionen, die das Realissimum im Weltgrund finden, sollen für uns überweltliche Religionen heißen; alle anderen, die das Göttliche in Teilinhalten der Welt finden, sollen innerweltliche Religionen heißen“95 oder politische Religionen. Von der Warte der Psychoanalyse aus gesehen, handelt es sich bei Religion und Ideologie um eine infantile Regression das heißt um einen Rückfall in Denk- und Verhaltensmuster, der wegen der unerkannten und unaufgearbeiteten frühkindlichen Traumata zwanghaft erfolgt. So lange die Mehrheit der Menschen sich nicht aus diesem Widerholungszwang befreit, werden Politiker und Politikerinnen immer wieder in die zwar stets neu gestylten, aber nichtsdestoweniger althergebrachten Rollen des Strahlenden Helden, des Magischen Helfers oder der Großen Mutter schlüpfen – wodurch sie sich ja auch selbst ihre eigenen narzisstischen Wünsche erfüllen – und bleibt die Politik der Gladiatorenzirkus als den ihn die Infotainment-Medien96 gerne hinstellen. Nicht wesentlich anders verhält es sich mit der medialen Aufbereitung der Vorgänge im Wirtschaftsleben, das nicht selten als die Arena dargestellt wird, in der knallharte Manager, eiskalte Technokraten und Betrüger großen Stils gegeneinander in den Ring steigen. Für Gladiatorenspiele ist aber nur der Sport der gegebene Bereich. „Dort kurven [...] infantile Formel-1-Rennfahrer über die Pisten, um sich selbst und anderen zu zeigen, daß Unverletztheit angesichts höchster Gefahren möglich zu sein scheint.“97 Ein anderes Feld, auf dem die narzisstischen Träume von Allharmonie und Allmacht, ihren schmerzhaften Enttäuschungen und ihren Heilungen ausgelebt werden können, ist die Kunst in der Vielfalt ihrer Gattungen.

Ein anderes Feld, auf dem die narzisstischen Träume von Allharmonie und Allmacht, ihren schmerzhaften Enttäuschungen und ihren Heilungen ausgelebt werden können, ist die Kunst in der Vielfalt ihrer Gattungen.Nichts verloren sollen derlei Regungen auf dem Feld der Politik haben, wie der große südamerikanische Dichter Mario VARGAS LLOSA (geb. 1936) vor kurzem in einem Zeitungsinterview sagte: „Ich bin auf allen Gebieten für Utopien – außer auf dem der Politik. Da ist es besser, Pragmatiker und Realist zu sein. Die Geschichte zeigt, dass alle Versuche, eine perfekte Gesellschaft zu schaffen, in die Hölle geführt haben. Die totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts waren utopische Projekte. Das Naziregime fußte auf der Idee der Herrenrasse, der Kommunismus war es mit der klassenlosen Gesellschaft ohne Ausgebeutete und Ausbeuter. Das Resultat war immer Terror, Repression und Zensur. [...] In der Politik ist der demokratische Konsens viel besser, der graduelle Fortschritt, ohne ganze Generationen im Namen einer perfekten Gesellschaft zu opfern. aber in anderen Bereichen ist es völlig legitim, von Perfektion zu träumen und utopische Ziele zu haben – in der Kunst, in der

 


 

95 Eric Voegelin: Die politischen Religionen (1938). München: Fink 21996, S. 17.
96 Infotainment ist eine aus dem Englischen stammende Zusammenziehung der Wörter Information und Entertainment (Unterhaltung), die ausdrückt, dass in den Massenmedien die Informationsvermittlung unter dem Gesichtspunkt ihres Unterhaltungswertes erfolgt.
97 Bernd Nitzschke: Männerhelden, die einsamen Rächer; Über das Verhängnis, sein eigener Vater werden zu wollen und dabei zu scheitern. In: Anton Szanya (Hg.): Elektra und Ödipus; Zwischen Penisneid und Kastrationsangst. Wien: Picus Verlag 1995, S. 130.


Literatur und im individuellen Leben.“98 VARGAS LLOSA wiederholte in diesem interview sinngemäß, was vor knapp vierzig Jahren in einem Kommentar zur österreichischen Bundesverfassung über das Wesen der Demokratie ausgeführt wurde: „Die Idee der Demokratie verpflichtet zur Toleranz, d.h. zur Bereitschaft, in Gegensätzen, mit Gegnern zu leben, den Andersdenkenden als solchen hinzunehmen, ohne ihn zu diffamieren, zum ‚Todfeind’ zu stempeln, und die Spannungen, die sich daraus ergeben, zu ertragen, ohne eine ‚Endlösung’ durch eine ‚Machtübernahme’ anzustreben [...]. Die Demokratie ist die Staatsform der ‚Vertu’, der Staatsbürgertugend, [...]; damit ist sie aber auch die Staatsform des kühl wägenden Verstandes, des nüchternen, wachsamen, kritischen Realismus [....].“99

Aufgaben des Freidenkertums

 

Aus den bisherigen Ausführungen ist hervorgegangen, das die bisherige Praxis des politischen Lebens sich noch sehr von der Theorie der demokratischen Gesellschaft unterscheidet. Diese aus dem Geist der Aufklärung erwachsenen Theorie zeigt klar, dass Demokratie nur dann lebt und leben kann, wenn Frauen und Männer vernünftig und verständig an den erforderlichen Entscheidungen mitwirken. Die Zukunft der Demokratie hängt daher ganz wesentlich von der Bildung eines echten, von einer reifen Persönlichkeit getragenen Individualismus ab, wie er seit der Zeit des Humanismus als Ziel und Zweck echter Bildung gilt. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist der von Immanuel KANT geforderte „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht in einem Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne die Leitung eines anderen zu bedienen.“100 KANT war sich dessen bewusst, dass es häufig gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen sind, die Menschen in Unmündigkeit halten. Darum fordert er auch die Freiheit, „Von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“.101 Nicht selten ist es aber auch die eigene Bequemlichkeit, die die Menschen an der Befreiung ihres Verstandes hindert. „Es ist so bequem, unmündig zu sein“, führte KANT diesbezüglich aus. „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand h at, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u. s. w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“102

Diese noch immer gültigen Ausführungen KANTS beinhalten auch eine Aufforderung an das Freidenkertum. Es genügt nicht, sich nur gegen äußere Beschränkungen der Freiheit des Denkens zu verwahren, vielmehr ist es auch geboten, sich gegen die eigene Bequemlichkeit vorzusehen und alle Ansprüche oder auch Angebote von Experten und Spezialisten, die Last des Denkens auf sich zu nehmen. Gerade in Zeiten staatlicher Sparmaßnahmen wird gern am Bildungswesen zu sparen begonnen, weil dies den wenigsten Widerstand hervorruft. Dass dem tatsächlich so ist, ist ein bedenkliches Zeichen dafür, dass es dem staatlich organisierten Bildungssystem anscheinend erfolgreich zu verhindern gelungen ist, die von Humanismus und Aufklärung der umfassenden Bildung entgegengebrachte Wertschätzung zu einer allgemeinen Werthaltung werden zu lassen. Verständlich ist dies schon, wären doch gebildete Bürgerinnen und Bürger gewiss weniger leicht zu gängeln als es für die staatliche Verwaltung wünschenswert ist. Eine weitere Aufgabe des Freidenkertums liegt nun darin, die Verbreitung einer solchen Werthaltung zu fördern, denn Einschnitte im Bildungswesen bringen zudem auch noch eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Demokratie als Staatsform und als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit sich. Wie eingangs dargelegt worden ist, liegt es im Wesen der Dialektik der Aufklärung, dass sie der Ausbildung einer selbstbewussten und entscheidungssicheren Persönlichkeit nicht gerade zuträglich ist. Gerade deshalb und damit auch im Sinne einer weitergehenden Demokratisierung der Gesellschaft sind dauernde Anstrengungen in allen Bereichen des Bildungswesens erforderlich. „Die Auswirkungen der Bildung auf die politische Einstellung sind kompliziert“, erklärt im Hinblick darauf Francis FUKUYAMA, „aber vieles spricht dafür, daß ein hohes Bildungsniveau eine Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft ist. [...] Gebildete Menschen, so heißt es, leisten Autoritäten keinen blinden Gehorsam, sondern haben gelernt, selbst zu denken. [...] Gebildete Menschen verlangen mehr für sich selbst und von sich selbst, sie haben mit anderen Worten ein Gefühl für ihre Würde und fordern, daß ihre Mitbürger und der Staat ihre Würde respektieren [...].“103 Gebildete Menschen, kann man diesen Gedankengang weiterführen, würden sich in ihrer Würde beleidigt fühlen, wollte man versuchen, sie unter Anreizung ihrer narzisstischen Wünsche zu einer politischen Entscheidung zu verleiten, anstatt ihnen vernünftige und einer Prüfung zugängliche Entscheidungsgrundlagen vorzulegen.

Dass in wünschenswertem Maß umfangreiche gesellschaftliche Bildungsanstrengungen viel Geld kosten würden, viel mehr Geld auch, als schon in vergleichsweise guten Zeiten dafür aufgewendet worden ist, und um ein Vielfaches

 


 

98 Ein Blair an die Spitze der USA. In: Der Standard, 24.4.2003, S. 33.
99 Josef R. Draxler, Hans Weiler: Freiheit und Recht; Eine Einführung in den Text und das Gedankengut der österreichischen Bundesverfassung. Wien: Österreichischer Bundesverlag 21966, S. 12.
100 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) In: Karl Vorländer: Philosophie der Neuzeit; Die Aufklärung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 246. Hervorhebungen im Original.
101 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) In: Karl Vorländer: Philosophie der Neuzeit; Die Aufklärung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 247. Hervorhebungen im Original.
102 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) In: Karl Vorländer: Philosophie der Neuzeit; Die Aufklärung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 246.
103 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte; Wo stehen wir? (The End of History). München: Kindler 1992, S. 170.


mehr als in Zeiten staatlicher Sparmaßnahmen jemals erwartet werden kann, liegt auf der Hand. So muss eben jeder Mensch und müssen fortschrittliche Gruppen wie die Freidenker tun, was in ihren Möglichkeiten liegt. Im Sinne einer weiteren Entfaltung demokratischer Einstellungen ist alles daranzusetzen, dass die „Demokratie sich zu einer Gesellschaftsform entwickelt, wo der einzelne Mensch mit seinem Wachstum und seinem Glück Ziel und Zweck der Kultur ist, wo das Leben keine Rechtfertigung durch Erfolg oder irgendetwas anderes braucht und wo der einzelne Mensch nicht von einer Macht außerhalb seiner selbst unterworfen oder manipuliert wird – sei es nun der Staat oder der Wirtschaftsapparat. Schließlich geht es um eine Gesellschaft, in der Gewissen und Ideale nicht die Internalisierung äußerer Forderungen sind, sondern wo darin der einzelne Mensch selbst und seine Ziele zum Ausdruck kommen [...]“104

Das alles klingt zugegebenermaßen sehr nach Wunschvorstellung, aber mehr kann nicht geboten werden, wie schon der sich selbst als Aufklärer und Freidenker verstanden habende Sigmund FREUD wusste: „Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch.“105 FREUD warnte auch vor revolutionärer Ungeduld und verwies darauf, dass der Forschritt der Wissenschaft nicht geradlinig, sondern oft auf Umwegen, nicht selten sogar auf Irrwegen erfolge, aber dennoch zu dauerhaften Erkenntniszuwächsen führe. „Nein“, betonte106 er daher, „unsere Wissenschaft ist keine Illusion. eine Illusion aber wäre es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.“

Wien. am 24.4.2003

Dieser Beitrag ist die erweiterte Fassung des auf dem Kongress der Weltunion der Freidenker in Prag am 15.3.2003 gehaltenen Vortrages.

Der Verfasser:
Prof. Dr. Anton Szanya, geb. 1945, stellvertretender Bundesvorsitzender des Freidenkerbundes Österreichs, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Volkshochschularchiv, Abt. Dokumentation

 


 

104 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from Freedom, 1941). Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein 1987, S. 231-232. Hervorhebung im Original.
105 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 186.
106 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 189.