Das Ende des Sozialstaats als Herrschaftsinstrument
Das hat den Sozialstaat in eine missliche Lage gebracht. Ständig muss er nein sagen, Rückzieher machen, sich rechtfertigen und entschuldigen. Darin haben seine Repräsentanten keine Übung. Sie spielen ihre Rolle schlecht, was ihnen die Lust am Spiel vergällt. Die bislang fast selbstver-ständliche Dominanz der Sozialpolitiker auf der politischen Bühne geht zu Ende. Wohl spielen sie noch immer einen herausragenden Part, aber sie müssen sich in eine größere Gruppe einfügen. Dissonanzen werden von den anderen nicht mehr ohne weiteres hingenommen. Was ihnen noch vor wenigen Jahren erlaubt war, stößt heute auf teils heftigen Widerstand.
Damit taugt der Sozialstaat immer weniger als Herrschaftsinstrument. Er hat sich verbraucht. Seine Mängel sind zu augenscheinlich geworden. Damit wird er zur Belastung. Jetzt plagt die Herrschenden nur noch die Frage: Wie kann er möglichst reibungslos durch ein anderes Herrschaftsinstrument ersetzt werden? Und durch welches? Der Regierungswechsel 1998 dürfte die Zäsur markieren. Noch einmal punkteten die Sozialdemokraten, indem sie ein halbes Dutzend sozialer Leistungen, das die Vorgängerregierung kassiert hatte, wieder einführte. Doch sehr schnell zeigte sich, dass diese Politik nicht durchzuhalten war. Mittlerweile rudert sie zurück. Sämtliche sozialen Sicherungssysteme befinden sich offen oder verdeckt im Um- und das heißt tendenziell im Rückbau. Erwerbsfähige Arbeitslosenhilfe- und Sozialhilfe-empfänger sollen ernsthaft zu öffentlichen Arbeiten herangezogen werden. Unumwunden wird eingeräumt, dass manche Empfänger von Sozialleistungen Schnorrer sind. Und es ist auch kein Tabubruch mehr, darauf hinzuweisen, dass der Staat gar keine Arbeitsplätze schaffen, sondern nur hierzu beitragen kann. Augenzwinkernd gibt der Kanzler zu erkennen, dass das mit den Arbeitslosen nicht so ernst gemeint gewesen sei. Was für ein Unterschied zum donnernden Pathos, das ein Willy Brandt in dieser Sache aufbrachte! Der Vergleich zeigt den Niedergang, den der Sozialstaat seitdem genommen hat.
Herrschaft ist mit ihm schwierig geworden. Schon seit Jahren können die Politiker den Bürgern keine weiteren Sozialleistungen mehr versprechen oder auch nur in Aussicht stellen. Um regieren zu können, ließen sie in der Vergangenheit das Verteilungskarussell immer schneller kreisen. Alle, die ihre Forderungen laut genug erhoben, wussten, dass sie alsbald bedient werden würden. Dabei brauchte in keinen vorhandenen Besitzstand eingegriffen zu werden. Stets wurde draufgesattelt. So machte das Regieren Spaß. Das ist jetzt anders. Die Parteien können nicht mehr darum wetteifern, welche mehr gibt; es geht nur noch darum, welche weniger nimmt. Eine andere Politik wäre vor dem Hintergrund des Bevölkerungsumbruchs und der Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft unrealistisch. Die Politiker sind deshalb nicht zu tadeln, und wenn doch, dann allenfalls für ihr zögerliches Vorgehen. Nur Staat ist mit dieser Politik nicht mehr zu machen, besonders kein Sozialstaat.
Hinter vorgehaltener Hand diskutieren deshalb nicht nur Politiker - die aber besonders -, was künftig die tragende Säule staatlichen Handelns sein soll. In einer Bevölkerung, die an Zahl ab- und an Alter zunimmt, liegt die Antwort nahe: Sicherheit nach innen und außen in jedweder Form und Gestalt. Die Sicherheitskarte dürfte zur neuen Trumpfkarte der Politik werden. Die Parteien werden sich in Sachen Sicherheit ebenso zu überbieten versuchen, wie sie sich bislang mit Sozialleistungen überboten haben. Dabei ist absehbar, dass nicht alles, was der Bevölkerung angedient wird, wirklich vonnöten ist. Aber es rechtfertigt staatliche Interventionen. Was der Sozialstaat nicht mehr vermag, übernimmt künftig - so gut es geht - der Sicherheitsstaat. Die Wirkungen dürften ziemlich gleich sein.
Ist der Sozialstaat damit reif für die Abraumhalde der Geschichte? Politische Korrektheit gebietet, diese Frage mit einem entrosteten Nein zu beantworten. Doch so einfach sollte man es sich nicht machen. Denn soweit er als Herrschaftsinstrument verwendet wird, hat der tradierte Sozialstaat ausgedient. Die sozialstaatliche Bevormundung und Gängelung der Bürger ist ein feudalstaatliches Relikt, das in freiheitlichen Gemeinwesen einen Fremdkörper bildet. Der Sozialstaat gerade deutscher Prägung wurzelt in vordemo¬kratischen Zeiten und hat die Entwicklung einer Bürgergesellschaft lange behindert. Das sollte nicht vergessen werden.
Ein anderer Teil des Sozialstaats ist jedoch unverzichtbar. Er hat Aufgaben übernommen, die unter den demographischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des beginnenden 2.Jahrhunderts nur er übernehmen kann. Die Liste dieser Aufgaben ist lang, aber nicht so lang, wie von den Sozialpolitikern alten Schlages behauptet wird. Wäre die Bevölkerung gefordert, ihre eingeschlafenen sozialen Fähigkeiten und Kräfte wieder zu wecken, würde mit großer Wahr¬scheinlichkeit Erstaunliches zutage treten. Dann würden nicht nur Marktfrauen und Flickschuster, sondern auch andere, ganz normale Bürger, höchst kompetent ihr Leben, einschließlich seiner Wechselfälle, gestalten. Dennoch: Ohne Sozialstaat geht es nicht. Ein neuer, von Herrschaft befreiter Sozialstaat muss errichtet werden. Die Baupläne hierfür liegen bereits vor.