Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka zu Gast im CUL
Der formal zweithöchste Mann im Staate Österreich referierte zum Thema „Parlamentarismus im 21. Jahrhundert.“ Zu Beginn streute er dem klassischen Liberalismus Rosen, der in Österreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts beachtliche Bedeutung erlangte, ehe er durch die aufstrebenden nationalen, christlich-sozialen und sozialistischen Kräfte marginalisiert wurde. Gegenwärtig würden manche liberale Ideen in einigen im Parlament vertretenen Parteien weiterleben.
Sobotka würdigte in seinem Referat - angelehnt an die von Christopher Clark in seinem Buch „Die Schlafwandler“ angestellte Analyse - die Rolle des Balkans für die künftige Entwicklung der EU. Es sei „…notwendig, sich um den Balkan (die aktuellen Beitrittskandidaten des Westbalkans) zu kümmern“ – was durch verschiedene Projekte, an denen auch das österreichische Parlament beteiligt ist, geschehe. Fehlende zivilgesellschaftliche Organisationen erschwerten allerdings die gedeihliche Entwicklung auf dem Balkan.
Als problematisch betrachtet der Nationalratspräsident den Einfluss der Saudis auf die muslimischen Minderheiten auf dem Balkan, aber auch die politischen Ambitionen der chinesischen Führung. Deren „gelenkte Wirtschaft“ würde sich zunehmend zu einer großen globalen Herausforderung für das westlich-liberale Gesellschaftsmodell auswachsen.
Sobotka sieht das österreichische Parlament als eine „Visitenkarte“ der Republik und richtet seine Anstrengungen darauf, das Außenbild des Hohen Hauses entsprechend zu verbessern. Parlamentarismus spiele sich eben nicht nur im von der Öffentlichkeit wahrgenommenen (und oft kritisierten) Plenum ab, sondern hauptsächlich in den Ausschüssen, in denen die eigentliche Arbeit geleistet werde. Besonders wichtig sei es, die Gesetzestexte in einer auch für Laien les- und verstehbaren Art und Weise zu formulieren, was derzeit vielfach nicht der Fall wäre. Dem Ruf nach allgemeiner Deregulierung steht Sobotka kritisch gegenüber, weil dadurch in der Praxis „…vieles noch komplizierter wird“.
Sobotka denkt an die Schaffung eines von den privaten und öffentlichen Rundfunkanstalten unabhängigen „Parlamentsfernsehens“, um künftig eine wirklich objektive und seriöse Darstellung der Parlamentsarbeit zu gewährleisten.
In der seinem Impulsreferat folgenden Debatte räumt er ein, dass die personelle Zusammensetzung des Parlaments die Bevölkerungsstruktur nicht optimal abbildet. Beamte und Akademiker sind klar überrepräsentiert, während andere Berufsgruppen (wie Freiberufler, selbständige Gewerbetreibende, leitende Angestellte aus der Privatwirtschaft) kaum vertreten sind.
Sobotka tritt für eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip in der EU ein und kann sich anstelle dessen die Einführung qualifizierter Mehrheiten vorstellen. Es dürfe nicht sein, dass einzelne Mitglieder wichtige Beschlüsse durch ihr Veto blockieren können.
Die EU wäre gut beraten, „…sich nicht in alles einzumischen“, sondern sich auf die Rahmensetzung zu konzentrieren.
Das Internet (die sozialen Medien) bedürften der gesetzlichen Regulierung.
Politik zu machen sei ein Beruf wie jeder andere und müsse gelernt werden. „Nur gibt es halt dafür keine Schule.“ Wichtig für eine erfolgreiche politische Tätigkeit sei jedenfalls die Fähigkeit, bestimmte Entwicklungen richtig abschätzen zu können.
Andreas Tögel