Wer bin ich / wenn ich nicht schreibe?
Autorin gebilligten Endfassung nachweisbar. Obzwar – die Veröffentlichung eines Gedichtes bedeutete nicht, dass die Arbeit am Text aufhörte. Selbst von Druckfassung zu Druckfassung wurden manche Gedichte noch überarbeitet – gelegentlich sogar vom Erstdruck in einer Zeitung, über die Veröffentlichung in einer Anthologie , über den Abdruck in einem eigenen Gedichtband und bis hin zur Wiederveröffentlichung in den Gesammelten Gedichten.
Immer wieder taucht die Behauptung auf, Rose Ausländer habe naiv und intuitiv geschrieben. Diese Behauptung ist für die Mehrzahl der Gedichte, so das Nachwort der Gedichte, mit Sicherheit falsch. Selbstverständlich beherrschte sie ihr dichterisches Handwerk perfekt: Die Leichtigkeit, das Schwebende, die Musikalität, der gelungene Rhythmus vieler Texte täuschen naives Schreiben vor. Aber Rose Ausländers Schreiben ist eben nicht nur perfektes Handwerk und Bauwerk, sondern auch perfektes Kopfwerk.
Bei näherer Betrachtung des Werkes lassen sich in der Flut der Gedichte sechs große Kapitel bilden, die alle eng mit der Biografie der Lyrikerin verknüpft sind:
- Gedichte über die Bukowina, über Heimat, Kindheit, Mutter-Tochter-Verhältnis
- Gedichte über das Judentum
- Shoa-Gedichte
- Exil-Gedichte
- Gedichte über Sprache als dichterisches Ausdrucksmittel
- Gedichte über die Liebe, über das Altwerden, über den Tod.
Es gibt neben diesen benannten noch Gedichte über Schriftsteller und Philosophen, Landschafts- und Naturgedichte, Stadtgedichte, Gedichte mit dem Bekenntnis zum Menschen. Aber bei allen Gedichten, die Rose Ausländer nach 1945 geschrieben hat, sollte man davon ausgehen, dass das Erleben der Shoa diese Texte prägte, gleichgültig ob unmittelbar oder nicht. Rose Ausländer lebte in der wohl verzweifelten Hoffnung, dass Schreiben noch möglich sei; sie leitete ihre Identität aus ihrem Schreiben her: „Wer bin ist / wenn ich nicht schreibe?“ Ihr Weg war klar, geradeaus, ohne Umwege. Unbeeinflusst von literarischen Tendenzen, unbeirrt von modischen Bewegungen hat sie ihre Gedichte geschrieben. Über die Jahre hinweg wurden die Verse schmuckloser, Zusätze und Schnörkel entfielen, die Texte wurden reduziert, bis der kostbare Kern offenlag.
Ihre Gedichte sind von verwegener Romantik, einerseits voll von Ecken, Trauer, Leid, andererseits melodisch offen, einfach und schön, voller Hoffnung, Trost, Liebe und Glück. Rose Ausländers literarisches Geheimnis ist es, ganz ich zu sagen, mit der Liebe zum Du. Ihre Worte bestehen aus „Worten, stark wie der Atem der Erde“.