Impotenz oder Moral?
Ein Pamphlet
Man stelle sich vor, es gäbe ein einigermaßen geeintes Europa. Man stelle sich vor, Europa hätte mit Beginn der Nachkriegsprosperität, etwa seit 1955, ebesoviel an Militärausgaben getätigt wie alle anderen Mächte und hätte daher nun eine militärische Stärke als Weltmacht. Man stelle sich vor, daß ein solches Europa Probleme erlebt mit seinem wichtigsten Erdöllieferanten. Denn die Quellen des Irak belieferten einstens hauptsächlich Europa, die USA hat andere Lieferanten. Die Erdölquellen des nördlichen Irak waren zudem ursprünglich als Gegengeschäft zu der von Deutschland erbauten Bagdad-Bahn Deutschland zugeeignet worden. Nach 1918 gingen sie an Frankreich über. Wie auch immer die Besitzverhältnisse wären, ein starkes, selbstbewußtes Europa würde selbstverständlich seine Versorgungsquellen sichern und ziemlich genau den Krieg, der derzeit im Irak von den USA geführt wird, als europäische Existenzsicherungsmaßnahme führen, ja führen müssen, wollte es nicht als Weltmacht abdanken. Ein solcher Krieg wäre es auch, für den ich, bei aller prinzipieller Tragik von Kriegen, nicht nur Verständnis hätte, sondern den ich für notwendig hielte
Leider hat Europa nach 1945 abgedankt. Und zwar ganz Europa. Deutschland und Österreich sowieso, diese Länder haben in Europa hauptsächlich die Rolle des Zahltrottels der Europäischen Union. Aber auch die meisten anderen Länder haben abgedankt: Großbritannien verlor sein Weltreich, Frankreich, Spanien, Portugal, Holland und Belgien verloren ihre Kolonien, Italien verlor seinen Traum von der Beherrschung des Mittelmeeres und Griechenland seine kleinasiatischen Besitzungen; und die in den Ostblock eingemeindeten Länder verloren für Jahrzehnte Freiheit und Prosperität. Wer soviel an Verlusten erfährt, gerät nach allen Erkenntnissen der Psychologie in Gefahr, sich zu seinem Trauma eine Rechtfertigungsgeschichte zu basteln. Und tatsächlich sind große Teile der europäischen Bevölkerung der – aus durchsichtigen Gründen von der Sowjetunion unterstützten – sogenannten Friedensbewegung auf den Leim gegangen, die suggerierte, die Welt sei nun auf einem moralisch höheren Niveau angelangt, auf dem nicht mehr Macht und militärische Stärke zähle, sondern abstrakte Begriffe wie Völkerrecht, Menschenrechte und internationale Ethik. Als eine Folge dieser Gehirnwäsche gleicht Europa heute dem Eunuchen, der dem fruchtbaren Manne Mangel an Keuschheit vorwirft. Impotenz ist aber keine Quelle der Moral, sondern Schwäche, nichts als Schwäche. Und Europa kann krakeelen was es will, es könnte gegen die USA nur dann gewinnen, wenn die USA schwächer wäre als Europa. Das ist aber mehr als fraglich. Wenn Europa sich aber nicht durchsetzen kann, hat es die eigene Position nicht gestärkt, sondern geschwächt, indem es international seine Einflußlosigkeit demonstriert hat. Schröder und Chirac sei Dank.
Bezeichnenderweise galten die Forderungen der Friedensbewegung niemals für die Sowjetunion oder Rotchina; diese Mächte verhielten sich stets genau so, wie sich Mächte seit eh und je verhielten und natürlich auch heute noch verhalten. Selbstverständlich verhält sich auch die USA nach genau dieser Interessenslage. Im kalten Krieg war die Möglichkeit, in Westeuropa eine vorgeschobene Position zu besetzen, für deren Kosten im Rahmen der NATO wenigstens zum Teil die europäischen Länder aufkamen, eine für die USA höchst zweckmäßige Lösung. Nun, nach dem Ende des Kalten Krieges, werden diese Positionen zunehmend entbehrlich und folgerichtig steigen die Ansprüche der USA an die Partnerländer. Diese europäischen Partnerländer scheinen sich allerdings einer verheerenden Täuschung hingegeben zu haben, also in ihrem Denken von den Parolen der Friedensbewegung ganz verseucht zu sein: sie glauben offenbar, daß sie keinen Preis dafür zu zahlen brauchen, sich ein halbes Jahrhundert lang ihre äußere Sicherheit von den USA bewerkstelligen haben zu lassen. Die Naivität, mit der manche heutige Spitzenpolitiker in Europa so tun, als seien sie souveräne Herrscher in ihren Ländern, hat schon etwas Lächerliches an sich. Wer sich fünfzig Jahre lang als Lehensnehmer der USA ein bequemes Leben gemacht hat und nun renitent wird, der erlebt nun eben, was Herrscher mit renitenten Untertanen machen. Es ist bemerkenswert, daß die nun evident gewordene (und in Wahrheit längst überfällig gewesene) Konfrontation zwischen Europa und den USA nicht als Ergebnis kluger Überlegung, staatsmännischer Verantwortung und strategischer Planung Platz greift (etwa staatsmännischer Planung, daß sich Europa nun spät, aber doch seiner eigenen Stärke bewußt werden sollte und sich auf eigene militärische Beine stellen könnte). Europa ist so weit degeneriert, daß dieser Prozeß, der eigentlich ein neues Erwachen europäischen Selbstbewußtseins hätte sein können, als tragische Farce eines um seinen erbärmlichen Wahlsieg bangenden deutschen Kanzlers und eines eitlen französischen Präsidenten, der in direkter Wahl gerade so um die 20 % seines Volkes hinter sich vereinen konnte, abgewickelt wird. Ohne Konzept, und ohne Aussicht auf Erfolg. Schröder und Chirac sei Dank.
Erfolg könnte eine Abnabelung Europas von der Kittelfalte der USA nur haben, wenn man sich auf dem alten Kontinent der eigenen Defizite bewußt würde. Während nämlich die USA jahrzehntelang in ihre Rüstung investierte und so zu guter Letzt es schaffte, die UdSSR totzurüsten, hat man in Europa lieber in Frühpensionen und Hallenbäder investiert. Das war natürlich recht bequem für den Konsumenten dieser Annnehmlichkeiten, und es fällt schwer, davon Abschied zu nehmen. Dementsprechend heftig fallen auch die Reaktionen der internationalen Linken aus, wenn das Thema Aufrüstung releviert wird: Niemand ist wütender als der, der bei seinem Fehler ertappt wird. Aber der Prozeß des Umlernens ist langwierig, so er überhaupt erfolgt: Noch ist nirgends in den Medien, den Schulen oder der Politik jener Gesinnungswandel zu sehen, der nötig wäre, um Europa zu einer ernstzunehmenden Macht zu machen. Und erst wenn dieser Gesinnungswandel erreicht ist, können Demokratien daran denken, soviel Geld für Rüstungsausgaben bereit zu stellen, wie nötig ist, um international mitzuhalten. Und erst, wenn diese Ausgaben getätigt werden, und zwar einige Jahrzehnte lang getätigt werden – solange dauert nämlich der Nachholprozeß – kann Europa international wieder damit rechnen, ernst genommen zu werden.
Das bedeutet aber, daß in jedem Fall noch Jahrzehnte vor uns liegen, in denen Europa international keine erste Geige spielt. Damit sollte Politik vernünftig umzugehen lernen. Dazu gehört aber vor allem einmal das Bewußtsein, daß es eben so ist. Das scheint aber vielen europäischen Geigenspielern zu fehlen. Denn die europäischen Geigenspieler spielen gerne im Chor mit der Meinung der Bevölkerungsmehrheit. Das ist zwar demokratisch legitim, aber nicht unbedingt intelligent. Ich kann mir den Hinweis nicht verkneifen, daß die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland und Österreich für Hitler gestimmt hat; hauptsächlich verweise ich aber darauf, daß die Bevölkerungsmehrheit fast immer gegen jeden Krieg ist. 1938-39 war die Mehrheit der Engländer gegen einen Krieg, was zur berüchtigten Appeasement-Politik Chamberlains führte; es war die Mehrheit der Franzosen gegen einen Krieg, und es war auch die Mehrheit der Deutschen gegen einen Krieg. Ja, selbst nach dem Überfall Hitlers auf Polen und auf Frankreich war die Mehrheit der Amerikaner gegen einen Kriegseintritt der USA; mehr noch: es gab im amerikanischen Parlament einen Antrag, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen. Nicht etwa von den Demokraten kam dieser Antrag, sondern von den Republikanern. Und der kriegsentschlossene demokratische Präsident Roosevelt schaffte es gegen die Republikaner und gegen die Mehrheitsmeinung der amerikanischen Bevölkerung nur knapp, diesen Gesetzesantrag mit nur einer (!) Stimme