Buchbesprechungen I
Martin Doerry, „Mein verwundetes Herz“. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart; München 2002, 351 S., € 24,90.
Welchen Grausamkeiten wird Lilli Jahn in ihren letzten Monaten, die sie 1944 im Vernichtungslager Auschwitz verbringen musste, ausgesetzt worden sein? Was hat sie, wegen ihrer jüdischen Herkunft ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft, in die sie sich – aus ihren zahlreichen zu Herzen gehenden Briefen zu entnehmen – sehnlichst zurücksehnte, erdulden müssen? Musste sie sich für medizinische Experimente hergeben, wurde sie misshandelt, gefoltert, vergast?
Über ihre letzten drei Lebensmonate ist nichts mehr bekannt. Dafür aber entrollt sich das Lebensbild dieser ehemals so lebenslustigen, musikalisch und intellektuell gebildeten jungen, schönen Frau umso stärker durch die von ihr verfassten und an sie gerichteten 560 Briefe, die bis dahin zirkulierten. Ein Enkel Lilli Jahns, Martin Doerry, sichtete diese und stellte sie mit weiteren Primärquellen zu einer Biografie zusammen.
Der entscheidende Schritt, der Lilli Jahns grausames Ende erst ermöglichte, war die von Ernst Jahn, Doerrys Großvater, 1942 aktiv betriebene Scheidung. Bis dahin galt sie durch die Ehe mit einem Arier als relativ unantastbar. Ja, Ernst Jahn hatte, je länger der Krieg und die nationalsozialistische Verfolgungspolitik dauerte, dienstliche und persönliche Repressalien zu erdulden - aber was hatte Lilli Jahn in den Jahren zuvor nicht alles uneigennützig für diese Ehe getan: sie hatte mit dem Geld ihrer Tanten und Eltern das Haus in Immenhausen einzurichten geholfen, über Seitensprünge hinweg gesehen, als Ärztin weiteres Geld hinzu verdient, hatte ihren Mann aus seinen Depressionen geholt und aufgebaut, hatte ihm fünf prächtige Kinder geboren.
Durch die erzwungene Scheidung schutzlos geworden, musste Lilli Jahn ihr Haus verlassen und mit den Töchtern eine Wohnung in Kassel beziehen. Wegen einer Unachtsamkeit wurde sie 1943 bei der Gestapo denunziert, verhaftet und im „Arbeitserziehungslager“ Breitenau interniert. Die Töchter Ilse, Johanna, Eva und Dorothea, damals 14, 13, 10 und 2, waren seitdem allein auf sich gestellt - der Sohn Gerhard war schon im Krieg. Hilflos erlebten sie den Leidensweg der über alles geliebten Mutter mit, lebensklug und tatkräftig meistern sie ihr eigenes schweres Schicksal und versuchen das der Mutter durch Pakete zu erleichtern. Und sie schreiben und schreiben, um den Faden zu ihr ja nicht abreißen zu lassen.
Während des Arbeitslagers musste die fünffache Mutter unter anderem im Zweigwerk Spangenberg der Firma B. Braun Zwangsarbeit leisten. Was sie erleiden muss, beschreibt die Bescheidene, Friedvolle, Genügsame kaum, sie will nicht, dass die Kinder sich noch mehr beunruhigen. Die von ihr erwähnten Armschmerzen müssen furchtbar gewesen sein. Mitte März wurde sie ins Frauenlager Birkenau des Lagers Auschwitz deportiert, wo sie nach drei Monaten am 17. oder 19. Juni 1944 umkommt.
Erst jetzt, nachdem durch einen erstaunlichen Zufall die große Anzahl der Briefe ans Licht der Öffentlichkeit gelangte, konnte dieses Schicksal, das stellvertretend für Zehntausende steht, nachgezeichnet werden. WIESO, so fragt sich der erschütterte Leser, hat Lore Sasse, Ernst Jahns Schwester, trotz monatelanger Recherche keine Ersatzwohnung finden können oder wollen – das wäre ein Funken Hoffnung gewesen, Lilli Jahn aus dem Arbeitslager freizubekommen: Nach vier Wochen galt die Strafe als abgesessen. WARUM haben die Verwandten, Nachbarn und Bekannten dem schrittweisen Auslöschen der stets auf Ausgleich bedachten, hilfsbereiten Lilli Jahn so tatenlos zugesehen? WARUM ließ sich Ernst Jahn, der in früheren Liebesbriefen Lillis Temperament und Bildung bewunderte, der sich an ihr orientierte, der jahrelang seine intakte Familie genoss, weichklopfen? WARUM drängte er Lilli aus dem Haus, in die Arme der Nationalsozialisten? WARUM erhörte er nicht ihre Hilferufe in den Briefen? WARUM hat er als Wehrmachtsangehöriger so wenig getan, um seine ehemalige Frau aus Auschwitz zu retten?
Schergen wie Karl Groß, der als stellvertretender Ortsgruppenleiter der NSDAP seinen Ort judenfrei sehen wollte, taten ein weiteres. Und die Mitbewohner im Haus Motzstraße, die sich - aus Neid? - daran stießen, dass sich Dr. Lilli Jahn an der Wohnungstür nicht „Sara“ nannte, und das bei der Gestapo anzeigten. So zog sich das totbringende Netz immer enger zusammen.
Es soll die Biografie hier nicht, wie in anderen Rezensionen, nacherzählt werden. Die Besprechung möchte auf ein sehr bewegendes Buch aufmerksam machen, das durch die schlichte Abfolge der herzzerreißenden Briefe Einblicke gibt in ein von Menschen gemachtes grausames System, in dem Unmenschliches auf der Tagesordnung stand, das von den Mitmenschen nicht verhindert wurde. Wir Nachgeborenen sollten jeden Tag daran arbeiten, dass von Deutschland aus nie wieder solch ein Unheil über Menschen, egal welcher Herkunft, hereinbricht.
Beate Hennenberg
Dieter David Scholz, Mythos Maestro. Dirigenten im Dialog. Giuseppe Sinopoli zum Gedenken, Verlag Parthas gemeinsam mit Arte Edition, Berlin 2002.
Wer einmal erlebt hat, wie primadonnenhaft und zickig Dirigenten sein können, vor allem die ängstlichen, die eitlen und die, die immer glauben, das Schicksal begünstige die Konkurrenz, der zieht von vorn herein den Hut vor Multitalent Scholz zu so viel Löwenmut, 29 dieser Künstler zu einem Interview geladen zu haben. Nach außen hin geriert sich diese Spezies gerne als Genie, als unfehlbare musikalische Weltbezwinger, im Gespräch geben sie sich in der Scholzschen Anthologie sehr menschlich, was nicht zuletzt am Geschick des Fragers liegt. Befragt wurden etwa Lorin Maazel, Sir Georg Solti, Zubin Mehta, Kurt Masur oder Simon Rattle, ursprünglich waren die Gespräche als Rundfunk-Interview konzipiert. Der Zeitraum umfasst sechs Jahre, die Anlässe waren wohl verschieden (das ist nicht zu recherchieren), daher fühlen sich die (gesprochenen) Texte inhaltlich nicht an ein Schema gebunden. Der Leser erhält Informationen und Auskunft zur künstlerischen Karriere der einzelnen Maestri, zur Beziehung zu seinem Klangkörper, und auch Privates wird außen nicht vorgelassen.
Beate Hennenberg
Alexander L. Ringer, Arnold Schönberg. Das Leben im Werk, Verlage J. B. Metzler; Bärenreiter, Stuttgart; Weimar 2002.
Alexander L. Ringer sah in Arnold Schönberg nicht nur den Komponisten, dem man sich unter musikwissenschaftlichen Fragestellungen zu nähern hatte, sondern, da er ihn als „durch und durch ethisch gesinnt“ erkannte (nach Albrecht Riethmüller), näherte er sich von vielen anderen Ebenen auch. Daher ist in diesem Buch sehr viel von Dichtung und Malerei, von Religion und Pädagogik die Rede, die einen großen Teil des Schönbergschen Schaffens einnahmen.