Die Schatten der Vergangenheit und die Lehren der Geschichte

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von Univ.Prof.Dr. Rudolf Burger

„Erst durch die Kraft“, sagt Nietzsche daher, „das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehenen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen: aber in einem Übermaß von Geschichte hört der Mensch wieder auf, und ohne jene Hülle des Unhistorischen würde er nie angefangen haben und anzufangen wagen.“

Das Vergangene zum Leben gebrauchen, aus dem Geschehenen wieder Geschichte machen: Diese Formulierungen Nietzsches sind doppeldeutig. Sie haben nicht nur eine prospektive Bedeutung, wie etwa bei Karl Marx im „18. Brumaire des Louis Bonaparte“, wo es an einer berühmten Stelle heißt: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorhandenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden“, sondern sie haben zugleich auch einen retrospektiven Sinn: Wir haben eine Vergangenheit, aber wir geben uns eine Geschichte. Und wir geben sie uns im Lichte eines Entwurfs – eines Entwurfs dessen, was wir sein und werden wollen; davon hängt ab, wer wir gewesen sind. Nicht die Vergangenheit legt uns fest und definiert uns, sondern indem wir der Vergangenheit die wir haben, eine Bedeutungsstruktur verleihen, die sie von sich aus niemals hat (als solche ist sie nur pralle Faktizität, gleichgültig, ob es sich um die Traumhochzeit der „Prinzessin der Herzen“ handelt oder um den „Holocaust“) und sie damit zu unserer Geschichte, zu unserem „Gewesen-Sein“, machen, definieren wir uns mittels unserer Geschichte.

Der Vergangenheit eine Bedeutungsstruktur verleihen und sie damit zu einer „Geschichte“ im Sinne einer Narration zu machen, das heißt, aus dem unendlichen Meer isotroper Begebenheiten (die Ireneo Funes alle gleichermaßen erinnert!) eine finite Zahl herauszugreifen, einige zu pathetisieren, andere zu lakonisieren, einige zu memorieren, andere zu vergessen – und den Großteil überhaupt unberücksichtigt zu lassen: „Geschichte“ ist nur möglich, wenn der Großteil der Vergangenheit im Dunklen bleibt. Auch das Licht der Erkenntnis wirft Schatten.

Dass es dieser progressiv-regressive Zirkel ist, den Nietzsche im Auge hat, wenn er vom „Machen der Geschichte“ spricht (der Ausdruck taucht das erste Mal bei Giambattista Vico auf, der das historische Denken von den Heteronomien der „Vorsehung“ befreite), und nicht allein das folgenreiche, in die Zukunft wirkende Handeln unmittelbar, zeigt der weitere Fortgang seines Traktats. Denn wenn er im Folgenden drei Arten von Historie unterscheidet und ihre Vor- und Nachteile in Bezug auf Lebensdienlichkeit untersucht, nämlich eine monumentalische, eine antiquarische und kritische Art von Geschichtsschreibung, so ist das ja nur möglich, wenn das Material nicht von sich aus eine bestimmte Bedeutungs- und Sinnstruktur hat und daher zu einer bestimmten Darstellungsform zwingt. Vielleicht sind die Arten von Historie, die Nietzsche nennt, um weitere zu ergänzen, und ganz sicher sind sie zu differenzieren und durch Mischformen zu bereichern, ebenso wie die „Plotstrukturen“, die Hayden White bei großen Historikern festzustellen meint – Epos, Tragödie, Romanze, Komödie, Farce usw. –, und vielleicht spielen die Tropen der Rhetorik – Metapher, Synekdoche, Metonymie, Ironie – nicht die strenge Rolle von linguistischen Kategorien, in denen die Vergangenheit, das Material der Historie, gleich dem Kantischen „Ding an sich“, historiographisch allein erscheinen kann - an der grundsätzlichen Einsicht änderte dies alles nichts, im Gegenteil, diese würde dadurch nur bestätigt und in ihrem Geltungsbereich erweitert, weil die möglichen korrekten Darstellungsformen nicht mehr abzählbar wären, sondern ein Kontinuum bildeten: die Einsicht nämlich, die Jean-Paul Sartre in „L’être et le néant“, seinem ersten Hauptwerk (das ein Jahr nach dem Bericht des Borges erschien) so ausdrückt: „Wir bekommen unsere Vergangenheit nicht, sondern die Notwendigkeit unserer Kontingenz impliziert, dass wir nicht umhin können, sie zu wählen... So stellt diese rohe Existenz, obwohl notwendig existierend und unveränderlich, so etwas wie das ideale und unzugängliche Ziel einer systematischen Erklärung aller in einer Erinnerung eingeschlossenen Bedeutungen dar.“ Sartre spricht hier vom Individualsubjekt, denn nur dieses hat überhaupt Erinnerung, und sie ist an dessen Lebenszeit gebunden: Sie stirbt mit ihm. Entgegen dem, was heutige Mystagogen behaupten, gibt es keine „kollektive Erinnerung“, es gibt allenfalls ähnliche Erinnerungen in einer Generation an die gleiche Vergangenheit unter verschiedenen Perspektiven, und was man einflüsternd „kollektives Gedächtnis“ nennt (Gedächtnis ist ja Erinnerungsvermögen, und dieses ist, wie die Erinnerung selbst, an das Individualsubjekt gebunden), sind sozialpädagogisch kollektivierte Aktualvorstellungen von Vergangenem, an das sich niemand mehr erinnert, deren Material zwar narrativ tradiert sein mag (nicht muss), das aber immer nach den Erfordernissen von politischen Zukunftsentwürfen geformt ist. Ob der Einzelne diese annimmt und sie sich zu eigen macht, ist seine Sache und liegt allein, wie Sartre betont, in seiner Verantwortung: „Die Bedeutung [ihr Sinn, ihre „Lehre“, R.B.] der Vergangenheit ist also streng abhängig von meinem gegenwärtigen Entwurf... Ich allein kann nämlich in jedem Moment über die Tragweite der Vergangenheit entscheiden: nicht indem ich in jedem Fall die Wichtigkeit dieses oder jenes Ereignisses erörtere, erwäge und einschätze, sondern indem ich mich auf meine Ziele hin ent-werfe, rette ich die Vergangenheit mit mir und entscheide durch das Handeln über ihre Bedeutung.“

Die Zukunft, meine Vorstellung von der Zukunft, meine Wünsche, Pläne und Absichten entscheiden darüber, ob die Vergangenheit lebendig oder tot ist, ob sie mich und wozu sie mich verpflichtet; sie selber hat von sich aus gar keine Kraft: „Denn die einzige Kraft der Vergangenheit geschieht ihr durch die Zukunft... Lebendige Vergangenheit, halbtote Vergangenheit, Überlebendes, Ambivalenzen, Antinomien: die Gesamtheit dieser Vergangenheitsschichten wird durch die Einheit meines Entwurfs organisiert... So bestimmt die Ordnung meiner Zukunftswahlen eine Ordnung meiner Vergangenheit, und diese Ordnung hat nichts Chronologisches...“ Eben darin liegt die Möglichkeit der Mythenbildung. Denn der Mythos ist nichts, was mich aus den Tiefen der Vergangenheit mit Naturgewalt überkommt und mein Handeln diktiert, sondern seine Kraft ist ihm vorgängig durch meine freie Wahl verliehen. Mit „Faktentreue“ hat das gar nichts zu tun.

„So wählen wir unsere Vergangenheit im Lichte eines bestimmten Zwecks, aber von da an drängt sie sich auf und verschlingt uns...“ sagt J.P. Sartre, und genau das ist unser Problem – in Österreich und weltweit, mit verschiedenen Brennpunkten, vor allem aber auch in Österreich. Denn alle großen, massenmedial aufgeheizten Hysterisierungswellen, die Österreich in den letzten Jahrzehnten wie Fieberwellen überzogen haben und zu ideologischer Lagerbildung führten beziehungsweise diese reifizierten, hatten die Vergangenheit des Landes zu ihrem polemischen Inhalt, deren behauptete oder bestrittene „Bewältigung“ und die befürchteten Folgen ihres Ausbleibens, nicht die Gestaltung der Zukunft als solcher. Nicht einmal weltpolitische Großereignisse reichen an das Erregungspotential heran, das hierzulande Interpretationsfragen der eigenen Geschichte mühelos erreichen. So hat zum Beispiel der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums um die Jahre 1989/91, wahrhaft ein Jahrhundertereignis, das Österreich als Grenzland der Blöcke im Kalten Krieg doch unmittelbar betraf, bei weitem nicht jene psychische Erregung ausgelöst wie die Waldheim-Affäre, welche die weltgeschichtliche Zäsur zeitlich umklammerte. Obwohl es bei der sog. Waldheim-Affäre im Kern überhaupt nicht um Realpolitik ging, sondern um ein symbolisches Verhältnis zur Geschichte, deckte sie hierzulande in der Ökonomie der Aufmerksamkeit die weltgeschichtlichen Ereignisse fast völlig zu. Was an sich nur eine irreale Farce war, wie der hysterische Rummel um die Regierungsbildung vor zwei Jahren auch, war andererseits zugleich auch wieder keine, weil sie sehr reale Auswirkungen hatte. Denn dass es mit einem Thema politisch ernst ist, merkt man daran, dass sich um es herum ein Freund/Feind-Verhältnis bildet, und genau das ist innenpolitisch geschehen; ein Freund/Feind-Verhältnis, das viel tiefer geht und schärfer ausgeprägt ist als bei vielen Problemen der Realpolitik, und beträfen diese selbst so wichtige Zukunftsfragen wie etwa die Kündigung der Neutralität oder die Osterweiterung der EU. Natürlich sind auch hier sehr viele Emotionen im Spiel und es wird eine Menge Populismus betrieben, aber ihre Behandlung hat auf allen Seiten doch auch immer einen pragmatischen Kern, Argumente werden formuliert und ausgetauscht, freilich nicht immer gehört und gewürdigt, aber sie werden zumindest vorgebracht und es ist möglich, Positionen zu wechseln oder zu modifizieren, wenn die Lage sich ändert. All das ist auf dem medialen Schlachtfeld der Vergangenheitspolitik nicht möglich, hier nehmen die Kämpfe die moralisch verpflichtenden Züge von Glaubenskriegen an - und das ist nicht nur eine österreichische Erfahrung. „Glücklich das Volk“, sagt Ralph Dahrendorf, „das sich über seine Zukunft streitet, sich über seine Vergangenheit aber einig ist.“ Wenn das stimmt, dann hat Österreich ein sehr unglückliches Volk, denn hier ist das genaue Gegenteil der Fall: Einen ernsthaften Streit über Staatsziele, bei selbstverständlich anerkanntem Primat der Staatsräson über Parteiräson, wie er in den klassischen westlichen Demokratien existiert, gibt es hierzulande nicht. Das jämmerliche Verhalten der Opposition während der Sanktionszeit hat diesen Mangel nur ein weiteres Mal gezeigt. Dafür gibt es eine enervierende psychohistorische Dauerreflexion über die Pathologien der „Österreichischen Seele“, die angeblich nur gesunden kann, wenn sie in einem permanenten öffentlichen Prozess der Selbstanklage ihre „verdrängte Geschichte“ ins Bewusstsein hebt, diese „aufarbeitet“ und „niemals vergisst“. Nur so sei es möglich, „aus der Geschichte zu lernen“ und ihre Katastrophen künftig zu vermeiden. Von dieser aufgeklärten, durchtherapierten Gesundheit aber seien wir, wie es heißt, noch weit entfernt. So klagen wir weiter geschwätzig unser Schweigen an.

Als ich mir, schon etwas genervt von der billigen und heuchlerischen Demagogie, die mit diesem Topos in österreichischen Medien seit langem im Namen der Aufklärung betrieben wird, in einem sarkastischen Essay erlaubt habe, die theoretischen Widersprüche und empirischen Paradoxien dieser pseudo-freudianischen (in Wahrheit C. G. Jungschen) Therapie zur Gesundung der österreichischen Volksseele aufzuzeigen und darüber hinaus darauf hinwies, dass die frömmlerische Warnungs- und Erweckungsprosa, die im Umkreis jeglicher Gedenkpolitik betrieben wird, oft genug das genaue Gegenteil dessen hervorruft, was sie intendiert, dass die Maxime: „Niemals vergessen!“ nicht, wie sie vorgibt zu sein, eine Friedens- und Versöhnungsformel ist, sondern in der Geschichte immer eine Kampfparole war und dass es keinen Grund gibt, anzunehmen, das sei diesmal anders, da erhob sich erst recht ein lautes Geschrei und ich wurde mit dem Vorwurf konfrontiert, zu genau jener Verdrängung aufzufordern und beizutragen, deren Existenz ich bestritt (aus kategorialen, nicht aus empirischen Gründen) – also mit dem klassischen Vorwurf der „Abwehr“, mit dem die Psychoanalyse seit je sich gegen Kritik immunisiert. Ansonsten war an Argumenten nichts zu hören, nur die empörte Anklage des Verrats und der Ketzerei. (Was, dies nur nebenbei gesagt, in wissenschaftlichen Zusammenhängen einen Rückfall in vormoderne Zeiten bedeutet: Denn es ist das Kennzeichen der Modernität eines Gedankensystems, dass die Kritik an ihm nicht häresiefähig ist.)

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