Die Schatten der Vergangenheit und die Lehren der Geschichte

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von Univ.Prof.Dr. Rudolf Burger

Ich gehe nicht so weit, zu vermuten, dass hier gelegentlich ein Fall von „Schuldverliebtheit“ vorliegt (obwohl einige der prominentesten Kritiker meines „Plädoyers für das Vergessen“ aus schwer belasteten Nazifamilien stammen), und ich werde auch auf die offensichtliche Tatsache nicht näher eingehen, dass der Aufschrei vor allem aus der Bedrohung eines enormen politischen Kapitals resultiert, das seit Jahrzehnten aus dem historischen Opferstatus gezogen und, nicht nur in Österreich, sondern im Weltmaßstab, als politische Waffe eingesetzt wird, möchte Sie aber doch auf das Phänomen aufmerksam machen, dass wir es hier mit einer bemerkenswerten Fortentwicklung des bislang vertrauten Verhältnisses politischer Gruppierungen zu den sogenannten „Lehren der Geschichte“ überhaupt zu tun haben. Heute ist es nämlich vorzüglich die Linke, oder das, was sich noch dafür hält, welche diese Lehren bemüht, während es bis herauf zur politischen Moderne vor allem konservative Kreise waren, welche die normativ-traditionsbildende Kraft der Geschichte als Legitimationsquelle überkommener Institutionen beschworen (Legitimität, das hieß von alters her: gültig von alters her), und deren sogenannte „Lehren“ als Warnung vor Neuerungen benützten, indes modernistische, existentialistische und skeptische Autoren das verführerische Potential im historischen Bewusstsein erkannten und deshalb ein antihistorisches entwickelten. Dieser Affekt gegen die Geschichte zeigt sich schon in dem zitierten Aufsatz Nietzsches „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ ebenso wie in Jacob Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ (beide waren ja Schüler Schopenhauers) und erreicht einen Höhepunkt bei den führenden Vertretern des französischen Existenzialismus, bei Sartre und Camus, die sich, über alle sonstigen Differenzen hinweg, in ihrer Verachtung des historischen Bewusstseins einig waren – das gilt zumindest für den Sartre von „L’être et le néant“ und den Roman „La nauseé“, den er praktisch zur gleichen Zeit schrieb. Sartre war der Auffassung, dass die einzig wichtige Geschichte nur aus dem besteht, woran sich der einzelne erinnert, und dass der einzelne sich nur an das erinnert, woran er sich erinnern will. Sartre lehnt auch die psychoanalytische Lehre vom Unbewussten ab – diese Lehre gibt ja der Vergangenheit einen Existenzort in der Gegenwart jenseits unseres Bewusstseins (eben das Unbewusste), von dem aus sie in das Bewusstsein souverän interveniert – und behauptet, dass die Vergangenheit das sei, was wir von ihr im Gedächtnis zu behalten beschließen; sie besitze kein von unserem Bewusstsein getrenntes Sein. Unsere historische Vergangenheit ist daher, wie unsere persönlichen Vergangenheiten, bestenfalls ein Mythos, der unseren Einsatz auf eine bestimmte Zukunft rechtfertigt, und schlimmstenfalls eine Lüge, eine nachträgliche Rationalisierung dessen, was wir im Grunde durch arbiträre Entscheidungen und äußere Zufälle geworden sind. Albert Camus kommt in „L’homme révolté“ auf das gleiche Thema zu sprechen und zeigt, dass die Totalitarismen seiner Zeit – Stalinismus, Nationalsozialismus und Faschismus – ihren Ursprung in einer Einstellung haben, die von dem obsessiven Wunsch des abendländischen Menschen herrührt, der Geschichte einen Sinn zu verleihen oder einen aus ihr zu extrahieren. (Im Gegensatz zu dem, was man heute gern behauptet, waren sie gerade nicht „nihilistisch“!) Dieser „Sinn“ aber ist immer ein kontemporäres Fabrikat, dem historischen Material nicht autochthon entsprungen und der Geschichte abgelauscht, sondern dieser narrativ unterlegt. Was als „Lehre“ aus ihr gezogen wird, wurde ihr vorgängig introjiziert.

Es ist nämlich nicht trivial, zu sagen, die Vergangenheit existiere nur als Geschichte, versteht man das Wort „Geschichte“ im literarischen Sinn. Es gibt keine „verdrängte“ Geschichte, wohl aber gibt es umgekehrt wieder aufgewärmte Vergangenheit. Das, was gewesen ist, ist nicht, und es existiert als Imago nur dadurch, dass man es jetzt erzählt. Das Vergangene als Geschichte ist immer ein Modus der Gegenwart, es gibt keine vergangene Geschichte, Geschichte ist immer ein gegenwärtiges Phänomen – darauf verwies schon Augustinus im elften Buch seiner „Confessiones“. Nicht nur begreift jede Gegenwart sich über ihre Geschichte, die ihrerseits von ihr begriffen wird, sondern die Gegenwart ist nur in jenem Maße Resultat der Geschichte, wie die Geschichte Resultat der Gegenwart ist: Der hermeneutische Zirkel ist vitiös. In Wahrheit wählen wir, wie J.- P. Sartre gesagt hat, unsere Vergangenheit in der gleichen Weise, wie wir unsere Zukunft wählen.

Jede Erzählung als Bericht ist immer auch Konstruktion, selbst wenn sie sich noch so sehr an empirische Fakten hält, denn ohne „synthetische Einheit der Apperzeption“ produzierte sie nur, mit Kant zu reden, ein „Gewühle“. Die Einheit selber aber ist nicht empirisch, sondern gegenüber dem Material, das sie ordnet, quasi-transzendental: Die „Bedingung der Möglichkeit“ eines wie immer gearteten Zusammenhanges der pointillistischen Fakten, ja die Bestimmung dessen, was Faktum ist selber, sonst würde die historische Rede unendlich, noch über das kleinste Detail. Der Rahmen ist freilich nur quasi-transzendental, denn als historisches a priori ist er seinerseits in die Geschichte verwickelt, die er kategorisiert, und in sofern deren posteriori (Maurice Halbwachs spricht vom „cadre sociaux“, dem sozialen Rahmen). In die historische Konstruktion aber gehen Interessen ein – gegenwärtige Interessen: politische und ökonomische, ethnische und nationale, kulturelle und religiöse Interessen: „Auch Klio dichtet“ (Hayden White). (Was ist die „Wahrheit“ der Französischen Revolution, und was ihre „Lehre“ – findet sie sich bei Burke oder bei Carlyle, bei Tocqueville oder bei Marx, bei Michelet oder bei Furet?)

Daher schreibt nicht nur jede Generation ihre Geschichte neu – so als ob es da eine Substanz gäbe, die zwar mit jedem Tag und jeder Stunde mehr wird, die aber als solche, zumindest als asymptotisch erreichbares Telos, eine exakte Beschreibung ermöglicht wie ein Kristall – sondern sie hat ihre eigene Geschichte; und sie bekommt sie, indem sie sie erzählend schafft. Wenn sie darauf verzichtet, so hat sie auch keine. Aber das ist unmöglich – denn sie braucht sie für ihre gegenwärtigen Aktionen und Unterlassungen, für ihr Selbstverständnis, für ihre Identifikationen und Distanzierungen, sie braucht sie zur Legitimation und zur Polemik.

Das heißt natürlich nicht, dass Geschichte beliebig konstruierbar wäre. Die narrative Konstruktion ist an Empirie gebunden und wird von ihr korrigiert, unter Umständen falsifiziert; insofern gibt es „falsche Geschichten“. Aber die Zahl der möglichen Geschichten, selbst bei konstantem empirischen Material (also ohne Änderung der „Forschungslage“), und damit die Zahl derer, welche die Chance haben, als richtige anerkannt zu werden, ist prinzipiell indefinit. Welche realiter sich durchsetzt, hängt ab von den Machtverhältnissen in den Bildungsinstitutionen und Massenmedien. Am deutlichsten ist das an den jeweiligen Nationalgeschichten zu sehen: Jede Nation ist immer auch Indoktrination, und die französische Geschichte Österreichs wird stets eine andere sein als die österreichische Geschichte Österreichs, zumindest solange es Österreich und Frankreich als Nationen gibt. Die Vergangenheit hat keine ontologische Dignität, sie ist als Geschichte eine kulturelle Schöpfung. In keinem Gedächtnis ist die Vergangenheit als solche aufbewahrt, sondern nur das, „was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihrem jeweiligen Bezugsrahmen rekonstruiert“ (Maurice Halbwachs), und Hans Blumenberg meinte lakonisch: “Es gibt keine reinen Fakten der Erinnerung“ - nicht einmal des Individualsubjekts. Aber nur das Individualsubjekt hat überhaupt, wie gesagt, Erinnerung, und sie ist an dessen Lebenszeit gebunden.

Alle politischen Begriffe, sagt Carl Schmitt, sind polemische Begriffe. Und da die Geschichte ein wesentliches Reservoir, ja der eigentliche ideelle Fundus politischer Kämpfe ist, dessen sie nicht entbehren können, das motivierende ideologische Reservoir für ihre Argumentationen und Disputationen, für ihre Angriffe und Verteidigungen, für ihre Sinngebungen und Rechtfertigungen, ist es nach dem Gesagten selbstverständlich, dass auch alle historischen Begriffe, Theorien und Kategorien, alle historiographischen Erzählungen „wie es eigentlich gewesen ist“ (Leopold Ranke), polemischen Charakter haben: Sie dienen der Legitimation und Delegitimation gegenwärtiger weltanschaulicher, letztlich politischer Positionen. Und sie dienen diesem Zweck niemals besser, als wenn sie sich dieser Funktion gar nicht bewusst sind und sich selbst als rein wissenschaftlich, deskriptiv und wertfrei verstehen. Wenn sie sich dann noch mit der je herrschenden Moral verbünden, oder besser gesagt: diese zwanglos integrieren, ist ihnen der Erfolg nur schwer zu nehmen – vorläufig, bis zur nächsten weltpolitischen Wende oder zumindest bis zur nächsten Erschütterung des politischen Machtgefüges. Daher ist Geschichte nicht die originale Quelle eines Sinns, einer Lehre, einer Mahnung, sondern immer nur deren Echo. Sie ist in der säkularen Moderne der Ort der Sinngebung des Sinnlosen (Theodor Lessing); und sie ist immer ein politisches Instrument.

In seinem Traktat: „Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen“ von 1929 erinnert Carl Schmitt daran, „dass alle geschichtliche Erkenntnis Gegenwartserkenntnis ist, dass sie von der Gegenwart ihr Licht und ihre Intensität erhält und im tiefsten Sinne nur der Gegenwart dient, weil aller Geist nur gegenwärtiger Geist ist... An zahlreichen berühmten Historikern der letzten Generation haben wir die einfache Wahrheit noch vor Augen, und es gibt heute niemanden mehr, der sich durch Materialhaufen darüber täuschen ließe, wie sehr alle geschichtliche Darstellung und Konstruktion von naiven Projektionen und Identifikationen erfüllt ist.“

Schärfer noch hat diesen Sachverhalt der große französische Rationalist Paul Valéry in seinem kurzen Text „Über Geschichte“ im Jahre 1927 formuliert, der ihn in eine heftige Diskussion mit Historikern verwickelte. „Die Geschichte“, schrieb Paul Valéry, „ist das gefährlichste Elaborat, das die Chemie des Intellekt produziert hat. Seine Eigenschaften sind allbekannt. Es bringt die Völker ins Träumen, versetzt sie in Rausch, gaukelt ihnen eine Vergangenheit vor, übersteigert ihre Reflexe, hält ihre alten Wunden am Schwären, stört sie in ihrer Ruhe auf, treibt sie zu Größenwahn oder auch zu Verfolgungswahn und macht, dass die Nationen verbittert, auftrumpfend, unausstehlich und eitel werden.

Die Geschichte rechtfertigt, was immer man will. Sie lehrt schlechterdings nichts, denn es gibt nichts, was sich mit ihr nicht belegen ließe. Was wurden nicht schon Bücher geschrieben mit dem Titel: ‚Die Lehren aus dem und dem...’! Nichts lachhafter, als im nachhinein von Ereignissen zu lesen, die auf Ereignisse folgen mussten, die von diesen Büchern im Sinne des Zukünftigen gedeutet wurden... Nichts wurde mehr durch den letzten Krieg (und Valéry spricht vom 1. Weltkrieg!, R.B.) zerstört als der Anspruch auf Voraussage und Warnung. Aber die historischen Kenntnisse waren doch vorhanden, oder?“

Und trotzdem, dessen können wir sicher sein: Jetzt, da das „Great Game“ in eine neue Phase getreten ist, wird man wieder die Geschichte und ihre Lehren bemühen zur Mobilisierung des Massenbewusstseins. Das wird eine andere Geschichte und das werden andere Lehren sein als vor dem 11. September, aber sie werden genauso objektiv sein und stimmen – und die Medien werden sie verbreiten.

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