Die Schatten der Vergangenheit und die Lehren der Geschichte

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von Univ.Prof.Dr. Rudolf Burger

Am 26. März 2002 hielt Univ.Prof.Dr.Rudolf Burger auf Einladung des Liberalen Klubs im Hotel Imperial in Wien einen vielbeachteten Vortrag zum Thema „Lehren aus der Geschichte“. Wir danken dem Vortragenden und dem Liberalen Klub für die Zustimmung zur Veröffentlichung dieses Vortrages.

Variation über das Thema: „Niemals vergessen!“

Im Jahre 1942 – Sie werden sich vielleicht noch erinnern – veröffentlichte Jorge Luis Borges neben einigen poetischen Kaprizen auch einen ernsthaften Bericht über eine damals schon längere Zeit zurückliegende merkwürdige Begegnung. Aus literarischer Gewohnheit kleidete er seine Erzählung in die Gestalt einer phantastischen Novelle und gab ihr den Titel: „Das unerbittliche Gedächtnis“. Sie handelt im Jahre 1887 und ist eine (lückenhafte, wofür Borges sich mit guten Gründen entschuldigt, wurde er selbst doch erst 1899 geboren) Erinnerung an einen uruguayanischen Indianerjungen, der nach einem Reitunfall, hoffnungslos gelähmt, mit einem absoluten Gedächtnis begabt war. Achtzehn Jahre lang hatte Ireneo Funes, so hieß der Junge, so gelebt, wie wir alle, d.h. wie einer, der träumt; er sah, ohne wahrzunehmen, hörte ohne zu hören, vergaß alles, fast alles. Bevor das Pferd ihn zu Boden warf, sei er, wie Borges uns versichert, so gewesen, wie alle anderen auch: blind, taub, zu nichts nütze, ohne Gedächtnis; dabei gierig auf das Leben und auf Bewegung.

Beim Sturz verlor Ireneo das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, war die Gegenwart fast unerträglich reich und klar; und ebenso seine frühesten und beiläufigsten Erinnerungen. Wenig später wurde er der Tatsache inne, dass er vollständig gelähmt war. Aber dieser Umstand berührte ihn kaum. Er befand, dass die Unfähigkeit zu handeln und sich zu bewegen ein äußerst geringer Preis sei für sein nunmehr unfehlbares Gedächtnis und seine absolute, ans Blasphemische grenzende Fähigkeit, die Dinge in ihrer Einzelheit wahrzunehmen und sie sich zu merken. So war Ireneo, der vor seinem Unfall kaum des Lesens mächtig gewesen war, schon nach einmaliger Lektüre der Naturalis Historia des Plinius imstande, auf Latein und Spanisch alle Fälle von erstaunlichem Gedächtnis aufzuzählen, die dort im vierundzwanzigsten Kapitel des siebenten Buches vermerkt werden: Cyrus, der Perserkönig, der alle Soldaten seiner Heere mit Namen zu nennen wusste; Mithridates Eupator, der Recht sprach in den zweiundzwanzig Sprachen seines Reiches; Simonides, der Erfinder der Mnemotechnik; Metrodorus, der sich der Kunst befleißigte, nur einmal Gehörtes wortgetreu wiederzugeben.

Der lahme Ireneo Funes ließ alle diese Helden der ars memorativa als vergesslich erscheinen. Er kannte genau, wie Borges berichtet, die Formen der südlichen Wolken des Sonnenaufganges vom 30. April 1882 und konnte sie in der Erinnerung mit der Maserung auf einem Pergamentband vergleichen, der ihm nur ein einziges Mal zu Gesicht gekommen war, und mit den Linien der Gischt, den ein Ruder auf dem Rio Negro am Vorabend aufgewühlt hatte. Er konnte alle Träume, alle Tagträume rekonstruieren. Zwei – oder dreimal hatte er einen ganzen Tag rekonstruiert; nie war er über etwas im Zweifel gewesen, aber jede solcher Rekonstruktionen hatte einen ganzen Tag beansprucht. -

Einen Kreis im Sand, ein rechtwinkeliges Dreieck auf einer Schiefertafel, ein Rhombus sind Figuren, die wir alle in unserer Unvollkommenheit vollkommen wahrnehmen und erinnern, und als abstrakte Gebilde definieren können; wie uns mit den vollkommenen geometrischen Figuren erging es dem vollkommenen Ireneo Funes mit natürlichen Dingen, mit der zerzausten Mähne eines Fohlens, mit einer Viehherde auf einem Hügel, mit der wandelbaren Gestalt einer Flamme.

Zur Bildung platonischer Ideen war er freilich nicht imstande, noch hatte er ein Verlangen danach. Wozu auch? Wo wir uns an Definitionen klammern, mit genus proximum und differencia specifica eine logische Seinsordnung errichten, um uns in der Welt zu orientieren und sie zu erkennen, brauchte er sich bloß zu erinnern.

Im 17. Jahrhundert hatte John Locke, indem er einen Gedanken der mittelalterlichen Scholastik wieder aufnahm und sich im Streit zwischen Nominalisten und Realisten entschieden auf die Seite der Nominalisten schlug, eine unmögliche Sprache gefordert (die er dann wieder verwarf), in der jedes einzelne Ding, jeder Stein, jeder Vogel und jeder Zweig einen eigenen Namen haben sollte. Funes hatte einmal eine ähnliche Sprache geplant, sie dann aber wieder aufgegeben, weil sie ihm zu allgemein, zu mehrdeutig erschien. Tatsächlich erinnerte sich Funes, wie uns Borges versichert, nicht nur an jedes Blatt jeden Baumes in jedem Wald, den er je gesehen hatte, sondern auch an jedes einzelne Mal, da er es sich vorgestellt und sich an es erinnert hatte. Er beschloss, jeden seiner vergangenen Tage auf 70.000 Erinnerungen zu beschränken, die er später mit Ziffern bezeichnen wollte, um ihnen eine Ordnung zu verleihen. Zwei Überlegungen hielten ihn davon ab: die Befürchtung, dass die Mühe endlos sein würde; und die Einsicht, dass sie sinnlos war. Er überlegte, dass er in der Stunde seines Todes noch nicht einmal die Einordnung seiner sämtlichen Kindheitserinnerungen zu Ende gebracht haben würde.

Dabei starb er sehr früh, im gleichen Jahr 1889, in dem Nietzsche dem Wahnsinn verfiel, ganz banal an einer Lungenembolie. Doch hält sich beharrlich das Gerücht, dass in Wahrheit die Last der Erinnerung sein junges Leben zerbrach; als gesichert kann gelten, dass sie die Ursache seiner Lähmung war; dazu kam die Angst, sie durch Bewegung, ja durch die geringste Regung des Lebens überhaupt, zu vermehren – vielleicht eine grundlose Angst, denn was heißt: das Unendliche vermehren? Doch zu so einer eleatischen Überlegung war er nicht fähig, der Zugang zu abstrakten Ideen und ihren Aporien blieb ihm verwehrt. Er hatte ohne Mühe eine Reihe lebendiger Sprachen und Latein gelernt, doch Borges gibt uns zu verstehen, dass dieses Wunder an Gedächtnis zum Denken nicht sehr begabt war. Denken heißt, Unterschiede vergessen, Verschiedenes vergleichen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgestopften Welt des Ireneo Funes gab es nichts als Einzelheiten.

Als Borges den Jungen das letzte Mal sah, war dieser neunzehn; es war im Jahr vor dessen Tod. Er schien, wie Borges sagt, „monumental wie Erz, älter als Ägypten, früher als die Prophezeiungen und die Pyramiden.“

Vielleicht war jener störrische Hengst, der Ireneo Funes später abgeworfen hat, als junges, übermütiges Fohlen unter jener Herde, die Nietzsche 1873 (auf heimlichem Besuch bei seiner Schwester in Paraguay, wer weiß?) am Beginn seiner zweiten „Unzeitgemäßen Betrachtung“: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ beobachtet, deren Glück er bewundert und um das er sie beneidet. Sie weiß nicht, sagt Nietzsche, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen, kommt den Menschen hart an, sagt Nietzsche, weil er sich doch als so viel höherstehend erachtet und daher auf das Glück des Tieres, das ihm verschlossen bleibt, eifersüchtig ist. Voll Neid fragt der an Verstand überlegene Mensch gelegentlich das Tier und sucht von ihm Belehrung: „Warum redest du mir nicht von deinem Glück und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen: das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg.“

Das Tier, sagt Nietzsche, lebt unhistorisch. Der Mensch aber werde erst dadurch zum Menschen, dass er lernt, das Wort: „Es war“ zu verstehen, jenes schreckliche Wort, mit dem Trauer, Hass, Kampf, Leiden und Überdruss zu den Menschen kommen, sie zu erinnern, was ihr Dasein im Grunde ist: ein nie zu vollendendes Imperfektum, ein ununterbrochenes Gewesensein. Deshalb sei der Mensch, vor allem aber der historische Mensch, der die Vergangenheit zu seiner Verpflichtung macht und sein Gewesensein nicht überschreitet, sondern sich im Gegenteil über es definiert, für das Glück so schlecht begabt, und es habe vielleicht kein Philosoph mehr Recht als der Zyniker: denn das Glück des Tieres, als des vollendeten Zynikers, sei der lebendige Beweis für das Recht des Zynismus. Zum Glück gehört, worin immer es bestehen mag, das Vergessen-können, gehört das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Aber auch zum Handeln gehört Vergessen-können. Wie der Handelnde, nach Goethes Wort, immer gewissenlos ist, so ist er auch in spezifischer Weise geschichtslos. „Denkt euch nur“, sagt Nietzsche, und man könnte meinen, er hätte die Borgessche Figur des Ireneo Funes vor Augen, „denkt euch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besäße...: er wird wie der rechte Schüler Heraklits kaum mehr wagen, den Finger zu heben. Zu allem Handeln gehört Vergessen: wie zum Leben alles Organischen nicht nur Licht, sondern auch Dunkel gehört.“ Daher sei es möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja, glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; aber es ist ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Es gibt, sagt Nietzsche, „einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur... Wir werden also die Fähigkeit, in einem bestimmten Grade unhistorisch empfinden zu können, für die wichtigere und ursprünglichere halten müssen insofern in ihr das Fundament liegt, auf dem überhaupt erst etwas Rechtes, Gesundes und Großes, etwas wahrhaft Menschliches wachsen kann.“ (Hat die Moderne nicht mit Descartes begonnen, der die historisch tradierte Last des scholastischen Denkens mit seinem herrisch-antihistorischen „Cogito“ abgeworfen hat?)

Wenn heute so viel von „kollektiver Identität“ die Rede ist – ein Wort, das sich in der gesamten klassischen Sozialphilosophie nicht findet und erst vor etwa fünfzehn Jahren in Mode gekommen ist – von kollektiver Identität, die sich über eine gemeinsame Geschichte konstituiert und definiert, so wird mit dem outrierten Gedenken das Wichtigste vergessen gemacht: dass nämlich Identität im strikten Sinn nur etwas Totem zukommt, einem Ding, einem Stein (oder einem Menschen, der sich zu einem Stein macht, d.h. der sich als das definiert, was er ist: ein Jude, ein Antisemit, ein Professor...), und dass das menschliche Dasein nur dadurch menschlich ist, dass es, in Hegels Formulierung, in jedem Augenblick identisch ist mit seiner Nichtidentität, oder dass es, wie Jean-Paul Sartre sagt, ist, was es nicht ist, und nicht ist, was es ist: dass es positiv nur ist durch seine dauernde Selbstnegation, d.h. durch seine eigene Überschreitung; der Derridasche Begriff der „différance“ hat den gleichen Sachverhalt im Auge (wenn er ihn auch terminologisch verdinglicht).

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