Untersuchung über den Reichtum der Nationen
Die unauffällige Verwesung bedeutet nicht mehr das dramatische Auftreten eines heldenhaften Rebellen, der – wie LUTHER – seine Thesen ans Kirchentor nagelte und mit dem Reichsbann belegt werden konnte (Worms 1521). Das Unerhörte, was seit dem Siebenjährigen Krieg24 (1756-1763) geschah, ist die Weigerung, die Tugenden als solche überhaupt noch wahrzunehmen. Angefangen von KELSENS reiner Rechtslehre über TÖNNIES' reine Soziologie bis zur chemischen Reinheit des modernen Spezialistentums, werden sie – wienerisch ausgedrückt – nicht einmal ignoriert. Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Kunst, Recht und Politik stehen auf keinerlei fromme Hilfe mehr an und die Grundtugenden werden zum möglichen, aber nicht mehr notwendigen Bestandteil einer Gesellschaft, eines Betriebes oder einer Familie erklärt.
Damit ist der ruch- und gesanglose Abgang der ehemaligen Autoritäten von der Bühne der Geschichte überhaupt sichergestellt: Der leere Thron bleibt leer. Robert MUSILS Roman25 «Der Mann ohne Eigenschaften» ist geradezu das altösterreichische Paradebeispiel, und der eine Weltkrieg von Sarajevo über Trianon und Potsdam bis zum Fall der Berliner Mauer war der allerteuerste Preis dafür.
Das steigende ökologische Bewusstsein von heute ist auch ein gutes Beispiel: Das Wetteifern auf der Bio-Welle scheint eine Art Gegenreformation zur wissenschaftlichen Hybris des ausgehenden XIX. und des vollen XX. Jahrhunderts zu sein. Es bleibt zu hoffen, dass die Grünen nicht in einem anderen Dauerrausch enden oder die berechtigte Sorge vieler kleiner Leute von heute nur opportunistisch ausnützen, in der völlig unmöglich gewordenen Nostalgie «Zurück zur Natur» (Rousseau). Die schlichte Einordnung von Chemie, Wirtschaftlichkeit und Genetik in eine Reihe mit dem Bösen deutet auf einen neuerlich ratifizierten Verlust der Mitte mit dem entgegengesetzten Ausschlag. Wer Bodenkultur studierte und als Ingenieur sehen und rechnen kann, der weiß, dass wir ohne chemische Industrie, ohne wirtschaftliches Denken, ohne Pflanzen- und Tierzucht nicht einmal eine Woche lang überleben könnten. Womit die «77 Todsünden» der zivilisierten Menschheit gegen Umwelt und Gesundheit auch nicht verniedlicht werden sollten.
Das Hinhören auf die Fusi/Phýsis ist etwas anderes als die Verherrlichung des Primitiven und Ungehobelten im Schoße der kleinen Horden. Dieses Hörenkönnen weist uns immer wieder auf den Weg eines hermeneutischen Zirkels, der keinem dialektischen Pendelschlag, sondern einer aufsteigenden Spirale gleicht. Wir können nur das verstehen, was wir schon vorher verstanden haben, mit der Maßeinheit einer tiefer gelegenen Skala. So wird unser Denken dem Mehrfarbendruck ähnlich, wobei es auf jede Platte ankommt, damit die richtige Mischung aller Farben aufleuchten kann.
§ 4 Klugheit26
Griech. Φρονησιζ (phrónesis), lat. prudentia
Die Griechen sprachen von Gesinnung und Empfindung, Denken und Verstand (Φρονησιζ /phrónesis), Einsicht und Klugheit (Φρονιζ/phrónis), verständiger Denkart voll des Selbstvertrauens und taktvollen Verständnisses (Φρονημ&aplha;/phrónema) in derart einmaliger Weise, dass sie in der Tat kaum überbietbar und übersetzbar sind. Im Italienischen, Spanischen, Französischen, Englischen blieb das lateinische Wort erhalten, mit kleinen Ab-schleifungen in der Endsilbe wie prudenza, prudencia, prudence und mit der völligen Abnützung seines semantischen Gehaltes. Im heutigen Spanisch sagt man dafür eher cordura nach dem lateinischen cordatus: verständig, gescheit. Selbst im Deutschen überlebte jedoch die Wurzel in der «Jurisprudenz der Richter», die sich klugerweise an Prinzipien, Interpretationen, Urteilssprüchen der Vergangenheit, im Besonderen aber auch der Höchstgerichte halten müssten. Das Wort «Kluc-heit» aus dem Mittelhochdeutschen verdanken wir Wolfram von Eschenbach (1150), der die geläufige Bedeutung von gescheit, gewandt, listig befestigte.
In unserer höchsten Sprachnot kann uns vielleicht Die Kluge von Carl Orff zur Hilfe eilen. Ich habe sie vor sehr langer Zeit in einem Puppentheater erlebt und somit erinnere ich mich ihrer nur vage, aber bestimmend für mein Leben lang als eine conditio humana: Ein König will sich von seiner königlichen Ehehälfte trennen, erlaubt ihr aber drei letzte Wünsche, die ihr teuer sind, zu erfüllen. Als kluge Frau wünscht sie sich Verschiedenes, und zum Schluss schläfert sie ihren königlichen Gemahl ein und nimmt ihn in einer Reisetruhe auf ihren Verbannungsort mit. Aus Orffs Musiksprache vermochte ich also einmal jene Klugheit zu vernehmen, die ich auch heute nicht ebenbürtig ausdrücken kann und die gerade deshalb so häufig der weib-lichen Intuition zugeschrieben werden muss.
In Verbalformen spricht uns der griechische Begriff noch deutlicher an: Das Zeitwort frontizw/phrontízo heißt bedenken, erwägen; Sorge tragen für etwas. Das nahverwandte Zeitwort fronew/phronéo heißt wiederum denken, bei Sinnen sein, vernünftig sein; meinen, aber nicht wollen – sondern mögen, beabsichtigen, gedenken zu tun. Dieses verhaltene Meinen anstelle des dirigistischen Wollens muss hervorgehoben werden. HAYEK hat an dieses Wortpaar die Bedingungen der liberalen Rechtsordnung angeknüpft. Worauf wir noch zurückkommen müssen.
In PLATONS Dialogen wird die Klugheit als Bedächtigkeit, Sich-selbst-Erkennen und schließlich als Erkenntnis der Erkenntnis bestimmt: «...sie allein aber ist sowohl der andern Erkenntnisse Erkenntnis als auch ihrer selbst»27 . Alle Definitionsversuche werden jedoch wieder in Frage gestellt. Als sichere These bleibt, dass keine Tugend ohne Klugheit möglich sei.
ARISTOTELES stellt die Klugheit allen Tugenden voran und sucht keine platonischen Ideen und transzendente Ideale, sondern legt Rechenschaft von den richtigen logoi(lógoi, Verhältnissen) in uns selbst ab. Das Kapitel über die Klugheit beginnt mit dem Satz: «...wir werden nur dann einen klaren Begriff gewinnen, wenn wir erwägen, welche Menschen wir als Träger der fronesi /phrónesis bezeichnen können»28 – sei es im Handeln, sei es in der Staatsführung, im praktischen Beruf, fern von gewöhnlicher Gerissenheit, aber auch fern von exakter Wissenschaft. Die situationsgerechte Klugheit ist demnach «ein vernünftiger Habitus, der die Wahrheit im Handeln, in Bezug auf das menschliche Gut und Übel, erreichen kann»29. Dieser Kardinaltugend werden wichtige Teiltugenden zugeordnet:
24 Mirgeler 240
25 1930-33 unvollendet
26 Hist.Wb.Phil. Bd.4, 857
27 Charmides. 166 c
28 Nikomachische Ethik IV, 5
29 Ibidem VI, V,1-4