Untersuchung über den Reichtum der Nationen
Die Neigung zum Tausch fördert die sozioökonomische Differenzierung. Die Prognose, nach der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden – bis zur völligen Ausbeutung und Niederschlagung jeder Gerechtigkeit –, hat die Prüfung in der Ersten Welt nicht bestanden und auch in der Dritten Welt braucht sie nicht verifiziert werden zu müssen, sobald auch dort das Gleichgewicht eines tragfähigen Kapitalismus aufgebaut werden sollte. Die Missstände in den unterentwickelten Ländern sind gerade nicht durch eine lebhafte Marktwirtschaft, sondern durch Stagnation der eigenen Kapital- und Traditionsbildung festgefahren. Solange die feudale Lebensweise in diesen Umständen nicht durch einen fortschrittlichen Kapitalismus abgelöst wird, müssen diese Länder so weiterleben wie sie es eben schaffen.
Der «Reichtum der Nationen» fällt nicht aus heiterem Himmel, sondern muss aus eigener Anstrengung erarbeitet werden und allererst braucht er einen langen Erziehungsprozess zur Aufklärung. Große Teile Hispanoamerikas weisen einen kulturellen Rückstand von 200, manche islamische Länder der Welt bis zu 500 Jahren auf. Paradephilosophen im fernen Argentinien sind Hegel – und nicht Kant, Max Weber – und nicht die Liberalen. Ja, die Letzteren werden von den Kirchenfürsten als eine Art zweiter Sündenfall angesehen. Mit so einem Abstand kann freilich keiner für ein modernes Wirtschaften aufgeklärt werden. Aufklärung wäre nämlich der Ausgang der Nationen der Dritten Welt aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit56,
wenn sie noch auf der Schwelle zur Zweiten stehen. Ihnen fehlen nicht nur das Geld, sondern noch mehr die Sprach- und Denkkategorien dafür. Nicht nur in Hispanoamerika sollte man glauben, auch im Herzen Kontinentaleuropas kam es auf den Resten des Ancien régime zur Apperzeptionsverweigerung. Die Zeiten der Dreiteilung des Heiligen Deutsch-Römischen Reiches in Preußen, Rheinische Konföderation und Österreich, als Kaiser Franz II auf die heilige Krone unter Druck Napoleons verzichten musste (1806), waren auch in Wien nicht geradezu günstig für die Bildung einer liberalen Tauschgesellschaft und sozusagen für das Aufblühen der kommutativen Gerechtigkeit. Im allgemeinen Waffenlärm der napoleonischen Verwüstung gab es auch ein Zuviel an Romantik, Nationalismus und intellektuellem Widerstand dafür. Auch die Entlarvungslust, um das falsche Bewusstsein des Anderen zu diagnostizieren, begann harmlos scheinend mit der Sprachverführung durch Wortspielereien. Sie verdichteten sich aber allzu oft zu Haltungen und die Haltungen zu Taten. Auch dafür haben wir einmal die Rechnung bezahlen müssen.
Adam SMITH war in Deutschland nur ein Karikaturobjekt des sozialen Rückstands. HAYEK bemerkte einmal, dass Hitler sogar mit dem Erzfeind Stalin verhandeln konnte, nur nicht mit den Liberalen! In Österreich liberal zu sein war ein Schimpfwort und Hochverrat zugleich. Unsere «Gloriose Revolution» fand nicht statt, nicht einmal nach dem Weltkrieg.
Nach den bösen Zungen, das Tauschbegehren sei bloß ein Manöver zur Täuschung, sobald «diese Engeländer» die eigenen Schwächen spüren und mit dem abnehmenden Reiz ihres Besitzes sich zu langweilen beginnen dürften. Bei Überhandnehmen der Eitelkeit, um den Wert des eigenen höher auszugeben und das Fremde neidisch zu begehren, kommt es freilich geistreich vor, dass der «Tauschende meint, er sei der Täuschende, aber der, mit welchem er tauscht, glaubt von sich dasselbe»57. Ein Gerede so niedrigen Gehalts kann nur für einen Spießer zur Belustigung dienen. Der Mensch würde sich nach dieser Metaphysik des Falschen zum «Listigen Einzelgänger»58 verwandeln, zum «Homo oeconomicus», dessen zwischenmenschliche Beziehungen im Wesentlichen auf Betrug angelegt seien. Wo man über den Anderen so denkt, wie der Schelm selber ist, gibt es wirklich wenig Raum für Liberalität – auch heute noch! Dafür kam in diesen engen Räumen Ferdinand TÖNNIES' «reine Soziologie» in Mode, mit der Konfrontation von «Gemeinschaft und Gesellschaft», die auffallende Parallelen zu ARISTOTELES' Ökonomie und Chrematistik zeigt:
LEIBNIZ verstand die göttliche und menschliche iustitia universalis als caritas sapientis ohne auf die frühere kommutativ-legal-distributive Dreiteilung einzugehen: Und zwar «nicht nur im göttlichen Willen, sondern auch im Intellekt, auch nicht nur in der Macht Gottes, sondern auch in der Weisheit»50. Nebenbei entdeckte er die Differenzial- und Integralrechnung (1676), die einmal noch in ferner Zukunft für die Österreichische Schule von Carl Menger (1871), Eugen von Böhm-Bawerk, Ludwig von Mises zum wichtigsten Bestandteil im Instrumentarium der Grenzkosten- und Grenznutzenrechnung gereichen sollte. Kennen wir sie noch, diese großen Österreicher? In Amerika sind sie bekannter als im undankbaren Österreich!
John LOCKE, einer der frühesten Promotoren des ankeimenden politischen Liberalismus, machte die Gerechtigkeit zur Pflicht der Regierenden, «um das Privateigentum der zum Leben nützlichen Dinge für jedermann zu sichern» (1689)51. Locke untersuchte die Bedingungen unter denen freie Individuen einander nütze werden können, entweder in Kooperationsabsicht oder im Austausch von Gütern, Diensten und Rechten. Ein Prozess, der jedenfalls zur Arbeitsteilung und Spezialisierung führen muss. Die Gleichheit der Tauschpartner wird dabei als Forderung der Gerechtigkeit angesehen52.
Für David HUME gilt wiederum: «Der Nutzen und ausschließliche Zweck dieser Tugend besteht darin, durch Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung Glück und Sicherheit zu schaffen»53. Dabei spielt auch bei ihm der kulturelle und wirtschaftliche Nutzen der Tauschgesellschaft eine zentrale Rolle.
KANT interpretierte die Gerechtigkeit nicht mehr als Tugend, sondern als Eigenschaft der bürgerlichen Gesellschaft: «Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann, und das formale Prinzip der Möglichkeit desselben, nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens betrachtet, heißt die öffentliche Gerechtigkeit»54.
Die Funktionstüchtigkeit der Tauschgesellschaft bildet den Mittelpunkt der Liberalität bei Adam SMITH (1776). Soweit noch im merkantilistischen Denken das größere Besitztum edler Metalle als Reichtum galt, Smith wusste bescheid um den Segen des fruchtbaren Tauschtriebes, d. h. in «propensity to truck, barter, and exchange one thing for another». Für Smith ist diese Neigung so natürlich wie das Denken- und Sprechenkönnen. Während Ferdinand TÖNNIES selbst 200 Jahre nach John Locke und 100 Jahre nach Adam Smith bei Ausprägung der Tauschfunktion eine unwiderstehliche «Sehnsucht nach Mazedonien», d. h. nach der Bodenständigkeit der sozialen Kleingebilden des Aristoteles verspürte. Die stark ideologiebeladene Landsoziologie auf seiner Spur, sowohl in Amerika wie in Europa, insbesondere in Österreichs Agrarpolitik vor dem Beitritt zur Union, begünstigte den antiliberalen Protektionismus.
Das Tauschbegehren ist Zeichen einer offenen Gesellschaft, die in ihrer Existenz von Kooperation und Wettbewerb getragen wird. Diese Offenheit darf sich dabei nicht auf das Wohlwollen des Austeilens durch eine schützende Autorität oder eine altruistische Solidarität, sondern auf die Wahrnehmung der eigenen Interessen durch alle Mitspieler verlassen. Das Tauschprinzip lautet demnach: «Give me that which I want, and you shall have this which you want»55. Kapital wird zur selbstverständlichen Voraussetzung dafür, dass man Güter, Dienste und Rechte im Überschuss und im Voraus produzieren könne.
50 Non tantum in voluntate divina, sed et in intellectu, nec tantum in potentia Dei, sed et in sapientia.
Werke, hg. Dutens 1768, IV/3,272
51 ...harum rerum ad vitam utilium suam cuique privata et secura sit possessio.
52 Two treaties of government. 1689-90. Works 1823. Nachdruck 1963, 5, 352-367
53 Enquiry conc. the principles of the morals III, 13ff
54 Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe 6, 305f
55 Inquisition into the nature and causes of the wealth of nations. 1776. Oxford 1976 II/1, 25-26
56 Kant, Immanuel. 1784. Was ist Aufklärung?
57 Nietzsche, Friedrich. Nachgelassene Fragmente. 1876-77, 20. Hg. Colli-Montineri 1967, 4/2, 459
58 So bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.