Untersuchung über den Reichtum der Nationen
der Idee des gerechten Preises (pretium iustum) verhinderte den sozioökonomischen Fortschritt überall dort, wo man sich daran gehalten hat.
Wie wir dessen spätestens seit HAYEK innegeworden sind, das fehlende Verständnis für die Funktionsweise der Markt- und Geldwirtschaft hat dramatische Folgen. Auf dem Weg in die Unfreiheit blieb das liebe Geld (man verzeihe mir die üble Ausdrucksweise!) vorwiegend den «schmutzigen Juden» und der «Untugend der Kapitalisten» vorbehalten.
«Geld tut Frauen gut»42. Sie sind auch in dieser Hinsicht klüger als die Männerwirtschaft. Auch der griechisch gebildete Apostel PAULUS hatte seine monetären Vorurteile: «Denn die Wurzel allen Übels ist die Geldgier»43, wie wenn sich das Üble nicht in verschiedene Richtungen unseres Daseins verzweigen könnte, von Neugier über Fressgier bis zur Machtgier und Eitelkeit. Jenseits von Gut und Böse hat die instrumentale Tausch- und Rechnungseinheit «Geld» mit den Tugenden nichts zu tun. Jede Währung ist an und für sich moralisch so belanglos wie jedwedes Maß – ein Meter, ein Liter, ein Augenblick – und so übel wie jede Maßlosigkeit. Erst im Frühkapitalismus, begünstigt durch die «Protestantische Ethik» (Max WEBER), wurde das Geldverdienen als unsere moralisch einwandfreie Existenzgrundlage anerkannt.
Im antiken Rom wurde die Gerechtigkeit neben dem Edlen, Guten und Geziemenden weit und breit überliefert: «In der Gerechtigkeit kommt der Tugend Glanz zum höchsten Ausdruck, nach ihr werden die guten Männer genannt...»44 und in einem viel zitierten Fragment wird auch mit höchster Präzision definiert: «Gerechtigkeit ist der feste und dauernde Wille, jedem sein Recht zuzuteilen»45.
«Jedem das Seine zu geben», stammt also aus dem wohlverstandenen griechisch-römischen Rechtsdenken. Der jüdisch-griechisch erzogene Apostel PAULUS als Kosmopolit an der Wasserscheide zweier Zivilisationen aus dem Nahen Osten und dem Abendland ermahnte mit aller Konsequenz die ersten römischen Frühchristen. «Gebt allen das ihnen Gebührende: Sei es Steuer, Zoll, Ehrfurcht oder Hochachtung»46. Aber er kennt und beschwört auch eine andere, transzendent überhöhte Gerechtigkeit, die «nicht aus dem Gesetz, sondern aus dem Glauben kommt»47. Sie wird in der paulinischen Theologie zum radikalen Zentralbegriff der Soteriologie48. Von da an existiert eine innige Verschränkung der antiken Tugendlehre mit der christlichen Theologie und Moral. Von der patristischen Ethik angefangen (Ambrosius, Augustinus) über die Scholastik, allen voran mit THOMAS VON AQUIN findet die Tugend- und Erlösungslehre ihre klassische Ausformung in harmonischer Einheit:
LUTHER kannte noch die überlieferte Lehre und teilte sie in iustitia evangelica et civilis ein. Evangelisch gesehen, wahre Gerechtigkeit gibt es aber allein in der radikalen Deutung der
paulinischen Rechtfertigungslehre: Allein die Zuteilung der Gnade Gottes ist iustitia distributiva. Somit wurden zwar die freien Vertrags- und Tauschverhältnisse (iustitia commutativa) und die weltliche Gesetzgebung (iustitia legalis) theologisch zum äußerlichen Wohlverhalten deklariert, aber paradoxerweise spielte sich die durchaus zentralistische Idee von «Platons Staat, Gottes Staat» in augustinischer Spätausgabe gegen die zentralistische Distribution aus Rom auf. Der Reformation gelang überall die Eigenständigkeit der euro-anglo-amerikanischen Peripherien zu verstärken. Das ländlich-sittliche Eisleben stellte sich gegen die schillernde Urbanität der Weltstadt Rom erfolgreich auf die eigene Beine.
Auch CALVIN reduzierte die griechisch-römischen Bürgertugenden, wenn möglich, in einer noch extremeren Strenge und Reinheit zum unbeugsamen Gehorsam Gottes Distributions- und Prädestinationswillen gegenüber. Freilich wusste er diesen Willen unter seiner autoritären Führung nur zu gut zu deuten und die Leitung der Kirchen- und Staatsgeschäfte in seiner «Modellstadt Genf» (1541) sich selbst zuzuschanzen. Dennoch entwickelte sich aus der ungeheuren religiösen Energie des Reformationszeitalters geradezu eine nie dagewesene Antriebskraft auf breitester Basis für die wirtschaftliche Entwicklung der Ersten Welt an beiden Ufern des Atlantiks. Die rigide Prädestinationlehre bestärkte das Selbstbewusstsein des individuellen Erwähltsein mit dem Kriterium des innerweltlichen Erfolgsdenkens.
Unterdessen die Gold- und Silbereinfuhren aus den Indias Americanas erhielten Europas monetäre Kapazität auf der entsprechenden Höhe und verhinderten sowohl eine katastrophale Deflation wie auch eine ebenso katastrophale Inflation. In den Ländern des gegründeten «Virreinato Río de la Plata /des Vizekönigtums am Silberfluss» (1776, heute Argentinien, Uruguay) wird das eigene Geld heute noch einfach «plata /Silber» genannt. Das Gold wurde aber nach Spanien und von dort aus in die europäischen Handelswege exportiert. Der Freihandel wäre in deflationäre Schwierigkeiten geraten ohne entsprechende Zunahme der Zahlungsmittel. Umgekehrt: Die enorme Zunahme des aus heiterem Himmel gefallenen Geldregens hätte Inflation zur Folge haben müssen, wenn das vom Freihandel begünstigte Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum nicht existiert hätte. Die Folgen wären in beiden Fällen einer extremen Inflations-Deflationsspirale unabsehbar gewesen. Nach der Hypothese, die wir verfolgen, reichten aber weder die Erhöhung des Geldvolumens noch die Freigabe des Handels aus, jede allein oder beide zusammen, um den wirtscsuphaftlichen Aufschwung voran-zutreiben. Worauf kam es dabei wirklich an? Dessen Spur wittern wir auf dem Weg dieser gewundenen Untersuchung.
Wenn auch vorerst die Autarkiebestrebung im Merkantilismus der europäischen Nationalstaaten dem Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum Schranken auferlegte, die Öffnung des Hafens von Buenos Aires für den freien Welthandel war der erste wirklich große Schritt zur Einbeziehung d/supe las Americas (und nicht nur der Vereinigten Staaten) in die Produktivität der Marktwirtschaft und die unumkehrbare Globalisierung der Humanität. Argentinischer Weizen/sup stillte den Hunger der Industriearbeiter in Manchester und Textilien made in England schmückten die Mode der eleganten Porteñas von Buenos Aires... Ohne diese wechselseitige Anregung der Marktanteile wäre es nie zu einer industriellen Evolution gekommen. Adam SMITHS Forschungsarbeit über den «Reichtum der Nationen» – ebenfalls aus dem Jahre 1776 wie das Virreinat – hätte ebenso wenig geschrieben werden können.
Wir verdanken jedoch, durch lange Jahrhunderte hindurch, die Aufrechterhaltung der alten humanistischen Tradition in erster Linie THOMAS, dem Allgemeinen Lehrer (Doctor universalis) der Römischen Kirche, wenn auch ihre Machtkonzentration im Papsttum immer mehr von den antiken Vorbildern in die Dialogknappheit der Gegenreformation und in die Intoleranz des Kirchenkampfes abrutschte. Dank der Redlichkeit und Interpretationskunst Josef PIEPERS existiert jedoch das Viergespann heute noch in lesenswerter Form49.
42 Triftiger Buchtitel von Bodo Schäfer / Carola Ferstl. 42000. mvg-Verlag, Landsberg am Lech.
43 Erster Timotheusbrief 6, 10
44 Cicero: In iustitia virtutis splendor est maximus, ex qua boni viri nominantur.
45 Ulpian: Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum unicuique tribuendi. Frg. 10
46 Römerbrief 13, 7
47 Philipperbrief 3, 9
48 Vom griech. sotér(sotér) / Retter, Erhalter, Heilbringer, Beiname des Zeus und anderer Götter. Im Neuen Testament wird Jesus Christus der «Erlöser, Heiland» genannt.
49 Pieper, Josef. 2004. Über die Tugenden. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maß. Kösel, München.