Untersuchung über den Reichtum der Nationen

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von Endre Bárdossy

nun an soziale Gerechtigkeit. Die jüngste Geschichte fegte die Apperzeptionsverweigerung63 des utopischen Sozialstaates weg. Die platonischen Illusionen wurden aber bereits von POPPER in dem Werk «Die offene Gesellschaft und ihre Feinde» zureichend widerlegt.

Hans KELSEN – einer der Autoren der österreichischen Verfassung von 1920 und Anhänger einer relativistischen Wertlehre – versteht Gerechtigkeit als mögliche, aber nicht notwendige Eigenschaft der Gesellschaftsordnung: «Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal»64 und die Definitionsversuche der Gerechtigkeit sind «völlig leere Formeln»65. Dieses Resümee ist eigentlich ein ausgelaugtes Resultat für einen Rechtstheoretiker seines Kalibers. Nach dem Common sense und nach der Liberalität des natürlichen Maßhaltens wird nämlich das Gerechte viel höher eingeschätzt, gefordert und gebraucht als, dass es Irrationalität und leerer Formelhaftigkeit verdächtigt werden könnte.

Eher Kelsens Reduktion der Gerechtigkeit bis zur «nicht notwendigen Eigenschaft» der Gesellschaftsordnung scheint gedankenarm geworden zu sein, als das allgemeine Verlangen nach Gerechtigkeit, auch der einfachsten Leute, die die Ankunft dieser göttlichsten Tugend aller Tugenden beschleunigt wissen wollen, um deretwillen «der Himmel sich in Feuer auflösen und die Elemente in der Glut zerschmelzen werden. Einen neuen Himmel aber und eine neue Erde, worin Gerechtigkeit wohnt, erwarten wir...»66.

Diesem prophetischen Übergewicht gegenüber gibt es kein relativistisches Argument, das Bestand haben könnte: Wer den Anspruch der Gerechtigkeit als schlichte Gewohnheit in allem und allen gegenüber aufgibt, der gibt sich dem Feuer der Revolutionen und der Glut der Menschenrechtsforderungen preis. Der wird nebenbei auch alle politischen Wahlen garantiert verlieren. Das glorreiche Leitwort der «Sozialen Marktwirtschaft» war nicht umsonst Fahne und Maß im Wetterwinkel einer ganzen Epoche. Der Wiederaufbau unserer ältesten Traditionen nach einem Zuviel von Auflösung und Kriegselend war auch nicht möglich ohne die nordamerikanische Hilfe des Marshall Plans und den Schutz des NATO-Verbandes.

§ 6 Tapferkeit und Mut67

Griech. ανδρεια (andreía,Andreas), lat. fortitudo (cor /Herz, Mut), sp. fortaleza (valor, valentía, coraje), ital. ànimo, (valore, coraggio von cuore /Herz), frz/engl. courage.

Der griechische Begriff wird von andreio /andreíos, männlich abgeleitet. Im Kanon der Kardinaltugenden ist diese «Mannhaftigkeit» als kriegerische Kampflust eingeordnet. Archaisch handelte es sich also um eine Soldatentugend, später im Urchristentum um den Märtyrertod, heute reden wir häufiger von Zivilcourage, also von Mut, für die eigene Meinung auch Nachteile zu riskieren – eine Tugend, die nicht nur für Männer reserviert ist.

«Kultur als Fleisch gewordene Religion eines Volkes»68 braucht nicht nur die feinsten Artikel der Schöngeistigkeit (kosmhtikh/kosmetiká, die Kunst sich auszuschmücken), sondern auch

Geld und Waffen in der Hand, wenn die Stunde der Entscheidungen schlägt. John Fitzgerald KENNEDY vertrat eine entschlossene Politik dem Kommunismus gegenüber sowohl in Berlin als auch während der Krise in Cuba und Vietnam. Vor dem Brandenburger Tor (1961) rief er mutig aus: «Ich bin ein Berliner!» und baute eine Luftbrücke der Solidarität nach Tempelhof. Mit dieser Erinnerung in den Knochen und mit der Angst im Nacken kommen wir zur letzten der Vier, nämlich der heldenhaften Tapferkeit. Die Werke der Mäßigkeit, Klugheit und Gerechtigkeit müssen auch verteidigt werden. Es gibt Situationen, in denen der Name des unbedingten Pazifismus «Feigheit» heißt.

Bei PLATON ist der eigentliche Sitz des Mutes im Herzen aufzufinden, beruht aber vorgängig auf «Klugheit» und einer «richtigen Meinung» (orJh doxa/ortha doxa): Man darf sich nicht opfern und Kopf und Kragen riskieren, es sei denn klugerweise. Nach ARISTOTELES ist die Tapferkeit ein Mittelmaß zwischen den Extremen von fobo/phóbos (phobia, timor): Furcht, Angst, Schrecken und Jarro/thárros (audacia): Frechheit, Übermut, Verwegenheit.

Der evangelische Theologe Paul TILLICH findet im «Mut zum Sein»69 jene existentielle Geistesstärke, die das «Wagnis des Glaubens» überhaupt erst ermöglicht, aus der «rational-demokratischen Ethik» unserer besten humanistischen Traditionen abstammt und von der heroisch-aristokratischen Tapferkeit des Soldatentums unterschieden werden muss.

Alldem ist von der Warte unserer Betrachtungen nicht mehr viel zuzusetzen. Der ungebrochene Mut zum Sein, Mäßigkeit im Geben und Nehmen, Gerechtigkeit und Klugheit – diametral dem rohen «Willen zur Macht» (NIETZSCHE) entgegengesetzt – werden auch vom wirtschaftlichen Handeln gefordert. Das unerhörte Risiko jeder schöpferischen Investitionstä-tigkeit ist geradezu unvorstellbar ohne Vertrauen in die grundsätzliche Güte der Schöpfung.

§ 7 Zusammenfassung

B eim Defilieren der vier Haupttugenden, welche nach der vorliegenden Arbeitshypothese immer noch als die Türangel der Zivilisation anzusehen sind, war ich bestrebt weder einer Frömmigkeitsübung noch einer schulmeisterhaften Zucht das Wort zu reden. Ich aber stehe nicht an, sie als renovierbare Energie darzustellen, ohne welche unsere Lebensform wie in einer gewaltigen Umweltkatastrophe eingehen, einfach vertrocknen müsste.

Ich rede nicht aus der Luft, ich verbrachte nämlich 24 Jahre in einer «Randkultur»70 wie Argentinien, wo der Verrottungsprozess der Kardinaltugenden praktisch abgeschlossen ist. Nicht als ob die einzelnen Argentinier unklug, ungerecht, feige und vermessen wären: Als freundliche Individuen sind sie weder moralischer noch unmoralischer als der Kleine Mann von der Straße im österreichischen Durchschnitt. Was jedoch diesem riesigen Land mit akuten wirtschaftlichen Dauerkrisen seit der Machübernahme des Generals Juan Domingo PERÓN (1945) bis heute gänzlich fehlt – dafür kann ich Zeugnis ablegen – das sind wirksame Institutionen mit zureichender Kapazität um die schlechten Herrscher, korrupten Politiker und Paten der Gesellschaft demokratisch loszuwerden.

Argentinien wird mit episodenhaft kurzen Augenblicken und Ausnahmen inselhaft kleiner Flecken auf der Landkarte, seit über 50 Jahren vom Peronismus regiert, dessen monolithische Alleinherrschaft – um das politische Unglück zu vollenden – sich auch noch als «Justicialismo» versteht. Die früh an Leukämie verstorbene Frau des Diktators «Evita, Evilein», Eva Perón, als «Engel der sozialen Gerechtigkeit für die Hemdlosen», wird so kitschig verehrt, wie der ehrenwerte Kaiser Karl von Kurt Krenn. Mit diesem Patronat kann eine gewisse nicht allzu tugendhafte Führungsschicht recht gut leben.


63 Apperzeption als philosophischer Terminus bedeutet seit LEIBNIZ ein «Sich-selbst-Bewusstsein» im Unterschied zur bloßen Perzeption: das Wahrgenommene wird nur erkannt, wenn der Wahrnehmende erst einmal des Unterschiedes zu sich selbst bewusst wird und es sich im Herzen zu eigen macht. D. h. der dem Hexenwahn Verfallene sieht das Schreckliche seines Tuns beim Anzünden des Scheiterhaufens, verweigert jedoch das Bewusstmachen des Unrechts in der Monade seines innersten Gewissens. Jede Ideologie ist eigentlich eine mehr oder minder schwerwiegende Verweigerung dem Anderen sein Anderssein zuzuerkennen und in aktiver «Anti-Intoleranz» (Gabriel Marcel) zu gewähren.
64 Was ist Gerechtigkeit? 1953, 40,2
65 Reine Rechtslehre. 19602 360f
66 Zweiter Petrusbrief 3,12-13
67 Hist.Wb.Phil. Bd.10, 894
68 Thomas Stearns Eliot. Premio Nobel der Literatur 1948. Dtsch. Zum Begriff der Kultur.
69 The courage to be. 1952. Dtsch. 1953
70 Girtler, Roland. 21996. Randkulturen. Theorie des Unanständigen. Böhlau, Wien

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