Das Leiden zwischen Schein und Sein
Guido LIST – das Adelsprädikat „von“ hat er sich um das Jahr 1907 selbst verliehen –wollte Künstler und Gelehrter zugleich sein, worunter er einen romantischen Historiker verstand, der aus dem Brauchtum der Menschen, aus ihren Legenden und Sagen und aus der Landschaft heraus die Vergangenheit schauen konnte. Seine Naturverbundenheit führte ihn zur Bergsteigerei und zum Rudersport, wobei er es auf beiden Gebieten zur Meisterschaft brachte. Von seinen Ausflügen brachte er immer Skizzen mit und seine gewonnenen Eindrücke schrieb er nieder. Er suchte gerne die Einsamkeit, selbst bei Gruppenausflügen zog er sich oft von seinen Begleitern zurück, wodurch er sich nach und nach mit der Aura des Geheimnisvollen und Rätselhaften umgab. Wie LIST selbst bestätigte, war seine Liebe zur Natur ein Protest gegen das entfremdende, von der Jagd nach Erwerb geprägte Leben der modernen Zeit. „Willst du aber ernstlich ihre Zauberschleier lüften, so mußt du solche Orte fliehen, wo Leben pulsiert; suche einsame Stätten auf, an denen unbeeinflußt von der Hand des Menschen die Natur alleine waltet.“25 Seine wirtschaftlichen Lebensumstände erlaubten es Guido LIST, in bescheidenem Rahmen das von ihm gewünschte leben eines Privatgelehrten zu führen.
Eine vorübergehende Erblindung als Folge einer Augenoperation26 im Jahre 1902 bewirkte eine zunehmend religiöse Färbung in LISTS Altertums- und Germanenforschung. In jener Zeit hatte er verschiedene „Gesichte“, in denen sich ihm, wie er meinte, die Geheimnisse der germanischen Dichtung und Runenzeichen enthüllten. Nach der Wiedererlangung seines Augenlichts begann Guido LIST in einer Art Schreibzwang seine Erkenntnisse zu Papier zu bringen. Er schrieb „seine Bücher ähnlich einem psychologischen Medium, in einem Zug, ohne Benutzung von Nachschlagewerken. Die Bücher schlug er erst später nach, um zu vergleichen, ob seine Findungen nicht schon von anderen aufgezeichnet worden wären.“27 Die Verehrer LISTS führten seine Erkenntnisse auf „innere Wahrnehmungen“ oder „Erberinnerungen“ zurück. Diese Verehrer und Verehrerinnen LISTS gehörten den Spitzen der österreichischen und deutschen Gesellschaft an. Um die Geldmittel für die Drucklegung seiner Werke aufzubringen, schlossen sich weit über hundert Personen zur Guido-von-List-Gesellschaft zusammen. Dank ihrer Tätigkeit erschien ab dem Jahr 1908 in rascher Folge eine Reihe von Büchern, in denen er seine Welt- und Geschichtsauffassung darlegte.
Den Anfang der Geschichte verlegte LIST auf den nordischen Urkontinent Arktogäa. „Jene Arktogäa war nun in Zeitfernen, welche mit dem Zeitmaß der Jahresringe nicht mehr gemessen werden können, als sie noch nicht vergletschert war, die Wiege der arischen Urrasse.“28 Durch die Vergletscherung dieses Nordkontinents im Zuge der Eiszeit und durch die durch das Abschmelzen der Gletschermassen in der darauffolgenden Warmzeit hervorgerufenen Flutkatastrophen wurden die Arier über alle Welt verstreut, wo sie überall eine Wirksamkeit als Kulturbringer und Staatengründer entfalteten. Anders als die anderen Rassen entwickelten sich nämlich die Arier, „eingeschlossen zwischen Eis- und Wasserwüsten [...] im steten harten Kampfe mit einer kargen Natur und bildeten in solcher Schule ihre geistigen und körperlichen Kräfte in ganz anderer Weise aus als jene anderen Rassen, welche einer verschwenderischen Natur ihr Dasein und fast kampfloses Leben dankten.“29 Bei ihren Wanderungen vermischten sich die Arier mit diesen anderen Menschenrassen, so dass sie selbst von der Höhe ihrer rassischen Vollkommenheit herabsanken, jene anderen Rassen hingegen aus ihrem kulturellen Tiefstand emporhoben und erst kulturfähig machten.
Wie der Lauf der Geschichte nach Ansicht LISTS zeigt, ist es bei „allen asiatischen, wie afrikanischen Kulturstaaten des Altertums eine sich stets widerholende Erscheinung, dass dieselben immer und nur von Ariern begründet wurden, und nur so lange sich erhalten konnten, so lange deren Einfluß gesichert war, daß sie verfielen, sobald arischer Zuzug aufhörte und das Ariertum in den fremden Rassen unterging [...]“30 Wo immer aber die Arier als kulturstiftende Rasse in Erscheinung getreten sind, haben sie ein Bildzeichen bewahrt, selbst wenn sie durch die Vermischung mit anderen Rassen ihre arische Sprache und die Erinnerung an ihre arische Herkunft vergessen hatten: das Hakenkreuz, den altarischen „Fyrfos“.31
Guido LIST deutete das Hakenkreuz32 als Feuerzeichen und bezeichnete es bevorzugt mit dem Namen Fyrfos, den er mit „Feuerzeugung“ verdeutschte. Je nachdem ob die Haken des Hakenkreuzes im Uhrzeigersinn oder gegen den Uhrzeigersinn von den Kreuzbalken abstanden, konnte es als Sinnbild für das von der Finsternis und der Materie zu Licht und Geist aufsteigende Streben oder als gegenläufiges, von Licht und Geist zu Finsternis und Materie hinabsteigenden gedeutet werden.
Seine Zeit erschien Guido LIST als eine Zeit des Niederganges, der seine Ursache in einer tiefgehenden Schwächung der kulturbildenden Kraft der Arier infolge ihrer weitgehenden Vermischung mit den weniger hoch stehenden Rassen hatte. Die Angehörigen der nordischen, arischen Rasse hätten nun nach LISTS Auffassung die Aufgabe, durch Entmischung und strenge Abgrenzung von der Mischlingsrassen ihre Rassenreinheit wieder zu gewinnen. Er war sich allerdings dessen bewusst, dass die Zahl derer, die bereits über das richtige Rassebewusstsein verfügten, noch gering sei, und dass auch allfällige Bestrebungen, die Minderrassen aus ihren Machtpositionen zu verdrängen, sehr bald scheitern würden. Er gründete daher im Jahr 1907 einen mystischen Bund der „Armanenschaft“, dessen Mitglieder er persönlich auswählte. Die Armanen waren nach Meinung LISTS bei den Germanen „die geistige Blüte des Volkes [...], nämlich die Priesterschaft, welche Lehrer, Richter und Gelehrte in einer Person waren“33 gewesen. Die Bezeichnung „Armanen“
25 Guido List: Deutsch-Mythologische Landschaftsbilder. Bd 1., Wien: Guido-von-List-Gesellschaft 1913. S. 125.
26 Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus (The Occult Roots of National Socialism, 1992). Graz, Stuttgart: Stocker 1997. S. 42.
27 Wilfried Daim: Der Mann, der Hitler die Ideen gab; Jörg Lanz von Liebenfels. Wien: Ueberreuter 41994. S. 95.
28 Guido List: Die Namen der Völkerstämme Germaniens und deren Deutung. Wien: Guido-von-List-Gesellschaft 1909. S. 3. In der Anmerkung nennt LIST „mindestens 1.600.000 Jahre“.
29 Guido List: Die Namen, a. a. O. S. 4.
30 Guido List: Die Namen, a. a. O. S. 6.
31 Guido List: Die Namen, a. a. O. S. 5.
32 Der erste, der sich mit dem Symbolgehalt des Hakenkreuzes beschäftigte, war Alfred SCHULER, der auch den Namen Swastika für dieses Zeichen einführte. Ob Guido LIST von Alfred SCHULER wusste, kann nicht geklärt werden. Der Name Swastika war LIST jedenfalls bekannt, wenn er ihn auch nicht benutzte. Über Alfred SCHULER siehe Eduard Gugenberger: Hitlers Visionäre; Die okkulten Wegbereiter des Dritten Reiches. Wien: Ueberreuter 2001. S. 19 – 31.
33 Guido List: Die Namen, a. a. O. S. 11.