Das Leiden zwischen Schein und Sein
deutete er als die „Sonnen- oder Rechtsmänner“34 Vier Jahre später gründete er den Hohen Armanen Orden mit ähnlicher Zielsetzung. Beide Orden sollten im Volk das richtige Rassebewusstsein wecken, damit es für die entscheidende Auseinandersetzung gerüstet wäre.
LIST war sich darüber im klaren, dass die Wiederherstellung der Weltherrschaft der Arier nicht ohne schwere Kämpfe vonstatten gehen würde. Er sagte einen kommenden „ario-germanischen Weltkrieg“ voraus, um „die Tschandalenbrut wieder in ihre Fesseln der Kultur zu schlagen, die sie freventlich zerbrochen haben, damit Ordnung geschaffen werde und der Herrenmensch wieder zu seinem ihm abgelisteten und abgegaunerten Herrenrecht gelange, damit aber auch der Herdenmensch wieder in geordnete Verhältnisse gebracht werde, in welchen auch sein Glück ihm erblühen wird. [...] Ja, noch einmal sollen die Funken aus den ario-germanisch-deutschen-österreichischen Schlachtschiffen stieben“, malte er literarisch das Gemälde der bevorstehenden Stahlgewitter35, „noch einmal sollen Donars Schlachtenblitze aus den Kolossalkanonen unserer Dreadnoughts zischelnd züngeln, noch einmal sollen unsere Völkerheere [...] nach Süden und Westen [...] wettern“36, um den Feind zu schlagen.
Als erster Schritt zur Verwirklichung der ario-germanischen Weltherrschaft sollte ein pangermanisches Deutschland, bestehend aus Deutschen Engländern, Holländern, Dänen, Schweden und Norwegern geschaffen werden.37
Die geschichtliche Bedeutung Guido Lists
Diese Anschauungen LISTS zogen während der Kriegsjahre von 1914 bis 1918 viele Menschen an, die den Nöten und Mühsalen des Krieges einen Sinn unterlegen wollten. In zahlreichen Briefen berichteten ihm Frontsoldaten, dass sie aus seinen Büchern Mut und Kraft geschöpft hätten.38
Guido LIST starb zwar im Jahr 1919, aber die von ihm gegründeten Gruppen bestanden weiter und vernetzten sich mit Vereinigungen mit ähnlichen Anschauungen und Zielsetzungen. Die Guido List-Gesellschaft bestand unter der Leitung seiner Witwe Anna LIST bis in die späten zwanziger Jahre weiter.39 Führende Mitglieder der Guido List-Gesellschaft wurden späterhin Mitglieder des Germanenordens oder der Thule-Gesellschaft und passten die Weltanschauung LISTS einer Mystik an, die das Germanentum über die liberalen und sozialistischen, in ihren Augen jedenfalls jüdischen Bewegungen emporheben sollte. Schriftstellerisch tätige Männer wie Rudolf John GORSLEBEN, Werner von BÜLOW, Friedrich Bernhard MARBY oder Frodi Ingolfson WEHRMANN, um nur einige zu nennen, verwoben Lists Anschauungen mit eigenen Spekulationen über die verborgene Weisheit der Runen, der Edda und anderer nordischer Altertümer und nahmen auf diese Weise Einfluss auf die Ideologie Heinrich HIMMLERS und seines Kreises.
Joseph Scheicher – Ein katholischer Vordenker der „Endlösung der Judenfrage“
In den achtziger und neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts war der dem Christentum als Wesenselement innewohnende Antisemitismus zum ideologischen Bindemittel der Hausbesitzer, Handwerker, Gewerbetreibenden und Bauern geworden, die sich hilflos der „Raffgier des jüdischen Kapitalismus“ ausgeliefert sahen, geworden, das sie trotz aller ihrer anderen, zum Teil auseinander strebenden wirtschaftlichen und politischen Interessen zusammenhielt.
Der christliche Antisemitismus
Angeheizt und aufgestachelt wurde der Hass gegen die Juden immer wieder durch katholische Priester. Neben den Vorwürfen des Gottesmordes, weil es doch die Juden gewesen wären, die Christus Jesus ans Kreuz gebracht hätten, und der Hostienschändung, die allerdings von der Annahme ausgehen, dass auch die Juden an den magischen Zauber der Verwandlung des Fleisches Christi in eine Hostie geglaubt hätten, wurde vor allem immer wieder der des Ritualmordes gegen sie erhoben. In dieser Hinsicht tat sich besonders der Pfarrer Josef DECKERT hervor, „der in Währing in der 1893 geweihten neugotischen Weinhauser Pfarrkirche Hetzpredigten hielt, die sich trotz der Entlegenheit der Kirche größter Beliebtheit und regen Zulaufs erfreuten“40. Der Inhalt seiner Predigten war, dass die Juden für die christliche Bevölkerung unschädlich gemacht werden müssten, indem sie wieder unter das Fremdenrecht gestellt werden sollten. Würde man dies nicht tun, würden sie das Blut der christlichen Völker aussaugen. DECKERT war auch durchaus der Ansicht, dass der rassische Antisemitismus mit der kirchlichen Lehre vereinbar sei.41 Josef DECKERT war kein Einzelfall. Neben ihm wirkten in diesem Sinne noch der Kaplan Karl DITTRICH in dem in großer Zahl von Juden bewohnten Wiener Bezirk Leopoldstadt, im Bezirk Landstraße der Kaplan Josef SCHNABEL, der auch Abgeordneter zum Niederösterreichischen Landtag war, in Margareten der Spiritualdirektor der Klosterschwestern vom guten Herrn, Franz STAURACZ, um nur einige zu nennen. Im Jahre 1937 sollte dann der österreichische Bischof Alois HUDAL eine umfangreiche Studie über »Die Grundlagen des Nationalsozialismus«42
34 Guido List: Die Namen, a. a. O. S. 14.
35 Ernst JÜNGER betitelte seine im Jahre 1920 erschienenen Kriegserinnerungen mit diesem Wort: »In Stahlgewittern; Tagebuch eines Stoßtruppführers«.
36 Guido List: Die Armanenschaft der Ario-Germanen. Bd 2. Wien: Guido-von-List-Gesellschaft 1911. S. 107.
37 Guido List: Der Übergang vom Wuotanismus zum Christentum. Zürich: Schröter 1908. S. 106.
38 Johannes Balzli: Guido von List; Der Wiedererwecker uralter arischer Weisheit. Leipzig, Wien: Deuticke 1917.
39 Max Reinisch (Hg.): Fritz von Herzmanovsky-Orlando; Ausgewählte Briefwechsel 1885 bis 1954. Salzburg, Wien: Residenz 1989. S. 99.
40 Johannes Hawlik: Der Bürgerkaiser, a. a. O. S. 44. Allerdings weist HAWLIK – vielleicht beeinflusst durch die Namensähnlichkeit mit dem bekannten Fußballspieler und Trainer der österreichischen Nationalmannschaft Karl DECKER – DECKERT den Vornamen Karl zu.
41 Friedrich Heer: Der Glaube des Adolf Hitler, a. a. O. S. 71.
42 Alois Hudal: Die Grundlagen des Nationalsozialismus; Eine ideengeschichtliche Untersuchung. Leipzig, Wien: Günther 1937.