Das Leiden zwischen Schein und Sein
veröffentlichen, in der er sich unter anderem auch um eine Zusammenführung zwischen rassischem und religiösem Antisemitismus bemühte.43
Die judenfeindliche Hetze war aber nicht bloß der „Pöbelsport“ ungebildeter Vorstadtpfarrer. Auch von theologischen Lehrstühlen herab wurde sie betrieben. Im Jahr 1871 veröffentlichte August ROHLING45 das Buch »Der Talmudjude«, das er aus dem Stoff des im Jahre 1700 erschienen Buches »Entdecktes Judentum« von Johann EISENMENGER zusammengetragen hatte und in dem er unter Berufung auf angebliche Stellen im Talmud begründete, dass die Juden zu Verbrechen jeder Art gegen die Christen berechtigt und aufgefordert wären. Das Buch hatte einen sensationellen Erfolg und erschien im Jahr 1877 bereits in sechster Auflage. Es trug auch nicht unwesentlich dazu bei, dass August ROHLING im Jahr 1876 zum Professor für Bibelstudium und Exegese des alten Testaments an der Universität Prag berufen wurde. »Der Talmudjude« begründete auch den Ruf ROHLINGS als allgemein anerkannte Autorität „in talmudicis“. Seine Gutachten wurden wiederholt zur Entscheidung vor Gerichtsverfahren, in denen gegen judenfeindliche Verleumdungen Klage geführt wurde, herangezogen. Der Tenor aller dieser Gutachten war stets, „daß der Jude von Religion wegen befugt ist, alle Nichtjuden auf jede Weise auszubeuten, sie physisch und moralisch zu vernichten, Leben, Ehre und Eigentum derselben zu verderben, offen und mit Gewalt, heimlich und meuchlings; das darf, ja soll, wenn er kann, der Jude von Religion wegen, damit er sein Volk zur irdischen Weltherrschaft bringe“46. Erst im Jahr 1882 erwuchs ROHLING ein entschiedener Gegner. Der Rabbiner Josef BLOCH bezeichnete ROHLING öffentlich als „unwissenden Plagiator“, um ihn damit zur Klage zu zwingen. Im Laufe des sich bis zum Jahr 1885 hinziehenden Verfahrens sah sich ROHLING unter dem Druck der Fachgutachten ausländischer Gelehrter gezwungen, seine Anschuldigungen gegen die Juden zurück zu ziehen. Damit war auch das Ende seiner akademischen Laufbahn besiegelt. Nichtsdestoweniger sind seine Schriften im katholischen wie auch außerkatholischen Antisemitismus wirksam geblieben.
Mit Monsignore Joseph SCHEICHER betrat ein „deutscher Priester, auf den die ganze deutsche Nation stolz sein kann“ und der als „Vorkämpfer im Kampf des christlichen Volkes wider seine Gegner“47 gerühmt wurde – dieses Lob wurde ihm vor allem für seinen Kampf gegen die nationalen Bestrebungen der Tschechen und vor allem gegen die Juden gespendet –, die politische Bühne. In den Jahren 1897 bis 1909 gehörte er der Niederösterreichischen Landesregierung an und wurde außerdem dreimal für die Christlichsoziale Partei LUEGERS in den Reichsrat gewählt. SCHEICHER war davon überzeugt, dass die Juden eine „Ausrottungspolitik gegen ihre Feinde“ betrieben, dass die „Judensoci“ die Massen ebenso verführen wie die liberale „Judenpresse“.48 SCHEICHER ließ in seinen Äußerungen aber auch erkennen, dass sein Antisemitismus neben christlich-religiösen auch rassistische Anteile besaß, wenn er im Hinblick auf Juden feststellte, „der penetrante Geruch von Unzucht und Syphilis“, der von ihnen ausgehe, weise „auf den Orientalen“49 hin.
Nach Meinung Joseph SCHEICHERS lag die Ursache für den von ihm so wahrgenommenen Aufstieg des Judentums in der fortschreitenden Entchristlichung der Gesellschaft. Dadurch wäre es den Juden erst möglich geworden, in den Spielarten des Kapitalismus, des Liberalismus und auch des Sozialismus den „kleinen Mann“ auszubeuten. Die Hoffnungen SCHEICHERS auf eine Wiederverchristlichung der Gesellschaft in naher Zukunft dürften aber ziemlich gering gewesen sein, so dass ihm nur der Stoßseufzer bleibt: „Falls nicht bald eine Völkerkatastrophe über uns hereinbricht, werden sie in absehbarer Zeit die herrschende Kaste und wir verarmte Deutsche und Slawen [...] die Paria sein.“50 Mit dieser angst- und zugleich doch auch lustvollen Sehnsucht nach dem Weltuntergang stand Joseph SCHEICHER nicht allein da. Sie war Ausdruck der Vorstellung, dass aus einem allgemeinen Weltenbrand eines großen Krieges eine neue, schönere Zukunft heraufsteigen würde. Für den Fall, dass dieser Kelch an Österreich-Ungarn vorübergehen sollte, entwickelte Monsignore SCHEICHER ein Programm zu einem weitgehenden Staatsumbau, dem er den Titel »Aus dem Jahre 1920«51 gab.
»Aus dem Jahre 1920«
Joseph SCHEICHER entwickelt in dieser kleinen Schrift Vorstellungen über einen nach seinem Dafürhalten wünschenswerten Umbau der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, die er in eine literarische Rahmenhandlung einbettet:
Am 1. Mai 1920 kommt der lange Zeit verschollen gewesene Polarforscher ANDREE52 nach Wien zurück und trifft dort auf völlig veränderte politische Verhältnisse. Der Erzähler, der unschwer als der Verfasser der Schrift zu erkennen ist, schildert, wie es zu diesen Veränderungen gekommen ist. Der Reichsrat der alten Monarchie war durch die beständige Obstruktion von Abgeordneten bis zur Handlungsunfähigkeit gelähmt worden. Schließlich kam es zur Machtübernahme durch Karl LUEGER, der mit großer Mehrheit zum Präsidenten des Reichsrates gewählt worden war und die
43 Dass der christliche Antisemitismus, der sich nahtlos mit dem rassischen der Nationalsozialisten verbinden ließ, von kirchlichen Stellen bis zur Besetzung Österreichs durch das Deutsche Reich gepflegt und gefördert wurde zeigt die Studie von Nina Scholz, Heiko Heinisch: „... alles werden sich die Christen nicht gefallen lassen.“ Wiener Pfarrer und die Juden in der Zwischenkriegszeit. Wien: Czernin 2001.
44 „Lueger selbst soll gegenüber Baron Spitzmüller im April 1909 zum Thema Antisemitismus folgendes geäußert haben: ‚Ja wissen S’, der Antisemitismus is a sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinauf zu kommen; wenn man aber einmal oben ist, kann man ihn nimmer brauchen, denn dös is a Pöbelsport.’“ (Johannes Hawlik: Der Bürgerkaiser, a. a. O. S. 196.)
45 Die Ausführungen über ROHLING folgen Erika Weinzierl: Stereotype christlicher Judenfeindschaft. In: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.): Die Macht der Bilder; Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien: Picus Verlag 1995. S. 134 – 136.
46 Isak A. Hellwing: Der konfessionelle Antisemitismus in Österreich im 19. Jahrhundert. Wien: Herder 1972. S. 78.
47 Friedrich Heer: Der Glaube des Adolf Hitler, a. a. O. S. 103.
48 Friedrich Heer: Der Glaube des Adolf Hitler, a. a. O. S. 105.
49 Friedrich Heer: Der Glaube des Adolf Hitler, a. a. O. S. 105.
50 Joseph Scheicher: Erlebnisse und Erinnerungen. Bd 6. Wien: Fromme 1907. S. 110.
51 Joseph Scheicher: Aus dem Jahre 1920; Ein Traum von Landtags- und Reichsraths-Abgeordneten Dr. Joseph Scheicher. St. Pölten: Gregora 1900.
52 Der Schwede Salomon August ANDREE hatte im Jahre 1897 mit zwei Begleitern versucht, in einem Fesselballon den Nordpol zu erreichen. Die Expedition scheiterte allerdings bereits nach wenigen Tagen. Die Aufzeichnungen der Expeditionsteilnehmer und ihre Leichen wurde erst im Jahre 1930 auf einer Insel der Spitzbergen-Gruppe gefunden. (http://www.bujack.de/berichte/historie/andree.htm am 29.6.2001)