Religiosität und Politischer Extremismus

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von Dr. Anton Szanya

Die Enttäuschungen der Moderne

Alle diese Hoffnungen und Erwartungen sind nicht wahr geworden und haben sich nicht erfüllt. Indem nämlich die Denker der Moderne ihre Mythen zu rationalisieren versuchten, übersahen sie die Dialektik der geschichtlichen Entwicklung, sodass sie das Projekt der Moderne unvermeidlich in die Krise führen mussten. Drei Beispiele sollen diese Dialektik veranschaulichen:

  • Die Beseitigung von Dogma und Vorurteil führte wohl zu einer Befreiung des Geistes, machte aber andererseits auch die grundsätzliche Ungewissheit alles Wissens und Hoffens offenkundig.
  • Die Gelegenheit zur Selbstbestimmung des Einzelmenschen gibt es nur um den Preis der Auflösung aller Sicherheit, wie sie in sozialen und familiären Bindungen bestanden hat.
  • Das Recht auf Mitbestimmung in allen öffentlichen Angelegenheiten schrumpft auf das Maß dessen, was den anderen einleuchtet, was gemessen an den eigenen Erwartungen immer nur enttäuschend gering sein kann.

 

So betrachtet lässt sich die Moderne, um ein Wort Thomas MEYERS zu gebrauchen, als „geschlossener Kreislauf offener Systeme“7 beschreiben, die einander lückenlos bedingen:

  • Offene Diskurse über Geltungsansprüche der Erkenntnis, über die Regeln menschlichen Verhaltens sind das allein legitime Mittel wissenschaftlicher Methodik.
  • Der grundsätzliche Pluralismus der Wissenschaftsbegriffe und Theorien ist die unumgängliche Methode der Wahrheitssuche.
  • Daraus folgt die Unerfindlichkeit einer allgemeingültigen Wahrheit, die auch gegen Widerstrebende als Rechtfertigung politischen Handelns herangezogen werden könnte.
  • Demnach ergibt sich eine grundsätzliche Offenheit aller wissenschaftlichen Diskurse und politischer Systeme.

 

Für die Menschen bedeutet dies konkret, dass die Moderne jedem, der sich seiner gewiss ist und die gebotenen Gelegenheiten zu nützen versteht, Spielraum und Entwicklungsmöglichkeiten bietet. Sie kann aber demjenigen, der nach Halt, Geborgenheit, Orientierung und Tröstung sucht, am Ende nichts anderes bieten als die Rückverweisung auf ihn selbst. Hier liegt der dialektische Zwiespalt der Moderne: Sie setzt die Ich-Stärke, Orientierungssicherheit und Selbstgewissheit voraus, deren breitenwirksame und zuverlässige Ausbildung sie durch ihren Relativismus zwar absichtslos aber doch fortwährend untergräbt.

DER MYTHOS

In dieser Situation bietet sich der Mythos hilfreich an, indem er Gewissheit und Sicherheit verspricht. Damit kommt der Mythos Bedürfnissen entgegen, die von der Moderne nicht befriedigt werden. Es sind dies vor allem drei Bedürfnisse, die im Mythos Erfüllung finden:

  • Das Bedürfnis, die Welt als eine sinnvolle Welt begreifen zu können, indem sie auf eine letzte, sinnstiftende Ursache zurückgeführt wird.
  • Das Bedürfnis, die Welt als eine unveränderliche Welt zu erleben und ihr daher auch mit Vertrauen entgegenkommen zu können.
  • Das Bedürfnis, eigene Werte als unvergänglich zu erleben, indem sie über die eigene Person hinaus auf die Gemeinschaft, die ein viel größerer Seinszusammenhang ist als die Einzelperson, übertragen werden.8

Die Wurzeln des Mythos

Woher rühren nun diese Bedürfnisse? Wo haben sie ihren Ursprung? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es eines Abstechers in das Gebiet der Tiefenpsychologie.

Die drei vorhin genannten Bedürfnisse, die der Mythos zufriedenstellt, sind allesamt Bedürfnisse der Vermeidung von Angst, der Angst vor einer möglichen Sinnlosigkeit der Welt, der Angst vor einem plötzlichen Einbruch oder Zusammenbruch der Welt und der Angst vor der Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit. Mit einem Wort: Der Mythos beruhigt die Angst vor der Gleichgültigkeit der Welt, wie es Leszek KOLAKOWSKI beschreibt: „In der Tat, die Erfahrung der Gleichgültigkeit der Welt stellt uns vor die Alternative, entweder es gelingt uns, die Fremdheit der Dinge durch ihre mythische Organisation zu überwinden, oder wir werden diese Erfahrung vor uns verheimlichen in einem komplizierten System von Einrichtungen, die das Leben in der Faktizität des Alltäglichen zerreiben. Der Mythos nämlich, der religiöse oder philosophische, hat die Kraft, die Gleichgültigkeit der Welt aufzuheben [...]“9

Woher kommt aber diese Angst, ja Urangst, mit der die Menschen der Welt gegenüberstehen? Sie geht auf zwei die Persönlichkeitsentwicklung nachhaltigst prägende Erfahrungen zurück, die jeder Mensch bereits im frühesten Kindesalter macht, die er aber infolge seiner noch bestehenden Unreife nicht angemessen verarbeiten kann.

 


 

7 Thomas Meyer: Fundamentalismus; Aufstand gegen die Moderne. Reinbek: Rowohlt 1989. S. 34/35.
8 Diese genannten drei Punkte sind eine gestraffte Wiedergabe der diesbezüglichen Ausführungen in: Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 14-16.
9 Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984.S. 104.

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