Religiosität und Politischer Extremismus
Die narzisstische Kränkung
Eine der frühesten Erfahrungen des kleinen Kindes ist die Entdeckung, dass es und die Welt etwas voneinander Verschiedenes sind und dass diese Welt nicht seinen Bestrebungen unterworfen werden kann. Schon im Säuglingsalter erlebt das Kind, dass es die Befriedigung von Grundbedürfnissen nicht herbeiführen kann, mag der Wunsch danach auch noch so groß sein. So mag der Säugling, wenn er hungrig ist, noch so laut schreien – wenn seine Mutter oder eine andere Person, die ihre Stelle einnimmt, nicht in der Nähe ist, wird er damit nichts erreichen können. Andere Möglichkeiten, die Bedürfnisbefriedigung herbeizuführen, hat er in seinem Alter und Entwicklungszustand allerdings noch nicht. Andere derartige Ohnmachtserlebnisse sind beispielsweise Bauchschmerzen oder Kälte, wenn der Säugling sich entblößt hat.
Diese und ähnliche Erlebnisse zeigen dem kleinen Menschen seine Grenzen, reißen ihn heraus aus seinen Einheitsempfindungen mit der Welt, wie er sie noch aus dem Mutterleib kennt, und lassen ihm die Welt unermesslich fremd und angsteinflößend erscheinen. Damit erfährt der Narzissmus10 des kleinen Kindes, der ihm das Gefühl, der Mittelpunkt der Welt zu sein, vermittelt, eine empfindliche Kränkung, die in ihm Wut und Angst auslösen. Sein noch geringer Reifezustand hindert das kleine Kind allerdings daran, sich dieser Gefühle und ihrer Anlässe bewusst zu werden. So bleiben sie unbewusst und äußern sich lediglich in einer schwer fasslichen Grundströmung des Seelenlebens, in den sogenannten ozeanischen Gefühlen11 der Unzulänglichkeit, der Verlorenheit und des Versagens.
Der ödipale Konflikt
Länger vielleicht als die Illusion des Einsseins mit der Welt kann das kleine Kind die des Einsseins mit der Mutter aufrechterhalten. Aber auch in dieser Beziehung kommt der Augenblick, in dem das Kind merkt, dass es nicht eins ist mit der Mutter, ja schlimmer noch, dass es nicht einmal das einzige Liebesobjekt der Mutter ist.
Schließlich ist da noch der Vater oder ein anderer Mann, dem die Mutter auch ihre Liebe zuwendet, und schließlich sind da möglicherweise auch noch Geschwister, mit denen es die Liebe der Mutter teilen muss.
Wieder erleidet der Narzissmus des kleinen Kindes eine schwere Kränkung. So wie das Kind seine Mutter grenzenlos bewundert hat, so wollte es auch von seiner Mutter grenzenlos bewundert werden; so wie das Kind seine Mutter vorbehaltlos idealisiert hat, so wollte es auch von seiner Mutter vorbehaltlos idealisiert werden; so wie das Kind seine Mutter bedingungslos angenommen hat, so wollte es auch von seiner Mutter bedingungslos angenommen werden. Und nun das!
Verschärft wird die Situation des Kindes noch dadurch, dass es dann, wenn es seiner narzisstischen Wut gegenüber dem Vater und den Geschwistern Ausdruck gibt, von der Mutter dafür getadelt, vielleicht sogar bestraft wird. Da das Kind in diesem Alter seine Eltern auch noch für allmächtig und allwissend hält, weckt die narzisstische Wut in ihm auch sogleich Gefühle der Angst vor Strafe und Liebesentzug, und zwar um so größere Angst, je heftiger seine Hassgefühle gegen die Mitbewerber um die Gunst der Mutter sind. Der seelische Zwiespalt wird noch zusätzlich vertieft, weil seine ablehnenden Gefühle den anderen gegenüber auch gleichzeitig in Widerstreit stehen zu den Gefühlen der Liebe, der Bewunderung und der Sehnsucht, die es doch auch gegenüber der Mutter, dem Vater und den Geschwistern gegenüber hegt.
Das Kind löst schließlich dieses unentwirrbare Knäuel an Gefühlen, für das Sigmund FREUD die Bezeichnung „Ödipuskomplex“12 geprägt hat, indem es sie zum größten Teil verdrängt13 oder sich mit den Objekten derselben, Mutter oder Vater, mehr oder weniger nachhaltig identifiziert .14
10 Sigmund FREUD leitete den Begriff Narzissmus von dem Jüngling Narkissos aus der griechischen Mythologie ab, der sich dermaßen in sein Spiegelbild verliebt hat, dass er die Welt rings um ihn herum nicht mehr wahrnahm.
11 Sigmund FREUD berichtet, dass dieser Ausdruck von seinem Freund Romain ROLLAND stamme. „Ich hatte ihm meine kleine Schrift zugeschickt, welche die Religion als Illusion behandelt, und er [..]. bedauerte, dass ich die eigentliche Quelle der Religion nicht gewürdigt hätte. Diese sei ein besonderes Gefühl, das ihn selbst nie zu verlassen pflegt, das er von vielen anderen bestätigt gefunden und bei Millionen Menschen voraussetzen dürfe. Ein Gefühl, das er die Empfindung der ‚Ewigkeit’ nennen möchte, ein Gefühl wie von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem, gleichsam ‚Ozeanischem’.“ [Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud: Studienausgabe Band IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997. S 197.]
12 Der sagenhafte König Oidipous, latinisiert Ödipus, von Theben tötete seinen Vater Laios und heiratete seine Mutter Iokaste. Von Kritikern (beispielsweise Jean Bollack: Der Menschensohn; Freuds Ödipusmythos, Psyche 7/1993. S. 647 ff.) dieser Bezeichnung wird nicht unberechtigt geltend gemacht, dass die Taten des Ödipus nicht dem nach ihm benannten Komplex haben entspringen können, weil er als ausgesetztes Kind seine Eltern gar nicht gekannt hat.
13 Mit Verdrängung bezeichnet die Psychoanalyse einen Vorgang, bei dem das Ich, also die Instanz der Psyche, die für die Steuerung der Triebe und für die Anpassung des eigenen Verhaltens an die Bedingungen der gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt zuständig ist, ihm dieser Anpassung gefährlich erscheinende Triebwünsche und Bewusstseinsinhalte von sich abspaltet und dem Unbewussten, dem Es, zuschlägt und deren Rückkehr ins Bewusstsein verhindert. Demgegenüber ist das Es jedoch unausgesetzt bestrebt, diese wieder ins Bewusstsein zurückzubringen, um dadurch deren Erfüllung herbeizuführen. Das Ich entlastet sich von diesem steten Druck, indem des den verdrängten Triebwünschen in wunscherfüllenden Phantasien, die in Gestalt von Tagträumen, dichterischen oder auch mythologischen Vorstellungen auftreten können, teilweise und ungefährliche Befriedigungen ermöglicht.
14 Das Wesen der Identifizierung besteht darin, dass das Ich sich einer gehassten und gefürchteten wie auch einer geliebten und verehrten Person so weit anähnelt, dass sie letztlich nicht mehr als ein außerhalb des Ichs stehendes Objekt empfunden, sondern Teil der eigenen Persönlichkeit wird. Durch die Identifizierung erfährt das Ich eine Erweiterung sowohl im Guten wie auch im Schlechten. Ihren äußeren Ausdruck findet eine Identifizierung, wenn eine Person Verhaltensweisen, Bewegungen, Sprachgewohnheiten und anderes mehr der Person übernimmt, mit der sie sich identifiziert.