Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

die marxistisch ausgerichteten Denker die historische Dialektik der Aufklärung nicht wahrgenommen haben. Drei Beispiele sollen diese historische Dialektik veranschaulichen:

  • Die Beseitigung von Dogma und Vorurteil führte wohl zu einer Befreiung des Denkens und Forschens, machte aber andererseits auch die grundsätzliche Ungewissheit alles Wissens offenkundig.
  • Die Gelegenheit zur Selbstbestimmung des Einzelmenschen in der liberalen Gesellschaft gibt es nur um den Preis der Auflösung aller Sicherheit, wie sie in den gesellschaftlichen und familiären Bindungen der untergegangenen ständischen Gesellschaft bestanden hat.
  • Das Recht auf Mitbestimmung in allen öffentlichen Angelegenheiten schrumpft in seinen Anwendungsmöglichkeiten auf das Maß dessen, was den anderen einleuchtet, was, gemessen an der Erwartungshaltung derer, die mitbestimmen wollen, immer nur enttäuschend gering ist.

Für die Menschen bedeutet diese Dialektik der Aufklärung, dass sie zwar jedem, der selbstbewusst genug ist und die vorgefundenen Gelegenheiten zu nutzen versteht, Spielraum und Entfaltungsmöglichkeiten bietet, aber demjenigen, der nach Halt, Geborgenheit, Orientierung und Tröstung sucht, am Ende nichts anderes bieten kann als die Rückverweisung auf ihn selbst. Mit anderen Worten: Die Aufklärung setzt die Ich-Stärke, Orientierungssicherheit und Selbstgewissheit voraus, deren breitenwirksame Ausbildung sie durch ihren Relativismus zwar unbeabsichtigt, aber doch fortwährend untergräbt.

Vor diesem Erfahrungshintergrund der Enttäuschungen und allenfalls auch Bedrohungen, die von den durch die Aufklärung ausgelösten Entwicklungen ausgehend, begründete Sigmund FREUD (1856-1939) das Fortbestehen religiöser Erscheinungsformen mit den Worten: „So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts. Es ist deutlich erkennbar, dass dieser Besitz den Menschen nach zwei Richtungen beschützt, gegen die Gefahren der Natur und des Schicksals und gegen die Schädigungen aus der menschlichen Gesellschaft selbst. Im Zusammenhang lautet es: das Leben in dieser Welt dient einem höheren Zweck, der zwar nicht leicht zu erraten ist, aber gewiß eine Vervollkommnung des menschlichen Wesens bedeutet.“6

Der Mythos I

In dieser Situation bietet sich der Mythos hilfreich an, indem er Gewissheit und Sicherheit verspricht. Damit kommt der Mythos seelischen Bedürfnissen entgegen, die von der Vernunft und dem Verstand nicht erfüllt werden. Es sind dies:7

  • Das Bedürfnis, die Welt als eine sinnvolle Welt begreifen zu können, indem sie auf eine letzte, sinnstiftende Ursache zurückgeführt wird.
  • Das Bedürfnis, die Welt als eine unveränderliche Welt zu erleben und ihr daher auch mit Vertrauen entgegenkommen zu können.
  • Das Bedürfnis, eigene Wertvorstellungen als unvergänglich zu erleben, indem sie über die eigene Person hinaus auf die Gemeinschaft, die ein viel größerer und dauerhafterer Seinszusammenhang ist als die Einzelperson, übertragen werden.

 

Bei genauerer Betrachtung sind die drei genannten Bedürfnisse nur drei Ausformungen des Versuches des Menschen, einer dreifachen Angst zu entfliehen, nämlich:

  • der Angst vor einer möglichen Sinnlosigkeit der Welt,
  • der Angst vor einem plötzlichen Zusammenbruch der Welt und
  • der Angst vor der Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit.

Diese drei Ängste ballen sich zu einer allgemeinen Angst vor der Gleichgültigkeit der Welt gegenüber dem Menschen zusammen. Die Mehrheit der Menschen flieht vor dieser Angst entweder in die Oberflächlichkeit des Alltags oder eben in den Mythos, wie Leszek KOLAKOWSKI (geb. 1927) meint: „In der Tat, die Erfahrung der Gleichgültigkeit der Welt stellt uns vor die Alternative, entweder es gelingt uns, die Fremdheit der Dinge durch ihre mythische Organisation zu überwinden, oder wir werden diese Erfahrung vor uns verheimlichen in einem komplizierten System von Einrichtungen, die das Leben in der Faktizität des Alltäglichen zerreiben.“8

Woher rührt nun diese Angst, ja Urangst, mit der die Menschen der Welt gegenüberstehen? Sie geht auf eine seelische Grundbefindlichkeit zurück, die sich bereits in den späten vorgeburtlichen Entwicklungsabschnitten des Menschen ausbildet und die ihn zeitlebens begleitet.

Der Narzissmus und seine Kränkungen

Das ursprüngliche Lebensgefühl des Menschen ist der Narzissmus9, ein Gefühl der harmonischen Einheit mit der Welt und der Allmacht10. Es war der französische


 

6 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 152.
7 Die folgenden drei Punkte sind eine gestraffte Wiedergabe der diesbezüglichen Ausführungen in: Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 14-16.
8 Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 104. Hervorhebungen im Original.
9 Sigmund FREUD leitete diese Begriffsbezeichnung von dem Jüngling Narkissos aus der griechischen Mythologie ab. Narkissos verliebte sich dermaßen in sein eigenes Spiegelbild, dass er die Welt rings um sich und insbesondere die Liebesseufzer der ihn begehrenden Nymphe Echo nicht mehr wahrnahm.

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