Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins
mehr als in Zeiten staatlicher Sparmaßnahmen jemals erwartet werden kann, liegt auf der Hand. So muss eben jeder Mensch und müssen fortschrittliche Gruppen wie die Freidenker tun, was in ihren Möglichkeiten liegt. Im Sinne einer weiteren Entfaltung demokratischer Einstellungen ist alles daranzusetzen, dass die „Demokratie sich zu einer Gesellschaftsform entwickelt, wo der einzelne Mensch mit seinem Wachstum und seinem Glück Ziel und Zweck der Kultur ist, wo das Leben keine Rechtfertigung durch Erfolg oder irgendetwas anderes braucht und wo der einzelne Mensch nicht von einer Macht außerhalb seiner selbst unterworfen oder manipuliert wird – sei es nun der Staat oder der Wirtschaftsapparat. Schließlich geht es um eine Gesellschaft, in der Gewissen und Ideale nicht die Internalisierung äußerer Forderungen sind, sondern wo darin der einzelne Mensch selbst und seine Ziele zum Ausdruck kommen [...]“104
Das alles klingt zugegebenermaßen sehr nach Wunschvorstellung, aber mehr kann nicht geboten werden, wie schon der sich selbst als Aufklärer und Freidenker verstanden habende Sigmund FREUD wusste: „Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch.“105 FREUD warnte auch vor revolutionärer Ungeduld und verwies darauf, dass der Forschritt der Wissenschaft nicht geradlinig, sondern oft auf Umwegen, nicht selten sogar auf Irrwegen erfolge, aber dennoch zu dauerhaften Erkenntniszuwächsen führe. „Nein“, betonte106 er daher, „unsere Wissenschaft ist keine Illusion. eine Illusion aber wäre es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.“
Wien. am 24.4.2003
Dieser Beitrag ist die erweiterte Fassung des auf dem Kongress der Weltunion der Freidenker in Prag am 15.3.2003 gehaltenen Vortrages.
Der Verfasser:
Prof. Dr. Anton Szanya, geb. 1945, stellvertretender Bundesvorsitzender des Freidenkerbundes Österreichs, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Volkshochschularchiv, Abt. Dokumentation
104 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from Freedom, 1941). Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein 1987, S. 231-232. Hervorhebung im Original.
105 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 186.
106 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion (1927). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IX: Fragen der Gesellschaft; Ursprünge der Religion. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 189.