Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

wird zum Lichtbringer, zum Aufklärer, dessen Aufstand gegen Gott in den berechtigten Zweifeln an dessen Güte und Gerechtigkeit begründet ist,59 bis sich zuletzt sogar die Rollen vertauschen.60 Es ist zuletzt der Teufel, der den paranoiden Dualismus von gut und böse aufhebt und zu einer dialektischen Einheit zusammenfügt, wenn er dem Abgesandten Gottes entgegenschleudert: „Willst du nicht so gut sein, einmal darüber nachzudenken, was dein Gutes täte, wenn das Böse nicht wäre, und wie alle Erde aussähe, wenn die Schatten von ihr verschwänden? Kommen doch die Schatten von den Dingen und den Menschen. Da ist der Schatten meines Degens. Aber es gibt auch die Schatten der Bäume und der Lebewesen. Du willst doch nicht etwa den Erdball kahl scheren, alle Bäume und alles Lebende von ihm entfernen und deine Phantasie an nacktem Licht ergötzen? Du bist dumm.“61 Lediglich die Religionen halten am überkommenden Bild des Teufels fest,62 und bestätigen damit, was Theodor REIK (1888-1969) bereits im Jahr 1922 festgestellt hat: „Wer den Teufel wirklich abschafft, kann an Gott nicht mehr glauben, denn die beiden Gestalten sind nur die einander ergänzenden Teile eines früher einheitlichen Ganzen.“ 63

DIE IDEOLOGIE

Die Dogmenkritik der Aufklärung hat zwar, wie bereits gesagt wurde, die Religion nachhaltig beschädigt, zumindest in den Augen der Menschen, auf die die weltanschaulichen Folgen des aufklärerischen Denkens nicht ohne Einfluss geblieben sind. Der Mythos blieb davon jedoch weitgehend unberührt. Lediglich seine masochistisch geprägte Spielart, die aus dem Bewusstsein des Verschuldens erwächst, hat an Bedeutung verloren. Der aufgeklärte, selbstbewusste Mensch konnte sich nicht dazu verstehen, sich als von vornherein schuldig zu sehen. Ganz im Gegenteil, die Aufklärung beinhaltet den Auftrag an den Menschen, mit Hilfe der Vernunft und des Verstandes die Gebrechen der Welt und der Gesellschaft zu beheben. Es gewann also die narzisstisch-sadistische Spielart des Mythos an Gewicht, die dem Bewusstsein des Gläubigers entspringt, das heißt der Mythos, der in seinen Bildern die Verheißungen der Zukunft darstellte. Eine der Ursachen für diese Bedeutungsverschiebung liegt in dem, was Max WEBER (1864-1920) als „Entzauberung der Welt“ im Gefolge des Erkenntniszuwachses der Wissenschaften bezeichnet hat. „Die zunehmende Intellektualiseirung und Rationalisierung bedeutet [...] nicht, eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht“, erläutert WEBER den zum geflügelten Wort gewordenen Begriff, „sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran, daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gibt, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Dies aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“64 Diese zog als Ergebnis nach sich, dass von den seit ARISTOTELES (384-322) geltenden Weltbild des Stufenbaus der Natur die zwei oberen Stufen, die für Gott und die Geistwesen standen, abgetragen wurden und der bisher in der Mitte über den Tieren, Pflanzen und der unbelebten Natur angesiedelte Mensch dadurch auf der obersten Stufe zu stehen kam. Diese neue Welt- und Menschenbild regte in den gebildeten Kreisen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts eine bunte Vielfalt von philosophischen und wissenschaftlichen Entwürfen an. „Niemand wußte genau, was im Werden war“, beschrieb Robert MUSIL (1880-1942) in seinem Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« diese Aufbruchstimmung, „niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. Darum sagte jeder davon, was ihm paßte. Aber überall standen Menschen auf, um gegen das Alte zu kämpfen. Allenthalben war plötzlich der rechte Mann zur Stelle; und was so wichtig ist, Männer mit praktischer Unternehmungslust fanden sich mit den geistig Unternehmungslustigen zusammen. Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft.“65

Aus diesem Amalgam an Anschauungen und Vorstellungen entwickelten sich die Mythen der Moderne, die „Großen Erzählungen“ wie sie Jean-François LYOTARD (1924-1998) genannt hat, die nach der Entzauberung der Welt deren Sinn und den

 


 

59 Einzelheiten dazu in: Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur; Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart: Kröner 31970. S. 657-661. (Stichwort „Satan“)
60 In dem Roman »Der Meister und Margarita« von Michail BULGAKOW (1891-1940) kommt der Teufel in Gestalt des Professors Voland in das Moskau der dreißiger Jahre, wo er die Stolzen beugt, die Bösen bestraft und die Sanftmütigen belohnt.
61 Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita (Мастер и Маргарита, 1929/39). München: Deutscher Taschenbuch Verlag 21980. S. 353/354.
62 Katechismus der katholischen Kirche. München, Wien: Oldenbourg u.a. 1993. Art. 391-395.
63 Zitiert bei: Patrizia Giampieri-Deutsch: Die Psychoanalyse des Teufels. In: Anton Szanya (Hg.): Religion auf der Couch; Von den unbewussten Wurzeln himmlischer Mächte. Wien: Picus Verlag 1993, S. 91.
64 Max Weber: Vom inneren Beruf zur Wissenschaft (1919). In: Johannes Winckelmann (Hg.): Max Weber; Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik. Stuttgart: Kröner 1956, S. 317. Hervorhebungen im Original.
65 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991, S. 55.
66 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen; Ein Bericht (La condition postmoderne, 1979). Graz, Wien: Böhlau 1986.

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