Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins
herabfallenden Tropfen entstand ein Riese namens Ymir. Wovon ernährt sich Ymir? Außer ihm gab es offenbar noch eine Kuh namens Audhumla. Und wovon ernährte sie sich? Nun, es gab außerdem salzige Steine. In diesem Sinne geht es mit dem Mythos weiter. Ich möchte niemandes religiöse Empfindungen verletzen, auch nicht die der Wikinger, aber ich glaube, man darf dennoch sagen, dass hier keine sonderlich befriedigende Darstellung der Anfänge des Universums vorliegt.“49
Es war aber weniger der Mythos, es war vor allem die Religion, die durch das Dogma nachhaltig beschädigt wurde. Wie seine Aussagen sich als unsinnig erwiesen haben, wurde auch der Gegenstand, über den es etwas aussagte, als unsinnig erachtet. Der in den heiligen Schriften mit so großartigen und furchterregenden Zügen ausgestattete Gott wurde nun als mitleiderregender, siecher, sterbender Greis gesehen. Heinrich HEINE (1797-1856) zeichnete diese Entwicklung mit feinem Spott nach: „Unsere Brust ist voll von entsetzlichem Mitleid – es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet. Wir haben ihn so gut gekannt, von seiner Wiege an, in Ägypten, als er unter göttlichen Kälbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wurde. Wir haben ihn gesehen, wie er diesen Gespielen seiner Kindheit und den Obelisken und den Sphinxen seines heimatlichen Niltales ade sagte und in Palästina, bei einem armen Hirtenvölkchen, ein kleiner Gottkönig wurde und in einem eigenen Tempelpalast wohnte. Wir sahen ihn späterhin, wie er mit der assyrisch-babylonischen Zivilisation in Berührung kam und seine allzu menschlichen Leidenschaften ablegte, nicht mehr lauter Zorn und Rache spie, wenigstens nicht mehr wegen jeder Lumperei gleich donnerte. Wir sahen ihn auswandern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurteile entsagte und die himmlische Gleichheit aller Völker proklamierte und mit solchen schönen Phrasen gegen den alten Jupiter Opposition bildete und so lange intrigierte, bis er zur Herrschaft gelangte und vom Kapitole herab die Stadt und die Welt, urbem et orbem, regierte. Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philanthrop – es konnte ihm alles nichts helfen. Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder. Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte.“50 Hierin liegt die Bedeutung der geflügelt gewordenen Worte „Gott ist tot“51 von Friedrich NIETZSCHE (1844-1900). Gott ist tot – bei Lichte besehen waren es die Priester, die ihn getötet haben.
Gott und Teufel
Gott ist also tot. Dies dürfte aber weithin unbemerkt geblieben sein, denn noch immer sprechen die Priester magische Worte, noch immer vollziehen sie rituelle Handlungen, noch immer beanspruchen sie die Macht über die Menschen. Mögen diese auch nicht mehr so willfährig sein wie in früheren Jahrhunderten und den Priestern aufmüpfiger gegenüberstehen – dies ist vielleicht der einzige Erfolg, den die aufklärerische Religionskritik an ihre Fahnen heften kann –, so besteht in vielen Menschen doch immer noch der Glaube, dass es doch „irgend etwas geben“ müsse, wie immer dieses Etwas auch beschaffen sein mag.52 Daraus erklärt sich wohl auch der Umstand, dass das 19. Jahrhundert nicht nur das Jahrhundert der bedeutendsten wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern auch das der Religionsgründungen war, wie die nachstehende Tabelle deutlich macht.
Tabelle 3:
Wissenschaft und Religiosität im 19. und 20. Jahrhundert (in Auswahl)
Naturwissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen |
Erfindungen |
Jahr |
Land |
Religiöse und esoterische Bewegungen und Gruppen |
Wellentheorie des Lichts Augustin Jean Fresnel |
Frankreich |
1815 |
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Atomgewicht Jöns Jakob von Berzelius |
Schweden |
1818 |
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Magnetismus Hans Christian Ørsted |
Dänemark |
1819 |
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Schiffschraube Josef Ressel |
Österreich |
1827 |
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1830 |
USA |
Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) Joseph Smith |
Elektrisches Induktions-Gesetz Michael Faraday |
Großbritannien |
1831 |
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Schreibtelegraf Samuel Finley Breese Morse |
USA |
1837 |
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1840 |
Österreich |
Lorber-Gesellschaft Jakob Lorber |
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1844 |
Persien |
Bahai Mirza Ali Muhammed |
Entdeckung des Neandertalers Johann Karl Fuhlrott |
Deutschland |
1856 |
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Evolutionstheorie Charles Robert Darwin |
Großbritannien |
1859 |
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Vererbungsregeln Johann Gregor Mendel |
Österreich |
1863 |
Großbritannien |
Neuapostolische Kirche |
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1865 |
Großbritannien |
Societas Rosicrucianum in Anglia |
Dynamomaschine Ernst Werner von Siemens |
Deutschland |
1867 |
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Periodisches System der Elemente Dmitrij I. Medelejew |
Russland |
1869 |
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Deszendenztheorie Charles Robert Darwin |
Großbritannien |
1871 |
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1874 |
USA |
Zeugen Jehovas (Ernste Bibelforscher) Charles Taze Russell |
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1875 |
USA |
Theosophische Gesellschaft Helena P. Blavatsky |
Benzinmotor Nikolaus August Otto |
Deutschland |
1876 |
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Telefon Alexander Graham Bell |
USA |
1876 |
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1884 |
Deutschland |
Gemeinschaft in Christo Jesu (Loenzianer) Emil Hermann Lorenz |
Elektromagnetische Wellen Heinrich Rudolf Hertz |
Deutschland |
1888 |
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1893 |
USA |
Koreshan Vereinigung Cyrus Teed |
Röntgenstrahlen Wilhelm Konrad Röntgen |
Deutschland |
1895 |
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Drahtlose Telegrafie Guglielmo Marconi |
Italien |
1897 |
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Radioaktivität Marie Skłodowska Curie |
Frankreich |
1898 |
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Quanten-Theorie Max Planck |
Deutschland |
1900 |
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Luftschiff Ferdinand Graf Zeppelin |
Deutschland |
1900 |
Österreich |
Ordo Novi Templi Jörg Lanz-Liebenfels |
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1901 |
Deutschland |
Ordo Templi Orientis Carl Kellner |
Motorflug Wilbur und Orville Wright |
USA |
1903 |
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Relativitätstheorie Albert Einstein |
Schweiz |
1905 |
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1906 |
Großbritannien |
Astron Argon Aleister Crowley |
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1909 |
USA |
The Rosicrucian Fellowship Max Heindel |
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1911 |
Österreich |
Hoher Armanen Orden Guido List |
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1912 |
USA |
Peace Mission George Baker (Father Divine) |
Atommodell Niels Bohr |
Dänemark |
1913 |
Schweiz |
Anthroposophische Gesellschaft Rudolf Steiner |
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1915 |
Österreich |
Gralsbewegung Oskar Ernst Bernhardt (Abd-ru-shin) |
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1916 |
USA |
Antique Mystic Order Rosae Crucis (AMORC) H. Spencer Lewis |
49 Steven Weinberg: Die ersten drei Minuten; Der Ursprung des Universums (The First Three Minutes; A Modern View of the Origin of the Universe, 1977). München, Zürich: Piper 1977. S. 17.
50 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in 12 Bänden. Bd 5: Schriften 1831 - 1837. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. S. 590/591.
51 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Kap. 108 (1886). In: Karl Schlechta (Hg.): Friedrich Nietzsche – Werke in drei Bänden. Bd 2. München: Hanser 1994, S. 115.
52 Ein Beispiel hierfür bietet der international bekannte deutsche Kernphysiker Harald FRITZSCH (geb. 1943), der seinem Buch über die Entstehung und das mögliche Ende des Weltalls am Ende ein Kapitel mit Überlegungen über die Vereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaft beziehungsweise über eine allfällige Natur Gottes anhängte, obwohl er zuvor während seiner ganzen Darlegungen ohne die Annahme eines göttlichen Eingreifens in das Geschehen im Weltall ausgekommen war. (Harald Fritzsch: Vom Urknall zum Zerfall; Die Welt zwischen Anfang und Ende. München, Zürich: Piper 21983, S. 325-338.)