Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

herabfallenden Tropfen entstand ein Riese namens Ymir. Wovon ernährt sich Ymir? Außer ihm gab es offenbar noch eine Kuh namens Audhumla. Und wovon ernährte sie sich? Nun, es gab außerdem salzige Steine. In diesem Sinne geht es mit dem Mythos weiter. Ich möchte niemandes religiöse Empfindungen verletzen, auch nicht die der Wikinger, aber ich glaube, man darf dennoch sagen, dass hier keine sonderlich befriedigende Darstellung der Anfänge des Universums vorliegt.“49

Es war aber weniger der Mythos, es war vor allem die Religion, die durch das Dogma nachhaltig beschädigt wurde. Wie seine Aussagen sich als unsinnig erwiesen haben, wurde auch der Gegenstand, über den es etwas aussagte, als unsinnig erachtet. Der in den heiligen Schriften mit so großartigen und furchterregenden Zügen ausgestattete Gott wurde nun als mitleiderregender, siecher, sterbender Greis gesehen. Heinrich HEINE (1797-1856) zeichnete diese Entwicklung mit feinem Spott nach: „Unsere Brust ist voll von entsetzlichem Mitleid – es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet. Wir haben ihn so gut gekannt, von seiner Wiege an, in Ägypten, als er unter göttlichen Kälbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wurde. Wir haben ihn gesehen, wie er diesen Gespielen seiner Kindheit und den Obelisken und den Sphinxen seines heimatlichen Niltales ade sagte und in Palästina, bei einem armen Hirtenvölkchen, ein kleiner Gottkönig wurde und in einem eigenen Tempelpalast wohnte. Wir sahen ihn späterhin, wie er mit der assyrisch-babylonischen Zivilisation in Berührung kam und seine allzu menschlichen Leidenschaften ablegte, nicht mehr lauter Zorn und Rache spie, wenigstens nicht mehr wegen jeder Lumperei gleich donnerte. Wir sahen ihn auswandern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurteile entsagte und die himmlische Gleichheit aller Völker proklamierte und mit solchen schönen Phrasen gegen den alten Jupiter Opposition bildete und so lange intrigierte, bis er zur Herrschaft gelangte und vom Kapitole herab die Stadt und die Welt, urbem et orbem, regierte. Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philanthrop – es konnte ihm alles nichts helfen. Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder. Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte.“50 Hierin liegt die Bedeutung der geflügelt gewordenen Worte „Gott ist tot“51 von Friedrich NIETZSCHE (1844-1900). Gott ist tot – bei Lichte besehen waren es die Priester, die ihn getötet haben.

Gott und Teufel

Gott ist also tot. Dies dürfte aber weithin unbemerkt geblieben sein, denn noch immer sprechen die Priester magische Worte, noch immer vollziehen sie rituelle Handlungen, noch immer beanspruchen sie die Macht über die Menschen. Mögen diese auch nicht mehr so willfährig sein wie in früheren Jahrhunderten und den Priestern aufmüpfiger gegenüberstehen – dies ist vielleicht der einzige Erfolg, den die aufklärerische Religionskritik an ihre Fahnen heften kann –, so besteht in vielen Menschen doch immer noch der Glaube, dass es doch „irgend etwas geben“ müsse, wie immer dieses Etwas auch beschaffen sein mag.52 Daraus erklärt sich wohl auch der Umstand, dass das 19. Jahrhundert nicht nur das Jahrhundert der bedeutendsten wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern auch das der Religionsgründungen war, wie die nachstehende Tabelle deutlich macht.

Tabelle 3:
Wissenschaft und Religiosität im 19. und 20. Jahrhundert (in Auswahl)

Naturwissenschaftliche Entdeckungen und technische Erfindungen

Erfindungen

Jahr

Land

Religiöse und esoterische Bewegungen und Gruppen

Wellentheorie des Lichts

Augustin Jean Fresnel

Frankreich

1815

 

 

Atomgewicht

Jöns Jakob von Berzelius

Schweden

1818

 

 

Magnetismus

Hans Christian Ørsted

Dänemark

1819

 

 

Schiffschraube

Josef Ressel

Österreich

1827

 

 

 

 

1830

USA

Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen)

Joseph Smith

Elektrisches Induktions-Gesetz

Michael Faraday

Großbritannien

1831

 

 

Schreibtelegraf

Samuel Finley Breese Morse

USA

1837

 

 

 

 

1840

Österreich

Lorber-Gesellschaft

Jakob Lorber

 

 

1844

Persien

Bahai

Mirza Ali Muhammed

Entdeckung des Neandertalers

Johann Karl Fuhlrott

Deutschland

1856

 

 

Evolutionstheorie

Charles Robert Darwin

Großbritannien

1859

 

 

Vererbungsregeln

Johann Gregor Mendel

Österreich

1863

Großbritannien

Neuapostolische Kirche

 

 

1865

Großbritannien

Societas Rosicrucianum in Anglia

Dynamomaschine

Ernst Werner von Siemens

Deutschland

1867

 

 

Periodisches System der Elemente

Dmitrij I. Medelejew

Russland

1869

 

 

Deszendenztheorie

Charles Robert Darwin

Großbritannien

1871

 

 

 

 

1874

USA

Zeugen Jehovas (Ernste Bibelforscher)

Charles Taze Russell

 

 

1875

USA

Theosophische Gesellschaft

Helena P. Blavatsky

Benzinmotor

Nikolaus August Otto

Deutschland

1876

 

 

Telefon

Alexander Graham Bell

USA

1876

 

 

 

 

1884

Deutschland

Gemeinschaft in Christo Jesu (Loenzianer)

Emil Hermann Lorenz

Elektromagnetische Wellen

Heinrich Rudolf Hertz

Deutschland

1888

 

 

 

 

1893

USA

Koreshan Vereinigung

Cyrus Teed

Röntgenstrahlen

Wilhelm Konrad Röntgen

Deutschland

1895

 

 

Drahtlose Telegrafie

Guglielmo Marconi

Italien

1897

 

 

Radioaktivität

Marie Skłodowska Curie

Frankreich

1898

 

 

Quanten-Theorie

Max Planck

Deutschland

1900

 

 

Luftschiff

Ferdinand Graf Zeppelin

Deutschland

1900

Österreich

Ordo Novi Templi

Jörg Lanz-Liebenfels

 

 

1901

Deutschland

Ordo Templi Orientis

Carl Kellner

Motorflug

Wilbur und Orville Wright

USA

1903

 

 

Relativitätstheorie

Albert Einstein

Schweiz

1905

 

 

 

 

1906

Großbritannien

Astron Argon

Aleister Crowley

 

 

1909

USA

The Rosicrucian Fellowship

Max Heindel

 

 

1911

Österreich

Hoher Armanen Orden

Guido List

 

 

1912

USA

Peace Mission

George Baker (Father Divine)

Atommodell

Niels Bohr

Dänemark

1913

Schweiz

Anthroposophische Gesellschaft

Rudolf Steiner

 

 

1915

Österreich

Gralsbewegung

Oskar Ernst Bernhardt (Abd-ru-shin)

 

 

1916

USA

Antique Mystic Order Rosae Crucis (AMORC)

H. Spencer Lewis

 


 

49 Steven Weinberg: Die ersten drei Minuten; Der Ursprung des Universums (The First Three Minutes; A Modern View of the Origin of the Universe, 1977). München, Zürich: Piper 1977. S. 17.
50 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in 12 Bänden. Bd 5: Schriften 1831 - 1837. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. S. 590/591.
51 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Kap. 108 (1886). In: Karl Schlechta (Hg.): Friedrich Nietzsche – Werke in drei Bänden. Bd 2. München: Hanser 1994, S. 115.
52 Ein Beispiel hierfür bietet der international bekannte deutsche Kernphysiker Harald FRITZSCH (geb. 1943), der seinem Buch über die Entstehung und das mögliche Ende des Weltalls am Ende ein Kapitel mit Überlegungen über die Vereinbarkeit von Religion und Naturwissenschaft beziehungsweise über eine allfällige Natur Gottes anhängte, obwohl er zuvor während seiner ganzen Darlegungen ohne die Annahme eines göttlichen Eingreifens in das Geschehen im Weltall ausgekommen war. (Harald Fritzsch: Vom Urknall zum Zerfall; Die Welt zwischen Anfang und Ende. München, Zürich: Piper 21983, S. 325-338.)

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