Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins
Das Wesen Gottes
Der Gott der monotheistischen Religionen ist eindeutig als übersteigerte Vorstellung eines Königs zu erkennen. Seine königliche Macht wird zur Allmacht überhöht, er ist umgeben von einem hierarchisch gestaffelten Hofstaat und Heer von Engeln, Cherubim und Seraphim, an deren Spitze gleich den Ministern eines irdischen Königs die Erzengel stehen. Doch nicht nur die Herrlichkeit der Könige ist in Gott übersteigert, auch ihre Schattenseiten. Der Zorn Gottes ist schrecklich und kann bis zur Auslöschung des Menschengeschlechts gehen. Die Menschen sind gleich den Untertanen eines Königs seinen Launen ausgeliefert, und jede Wohltat, die er ihnen erweist, erfahren sie in dem Bewusstsein ihrer Unverdientheit. Wie vor einem irdischen König erniedrigen sich die Menschen vor ihrem Gott, indem sie beim Gebet in die Knie sinken oder sich zu Boden werfen und sich ihrer Unwürdigkeit im Vergleich zu ihm bezichtigen. Und sie schmeicheln ihm auch, indem sie unausgesetzt seine Größe, seine Gnade, seine Güte und seine Liebe preisen. Das ist das Bild Gottes, wie es die Propheten und Priester entworfen und immer weiter ausgestaltet haben. Einerseits soll die Großartigkeit des so dargestellten Gottes Eindruck auf die Laien machen und andererseits auch das Ansehen der Priester heben: Was für großartige, erhabene Menschen müssen sie sein, wenn sie mit diesem gewaltigen Himmelskönig in Verbindung treten, in seinem Namen Handlungen setzen können, an die selbst Er sich gebunden fühlt.
Neben dieser offiziellen Seite hat Gott auch eine mehr private, wenn er gleichsam als überhöhter Vater die Anlehnungsbedürfnisse der Menschen erfüllt. Es sind vor allem drei Funktionen, die ihm diesbezüglich von den Menschen zugewiesen werden:53
Gott ist der unendliche Sinngarant: Es ist bereits mehrfach darauf hingewiesen worden, dass es ein Urbedürfnis des Menschen ist, die Welt geordnet und sinnvoll zu begreifen. Wie stark dieses Bedürfnis ist, zeigt sich daran, dass der Mensch sogar versucht, selbst in das verwirrende Bild des bestirnten Nachthimmels eine Ordnung zu bringen, indem er es zu Sternbildern gruppiert, damit aus dem Chaos ein Kosmos54 werde. Ebenso bedarf der Mensch der Gewissheit, dass sein Leben einen Sinn habe. Er ist immer auf der Suche nach einem Sinn, und er erträgt nichts weniger als die allgemeine Sinnlosigkeit, die ihm so oft aus dem Leben der einzelnen wie der Völker entgegenstarrt. Da aber das All anscheinend völlig sinnlos ist, bringt der Mensch unablässig Vorstellungen hervor, die einen Sinn im Weltgeschehen mutmaßen lassen. Die letzte und sicherste Gewährleistung dafür, dass hinter allem, was vorkommen mag, und sei es auch noch so schrecklich, ein Sinn vorhanden ist, übersteige er auch das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes, ist Gott
Gott ist das absolute Du: Der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Er kann als vereinzeltes Individuum nicht auf Dauer leben ohne Schaden an seiner seelischen Gesundheit zu nehmen. Er bedarf eines Gegenübers, mit dem er sich austauschen kann. In der modernen Massengesellschaft mit ihren Merkmalen der technokratischen Anonymität, der Asozialität und Unsolidarität entbehren immer mehr Menschen eines lebendigen Gegenübers. Sie schaffen sich dann ein irreales, ein fantasiertes Gegenüber, an das sie sich in ihrer Einsamkeit unter all den anderen Menschen wenden können, ein Gegenüber, das immer und überall für sie da ist.55Mit diesem Gegenüber führen sie dann ihre inneren Monologe, die sie jedoch als Dialoge mit Gott missverstehen.
Gott ist das Ich-Ideal: Die vielfachen Einschränkungen, die die Gesellschaft der freien Entfaltung der Persönlichkeit entgegenstellt, führen dazu, dass die Menschen die Entfaltung ihres Ichs in wunscherfüllenden Phantasien außerhalb ihres engen Lebenskreises verlegen. Sie suchen sich ein „Ich-Ideal“. Dieses kann eine herausragende Persönlichkeit der Geschichte sein, der sie sich verbunden fühlen und die Vorbildcharakter für sie hat. Dieses kann ein Zeitgenosse oder eine Zeitgenossin sein, deren Überlegenheit man sich unterwirft, um an ihr teilzuhaben. Allen narzisstischen Größenvorstellungen und Allmachtsfantasien kommen aber am vollkommensten die Vorstellungen eines allmächtigen Gottes und eines Naheverhältnisses zu ihm entgegen. Ich-Ideal und Gottesvorstellung verschmelzen dann zu einem fast ununterscheidbaren Ganzen, das zum kostbarsten Seeleninhalt und zur Zielvorstellung alles Seins und Werdens wird.
Es ist vor allem dieses private Gottesbild, das sich jeder Religionskritik am beharrlichsten entzieht. Während der Himmelskönig mit seinen Thronen und Heerscharen, mit seinen Cherubim und Seraphim auf die meisten Menschen keinen Eindruck mehr macht, bleibt der Himmelvater für sie nach wie vor unentbehrlich. Darin liegt aber auch eine gewisse Gefahr, denn welcher Gott es auch immer ist, dem die Menschen zu zuwenden – sei der allmächtige und ewige Gott der Priester oder sei es derjenige der privaten Wunschvorstellungen –, er enttäuscht diese Grundbedürfnisse nach einem Gegenüber nie, sodass sich der Mensch lieber diesem fantasierten Gegenüber anvertraut als einem realen, das keine Gewähr gegen Enttäuschungen bietet.
53 Die diesbezüglichen Ausführungen folgen: Josef Rattner: Tiefenpsychologie und Religion. Ismaning: Hueber 1987. S. 194-196.
54 Das griechische Wort „kosmoV“ bedeutet so viel wie Ordnung.
55 Ausdruck dessen ist das Kirchenlied: „Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Wem künd’ ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz? Zu Dir, zu Dir, o Vater, komm’ ich in Freud’ und Leiden. Du sendest ja die Freuden, Du heilest jeden Schmerz.“ (Cantate – orate; Lieder- und Gebetbuch für katholische Mittelschüler. Linz: Veritas Verlag 1952. S. 51/52.)