Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins
der politischen Ordnung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Robert HAVEMANN (1910-1982) zu sprechen, „nicht nur individuelle Eigenschaften einzelner menschlicher Wesen, sondern sie sind zugleich eine gesellschaftliche Erscheinung. Was die Menschen denken, entspringt der Gesellschaft, in der sich leben. Ein Teil davon mag Einsicht sein, Bewußtsein, das meiste aber ist Ideologie. Was die Gesellschaft an Vorstellungen über sich in den Köpfen der Menschen produziert, Vorstellungen, die keinen wissenschaftlichen Charakter haben, die aber zu dieser Gesellschaft gehören als eine der Bedingungen ihrer Existenz, das ist Ideologie.“73
Wie eine Ideologie entsteht
Der vorhin nur kurz angedeutete Vorgang, wie aus wissenschaftlichen Theorien unter dem Einfluss narzisstischer Größenfantasien eine Ideologie wird, soll nachfolgend am Beispiel der Forschungen und Lehren von Karl MARX noch einmal beispielhaft verdeutlicht werden. Wie schon anfangs festgehalten, stand MARX in der geistigen Tradition der Aufklärung, ebenso wie sein Kampfgefährte Friedrich ENGELS (1820-1895). Aus dieser aufklärerischen Grundhaltung heraus kritisierte ENGELS in seinem Brief vom 4. Mai 1891 an Laura LAFARGUE (1845-1911) einige Strömungen der Arbeiterbewegung, „weil sie diese lebendige Theorie der Aktion, der Arbeit mit der Arbeiterklasse in jedem möglichen Stadium ihrer Entwicklung nur begreifen können als eine Sammlung von Dogmen, die auswendig zu lernen und aufzusagen sind wie eine Beschwörungsformel oder ein katholisches Gebet.“74 Es war Wladimir I. LENIN (eigentlicher Name ULJANOW, 1870-1924), der einen ersten wichtigen Anstoß zur Ideologiewerdung des MARXschen Gedankengebäudes gab, als er es im Jahre 1913 in der kleinen Abhandlung »Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus« mit den Worten charakterisierte: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie richtig ist. Sie ist in sich abgeschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren läßt.“75 Er schloss dann den Aufsatz mit den Worten: „Erst der philosophische Materialismus von Marx hat dem Proletariat den Ausweg aus der geistigen Sklaverei gewiesen, in der alle unterdrückten Klassen bisher geschmachtet haben. Erst die ökonomische Theorie von Marx hat die wirkliche Stellung des Proletariats im Gesamtsystem des Kapitalismus erklärt. In der ganzen Welt [...] mehren sich die selbständigen Organisationen des Proletariats. Es schreitet in seiner Aufklärung und Erziehung fort, indem es seinen Klassenkampf führt, es entledigt sich der Vorurteile der bürgerlichen Gesellschaft, schließt sich immer enger zusammen und lernt, an seine Erfolge den richtigen Maßstab anzulegen, stählt seine Kräfte und wächst unaufhaltsam.“76 Die Behauptung der Allmächtigkeit einer Lehre und ihrer Fähigkeit, ein geschlossenes Weltbild zu vermitteln, war der erste Ansatz, aus einer wissenschaftlichen Theorie eine Ideologie zu machen, die auf dem Mythos der Menschheitserlösung, hier im besonderen der Erlösung durch den Kampf, die Leiden und den endlichen Sieg der Arbeiterklasse, beruhte, wie es in den Schlusssätzen zum Ausdruck kommt. Diese Ideologisierung fand Anklang. Als Beispiel unter vielen sei Angelica BALABANOFF (1878-1965) herausgegriffen, die in den zwanziger Jahren im gleichen Sinne schrieb: „Dank Marx, ... dem größten aller Materialisten ... hat sich die materialistische Philosophie zu einer geschlossenen, harmonischen und konsequenten Weltanschauung entwickelt.“77 Wie bei LENIN schimmert auch in diesem Satz der Wunsch nach einem allseits abgerundeten Denksystem durch, einem Denksystem, das alles erklärt und dem keine unliebsamen Überraschungen mit widersprüchlichen Tatsachen widerfahren. Diese Philosophie galt BALABANOFF als geistige Waffe im Klassenkampf, von dessen eindeutigem Ausgang sie überzeugt war. „Heißt es an der Front des Klassenkampfes Klasse gegen Klasse, so muß es an der Front der Ideologie Weltanschauung gegen Weltanschauung heißen In diesem Kampfe müssen die herrschenden Klassen unterliegen, die Aufstrebenden haben die soziale Entwicklung für sich, sie brauchen sich nicht überlebter, künstlicher ideologischer Mittel bedienen, sondern lediglich die sozialen Zusammenhänge und revolutionären Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung vor Augen halten und aus diesen, gestützt auf den Marxismus, die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen.“78 Damit war in die marxistische Philosophie auch noch die Teleologie eingeführt worden. Die Teleologie, die Auffassung von der Zielgerichtetheit des geschichtlichen Prozesses, ist ein kennzeichnendes Element des religiösen oder ideologischen Denkens, aber mit einer wissenschaftlichen Weltanschauung im Grunde unvereinbar. Die gleichsam authentische Fassung des Dogmas „von der welthistorischen Rolle des Proletariats als Totengräber des Kapitalismus und Schöpfer der kommunistischen Gesellschaft, von der Diktatur des Proletariats als entscheidendem Mittel der Arbeiterklasse zur Verwirklichung ihrer historischen Mission“79, fand sich schließlich in den fünfziger Jahren im vierten Band der Gesamtausgabe der Werke von Karl MARX und Friedrich ENGELS. Dass selbst kritische Geister der Verführung des mythischen Denkens erliegen, zeigt das Beispiel Herbert MARCUSES (1898-1979), der noch in den sechziger Jahren über das Proletariat schrieb: „Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen,
73 Robert Havemann: Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und Weltanschauung (1963). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1971, S. 110. Hervorhebung im Original.
74 Friedrich Engels an Laura Lafargue. In: Karl Marx, Friedrich Engels – Werke. Bd 38 (Briefe Januar 1891 bis Dezember 1892) Berlin: Dietz 41988, S. 101.
75 Wladimir I. Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913). In: W[ladimir] I. Lenin: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Bd I. Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1945, S. 61.
76 Wladimir I. Lenin: Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913). In: W[ladimir] I. Lenin: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Bd I. Moskau: Verlag für fremdsprachige Literatur 1945, S. 66.
77 Angelica Balabanoff: Sozialismus als Weltanschauung (o.J.). In: Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung; Texte aus der Zwischenkriegszeit. Wien: Junius Verlag 1981, S. 45.
78 Angelica Balabanoff: Sozialismus als Weltanschauung (o.J.). In: Sozialismus und persönliche Lebensgestaltung; Texte aus der Zwischenkriegszeit. Wien: Junius Verlag 1981, S. 45-46. Hervorhebungen im Original.
79 Karl Marx, Friedrich Engels – Werke. Bd 4 (Mai 1846 bis März 1848) Vorwort (1959). Berlin: Dietz 111990, S. V.