Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

Die Aufklärung ist noch nicht beendet

 

An diesem Punkt soll die bisher entrollte Gedankenkette noch einmal zusammengefasst werden.

Die Suche nach den Gründen für das Scheitern der aufklärerischen Religionskritik führte zum Mythos, der die Grundbedürfnisse der Menschen nach Sinnhaftigkeit und Sicherheit ihres Daseins und der sie umgebenden Welt zur Grundlage hat. Die Wurzeln dieses Bedürfnisses wurden in den frühesten Kindheitserlebnissen der narzisstischen Kränkung gefunden. Diese Erlebnisse können wegen des zur Zeit ihres Eintretens noch ungenügenden Reifestandes der seelischen und geistigen Entwicklung nicht angemessen verarbeitet werden und werden daher ins Unbewusste verdrängt und auch dort gehalten. Von dort aus wirken sie jedoch ständig in das Bewusstsein hinein, indem sie den genannten Grundbedürfnissen immer neue Energie zuführen.

Es sind, vereinfacht ausgedrückt, die narzisstischen Allmachtsfantasien, die dem Menschen vorspiegeln, ihm mit der Magie und der Religion Mittel zur Beeinflussung des Unerklärlichen in die Hand gegeben zu haben. Beide erweisen sich jedoch als sehr zweifelhafte Mittel, weil sie den Menschen in zweifacher Hinsicht in eine kindliche Abhängigkeit stoßen. Zum einen werfen sich die Priester als Sachverständige im Umgang mit den höheren Mächten zu Beherrschern der Menschen auf, zum anderen unterwirft sich der Mensch selbst einem Bündel von Projektionen, die sich zu den Vorstellungen von Gott und Teufel verdichten.

Unter dem Druck der Konkurrenz der antiken Philosophie haben die Priester der christlichen Religion eine Scheinwissenschaft entwickelt – die Dogmatik. Unter der Argumentationskraft der Philosophie der Aufklärung hat sie jedoch ihre Glaubhaftigkeit verloren. Dadurch konnte zwar die Kraft der Religionen und der Kirchen geschwächt werden, die seelischen Grundbedürfnisse blieben aber weiterhin unbefriedigt.

Als Folge der „Entzauberung der Welt“ durch Wissenschaft und Technik traten an die Stelle der ins Jenseits weisenden Religionen treten innerweltlich orientierte Ideologien, die aus den nach wie vor ungestillten Bedürfnissen nach Sicherheit und Sinnhaftigkeit hervorgehen. Ideologien nehmen daher das Wesen von Religionen an und haben für viele Menschen auch den gleichen Stellenwert in ihrer Wertordnung. Aus der Ausschließlichkeit, mit der sowohl Religionen und Ideologien untereinander und gegeneinander ihren alleinigen Wahrheitsanspruch behaupten, und aus der Unduldsamkeit und Verblendung, mit denen sie um dessen Durchsetzung kämpfen, hat den österreichischen Staatswissenschafter und Geschichtsphilosoph Erich VOEGELIN (1901-1985) im Jahr 1938 dazu bewogen, zwischen beiden eine Wesensverwandtschaft anzunehmen: „Anhänger von Bewegungen, die religionsfeindlich und atheistisch sein wollen, sträuben sich dagegen, daß auf dem Grund ihrer fanatischen Haltung religiöse Erlebnisse zu finden sein sollen, nur anderes als heilig verehrend als die Religion, die sie bekämpfen. Wir müssen daher eine sprachliche Entscheidung fällen: die Geistreligionen, die das Realissimum im Weltgrund finden, sollen für uns überweltliche Religionen heißen; alle anderen, die das Göttliche in Teilinhalten der Welt finden, sollen innerweltliche Religionen heißen“95 oder politische Religionen. Von der Warte der Psychoanalyse aus gesehen, handelt es sich bei Religion und Ideologie um eine infantile Regression das heißt um einen Rückfall in Denk- und Verhaltensmuster, der wegen der unerkannten und unaufgearbeiteten frühkindlichen Traumata zwanghaft erfolgt. So lange die Mehrheit der Menschen sich nicht aus diesem Widerholungszwang befreit, werden Politiker und Politikerinnen immer wieder in die zwar stets neu gestylten, aber nichtsdestoweniger althergebrachten Rollen des Strahlenden Helden, des Magischen Helfers oder der Großen Mutter schlüpfen – wodurch sie sich ja auch selbst ihre eigenen narzisstischen Wünsche erfüllen – und bleibt die Politik der Gladiatorenzirkus als den ihn die Infotainment-Medien96 gerne hinstellen. Nicht wesentlich anders verhält es sich mit der medialen Aufbereitung der Vorgänge im Wirtschaftsleben, das nicht selten als die Arena dargestellt wird, in der knallharte Manager, eiskalte Technokraten und Betrüger großen Stils gegeneinander in den Ring steigen. Für Gladiatorenspiele ist aber nur der Sport der gegebene Bereich. „Dort kurven [...] infantile Formel-1-Rennfahrer über die Pisten, um sich selbst und anderen zu zeigen, daß Unverletztheit angesichts höchster Gefahren möglich zu sein scheint.“97 Ein anderes Feld, auf dem die narzisstischen Träume von Allharmonie und Allmacht, ihren schmerzhaften Enttäuschungen und ihren Heilungen ausgelebt werden können, ist die Kunst in der Vielfalt ihrer Gattungen.

Ein anderes Feld, auf dem die narzisstischen Träume von Allharmonie und Allmacht, ihren schmerzhaften Enttäuschungen und ihren Heilungen ausgelebt werden können, ist die Kunst in der Vielfalt ihrer Gattungen.Nichts verloren sollen derlei Regungen auf dem Feld der Politik haben, wie der große südamerikanische Dichter Mario VARGAS LLOSA (geb. 1936) vor kurzem in einem Zeitungsinterview sagte: „Ich bin auf allen Gebieten für Utopien – außer auf dem der Politik. Da ist es besser, Pragmatiker und Realist zu sein. Die Geschichte zeigt, dass alle Versuche, eine perfekte Gesellschaft zu schaffen, in die Hölle geführt haben. Die totalitären Gesellschaften des 20. Jahrhunderts waren utopische Projekte. Das Naziregime fußte auf der Idee der Herrenrasse, der Kommunismus war es mit der klassenlosen Gesellschaft ohne Ausgebeutete und Ausbeuter. Das Resultat war immer Terror, Repression und Zensur. [...] In der Politik ist der demokratische Konsens viel besser, der graduelle Fortschritt, ohne ganze Generationen im Namen einer perfekten Gesellschaft zu opfern. aber in anderen Bereichen ist es völlig legitim, von Perfektion zu träumen und utopische Ziele zu haben – in der Kunst, in der

 


 

95 Eric Voegelin: Die politischen Religionen (1938). München: Fink 21996, S. 17.
96 Infotainment ist eine aus dem Englischen stammende Zusammenziehung der Wörter Information und Entertainment (Unterhaltung), die ausdrückt, dass in den Massenmedien die Informationsvermittlung unter dem Gesichtspunkt ihres Unterhaltungswertes erfolgt.
97 Bernd Nitzschke: Männerhelden, die einsamen Rächer; Über das Verhängnis, sein eigener Vater werden zu wollen und dabei zu scheitern. In: Anton Szanya (Hg.): Elektra und Ödipus; Zwischen Penisneid und Kastrationsangst. Wien: Picus Verlag 1995, S. 130.

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