Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins
Literatur und im individuellen Leben.“98 VARGAS LLOSA wiederholte in diesem interview sinngemäß, was vor knapp vierzig Jahren in einem Kommentar zur österreichischen Bundesverfassung über das Wesen der Demokratie ausgeführt wurde: „Die Idee der Demokratie verpflichtet zur Toleranz, d.h. zur Bereitschaft, in Gegensätzen, mit Gegnern zu leben, den Andersdenkenden als solchen hinzunehmen, ohne ihn zu diffamieren, zum ‚Todfeind’ zu stempeln, und die Spannungen, die sich daraus ergeben, zu ertragen, ohne eine ‚Endlösung’ durch eine ‚Machtübernahme’ anzustreben [...]. Die Demokratie ist die Staatsform der ‚Vertu’, der Staatsbürgertugend, [...]; damit ist sie aber auch die Staatsform des kühl wägenden Verstandes, des nüchternen, wachsamen, kritischen Realismus [....].“99
Aufgaben des Freidenkertums
Aus den bisherigen Ausführungen ist hervorgegangen, das die bisherige Praxis des politischen Lebens sich noch sehr von der Theorie der demokratischen Gesellschaft unterscheidet. Diese aus dem Geist der Aufklärung erwachsenen Theorie zeigt klar, dass Demokratie nur dann lebt und leben kann, wenn Frauen und Männer vernünftig und verständig an den erforderlichen Entscheidungen mitwirken. Die Zukunft der Demokratie hängt daher ganz wesentlich von der Bildung eines echten, von einer reifen Persönlichkeit getragenen Individualismus ab, wie er seit der Zeit des Humanismus als Ziel und Zweck echter Bildung gilt. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist der von Immanuel KANT geforderte „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht in einem Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne die Leitung eines anderen zu bedienen.“100 KANT war sich dessen bewusst, dass es häufig gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen sind, die Menschen in Unmündigkeit halten. Darum fordert er auch die Freiheit, „Von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“.101 Nicht selten ist es aber auch die eigene Bequemlichkeit, die die Menschen an der Befreiung ihres Verstandes hindert. „Es ist so bequem, unmündig zu sein“, führte KANT diesbezüglich aus. „Habe ich ein Buch, das für mich Verstand h at, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u. s. w., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“102
Diese noch immer gültigen Ausführungen KANTS beinhalten auch eine Aufforderung an das Freidenkertum. Es genügt nicht, sich nur gegen äußere Beschränkungen der Freiheit des Denkens zu verwahren, vielmehr ist es auch geboten, sich gegen die eigene Bequemlichkeit vorzusehen und alle Ansprüche oder auch Angebote von Experten und Spezialisten, die Last des Denkens auf sich zu nehmen. Gerade in Zeiten staatlicher Sparmaßnahmen wird gern am Bildungswesen zu sparen begonnen, weil dies den wenigsten Widerstand hervorruft. Dass dem tatsächlich so ist, ist ein bedenkliches Zeichen dafür, dass es dem staatlich organisierten Bildungssystem anscheinend erfolgreich zu verhindern gelungen ist, die von Humanismus und Aufklärung der umfassenden Bildung entgegengebrachte Wertschätzung zu einer allgemeinen Werthaltung werden zu lassen. Verständlich ist dies schon, wären doch gebildete Bürgerinnen und Bürger gewiss weniger leicht zu gängeln als es für die staatliche Verwaltung wünschenswert ist. Eine weitere Aufgabe des Freidenkertums liegt nun darin, die Verbreitung einer solchen Werthaltung zu fördern, denn Einschnitte im Bildungswesen bringen zudem auch noch eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Demokratie als Staatsform und als Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit sich. Wie eingangs dargelegt worden ist, liegt es im Wesen der Dialektik der Aufklärung, dass sie der Ausbildung einer selbstbewussten und entscheidungssicheren Persönlichkeit nicht gerade zuträglich ist. Gerade deshalb und damit auch im Sinne einer weitergehenden Demokratisierung der Gesellschaft sind dauernde Anstrengungen in allen Bereichen des Bildungswesens erforderlich. „Die Auswirkungen der Bildung auf die politische Einstellung sind kompliziert“, erklärt im Hinblick darauf Francis FUKUYAMA, „aber vieles spricht dafür, daß ein hohes Bildungsniveau eine Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft ist. [...] Gebildete Menschen, so heißt es, leisten Autoritäten keinen blinden Gehorsam, sondern haben gelernt, selbst zu denken. [...] Gebildete Menschen verlangen mehr für sich selbst und von sich selbst, sie haben mit anderen Worten ein Gefühl für ihre Würde und fordern, daß ihre Mitbürger und der Staat ihre Würde respektieren [...].“103 Gebildete Menschen, kann man diesen Gedankengang weiterführen, würden sich in ihrer Würde beleidigt fühlen, wollte man versuchen, sie unter Anreizung ihrer narzisstischen Wünsche zu einer politischen Entscheidung zu verleiten, anstatt ihnen vernünftige und einer Prüfung zugängliche Entscheidungsgrundlagen vorzulegen.
Dass in wünschenswertem Maß umfangreiche gesellschaftliche Bildungsanstrengungen viel Geld kosten würden, viel mehr Geld auch, als schon in vergleichsweise guten Zeiten dafür aufgewendet worden ist, und um ein Vielfaches
98 Ein Blair an die Spitze der USA. In: Der Standard, 24.4.2003, S. 33.
99 Josef R. Draxler, Hans Weiler: Freiheit und Recht; Eine Einführung in den Text und das Gedankengut der österreichischen Bundesverfassung. Wien: Österreichischer Bundesverlag 21966, S. 12.
100 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) In: Karl Vorländer: Philosophie der Neuzeit; Die Aufklärung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 246. Hervorhebungen im Original.
101 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) In: Karl Vorländer: Philosophie der Neuzeit; Die Aufklärung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 247. Hervorhebungen im Original.
102 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784) In: Karl Vorländer: Philosophie der Neuzeit; Die Aufklärung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969, S. 246.
103 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte; Wo stehen wir? (The End of History). München: Kindler 1992, S. 170.