Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins
der Menschheit nun nicht mehr in den unerforschlichen Ratschlüssen höherer Mächte suchten, sondern hier auf Erden zu finden vermeinten. Vereinfacht gesagt, schlugen diese Großen Erzählungen in der Hauptsache zwei Themen an:
Das eine Thema war die Annahme, dass mit der Erweiterung der Kenntnisse der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, die Menschen sich endgültig von jeglichem unvernünftigen Aberglauben befreien und zu einem friedvollen Zusammenleben führen könnten. Diese Annahme war unter anderem auch eine der beflügelnden Kräfte der Volksbildungsbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts. Außerdem war in dieser auch enthalten, dass mit dem Aufschwung der Naturwissenschaften der Mensch auch in den Stand gesetzt würde, die Natur zu beherrschen. Zu einem nicht geringen Teil kann in dieser Vorstellung auch die narzisstisch-magische Natur des Menschen zum Ausdruck, indem man glaubte, die Flucht der Erscheinungen durch die Einschreinung in ein ausgeklügeltes Ordnungssystem bannen zu können. Carl von LINNÉ (1707-1778) schuf im Jahr 1735 ein solches Werkzeug mit seinem »Systema naturae«, einer durchgehenden hierarchischen Ordnung und Klassifizierung aller damals bekannten Pflanzen und Tiere. „Schon sein Ordnungswille, der den ganzen Kosmos in einem System von Bildern und Begriffen zu fassen suchte, nährte sich aus jener narzißtischen Energie“,67 beschrieb Mario ERDHEIM (geb. 1940) dieses beharrliche Streben des Menschen nach Ordnung und Übersicht.
Das zweite Thema war die Vorstellung, dass die Entdeckung der Ablaufgesetze der Geschichte knapp bevorstehe oder sogar bereits erfolgt wäre. „Während wir also früher die Entstehung der Welt als einen Schöpfungsakt auffaßten, welcher in der Erschaffung des Menschen als des vollkommensten und vornehmsten aller Geschöpfe seinen endgiltigen Abschluß gefunden hat“, schrieb Moritz von REYMOND (Lebensdaten unbekannt) in seiner im Jahr 1893 erschienenen zweibändigen »Weltgeschichte«, „sehen wir jetzt alles Bestehende als das Ergebnis eines Entwickelungsprozesses an, der an und für sich nicht an zeitliche und räumliche Grenzen gebunden ist, obgleich er sich unserem Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen nur innerhalb solcher Grenzen darstellt.“68 Indem REYMOND den Verlauf der Geschichte ähnlichen Gesetzmäßigkeiten unterwirft, wie es Charles Robert DARWIN (1809-1882) in seiner Evolutionstheorie mit der Entwicklungsgeschichte des Lebens getan hat, wird ihre Erforschung erst richtig zu einem Bestandteil der Bildung. „Weit entfernt, durch diese Auffassung an wissenschaftlichem und sittlichem Wert zu verlieren, kann die Weltgeschichte vielmehr nur dann zu einem wahrhaften, fruchtbringenden Bildungsmittel für den einzelnen, wie das Menschengeschlecht in seiner Gesamtheit werden, wenn sie sich auf die natürliche Grundlage des Entwickelungsgesetzes stellt [...].“69 In diesem Sinne stellte sich für REYMOND die Weltgeschichte als eine Aufeinanderfolge von Kulturkämpfen dar, vom urgeschichtlichen „Zeitalter des Kulturkampfes ums Dasein“ bis zum „Zeitalter des wissenschaftlichen und nationalen Kulturkampfes“, das in etwa mit der Französischen Revolution begann und bis in seine Zeit reicht, und deren Fortsetzung in einem sozialen Kulturkampf sich bereits ankündigt. „Der ‚vierte Stand’ [...] hat der bestehenden Gesellschaftsordnung [...] den Krieg erklärt und sammelt seine Massen unter der Fahne der ‚Sozialdemokratie’“, schloss REYMOND sein Werk. „Der soziale Krieg tritt, einer Wetterwolke gleich, auf die Bildfläche, und wie auch sein Ausgang sein mag, er wird jedenfalls im nächsten Abschnitte der Entwickelungsgeschichte der Kulturmenschheit die wichtigste Rolle spielen.“70 Sah REYMOND noch den Klassenkampf, sah ein gewisser Hans ZACHE (Lebensdaten unbekannt), seines Zeichens Regierungsrat und Bezirksamtmann a. D., etwa dreißig Jahre später einen anderen Kampf bevorstehen: „Sollte gar einmal der große Rassenkampf der Welt beginnen, den viele Sachkenner für unvermeidbar halten, – nur über das wann ist man sich noch nicht einig –, [...] scheint [es] nicht ausgeschlossen, daß Deutschland einmal dazu berufen ist, Afrika für Europa zu retten.“71
Aus den Worten REYMONDS und auch ZACHES ist ein Geschichtsbild zu erkennen, das durch eine Übertragung der von Charles DARWIN geprägten Vorstellung, wonach die vorherrschende Triebkraft für den stetigen Fortgang der Weiterentwicklung der Lebensformen im „Kampf ums Dasein“ bestünde, auf den Ablauf der Menschheitsgeschichte bestimmt ist. Bei REYMOND weniger deutlich als bei ZACHE schimmert in diesem Weltbild auch die Vorstellung durch, dass das Endziel oder der Endzweck aller dieser Kämpfe letztlich die Überwindung aller Gegner und Feinde durch das Deutschtum sein werde. Dass dies Vorstellung sogar die Form eines Glaubens wider alle Vernunft annehmen kann, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel ZACHES, der fast zehn Jahre nach dem Verlust der Kolonien Deutschlands mit dessen Niederlage im Ersten Weltkrieg noch immer eine weltpolitische Rolle Deutschlands als Kolonialmacht für möglich hält. Die Unwahrscheinlichkeit des Eintretens eines solchen Falles überdeckt er vor sich und seinen Leserinnen und Lesern mit der in seinen Augen wissenschaftlichen Begründung: „Es ist nicht immer nichtige Spielerei, sich mit derart weitliegenden Fragen zu beschäftigen, denn auch rassenpolitische Entwicklungen schlagen im Zeitalter der Hertzschen Wellen ein anderes Tempo ein als im Zeitalter der Postkutsche. Ein deutsches ‚Mandat für Afrika’ liegt auch unter diesem Gesichtspunkte nicht außerhalb des Bereichs der Möglichkeit in den nächsten Jahrzehnten.“72 Die von REYMOND und ZACHE entwickelten Vorstellungen sind, um mit den Worten des Chemikers und Kritikers
67 Mario Erdheim: Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit; Eine Einführung in den ethnopsychoanalystischen Prozeß (1984). Frankfurt am Main: Surhkamp 41992, S.411.
68 M[oritz von] Reymond: Weltgeschichte. Bd I. Neudamm: Neumann o.J. (1893), S. 2.
69 M[oritz von] Reymond: Weltgeschichte. Bd I. Neudamm: Neumann o.J. (1893), S. 3.
70 M[oritz von] Reymond: Weltgeschichte. Bd II. Neudamm: Neumann 1893, S. 686.
71 Hans Zache: Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonien, S. 40. In: Die neue Volkshochschule; Bibliothek für moderne Geistesbildung. Zweiter Band: Geschichte, Erziehung, Sport. Wien: Hutter o.J. (~1928).
72 Hans Zache: Wirtschaftsgeschichte der deutschen Kolonien, S. 40. In: Die neue Volkshochschule; Bibliothek für moderne Geistesbildung. Zweiter Band: Geschichte, Erziehung, Sport. Wien: Hutter o.J. (~1928).