Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins
machen.“42 Ist man einmal so weit gekommen, so ist es nur mehr ein kleiner Schritt bis zur Haltung des Quintus Septimius Florens TERTULLIANUS (~160-~220), der vom Dogma sagte: „Es ist glaubhaft, weil es unsinnig ist [...] es ist gewiß, weil es unmöglich ist.“43
Ein dritter sehr fragwürdiger Punkt des Dogmas besteht darin, dass die Zustimmung zu ihm, der Glaube, nicht intellektuell, sondern moralisch bewertet wird. Wer das Dogma verwirft, ist ein Verworfener, er irrt nicht, sondern er frevelt. „Wer immer euch als Evangelium etwas verkündet außer dem, was ihr angenommen habt, er sei verflucht!“,44 gibt PAULUS aus Tarsos (3-62) hierzu den Ton an. Schärfer ist schon die Drohung, die PETRUS (gest. ~64) in seinem angeblichen Zweiten Brief gegen Irrlehrer ausstößt, wenn er schreibt: „Aber gleich vernunftlosen Tieren, die von Natur dazu geboren sind, eingefangen und vernichtet zu werden, werden diese Menschen in bezug auf Dinge, über die sie unwissend sind und lästerlich reden, auch Vernichtung erleiden.“45
Um ihn sich noch verfügbarer zu machen, betreibt das Priestertum häufig auch eine Vergeschichtlichung des Mythos. Diese Verbindung des Mythos mit der Geschichte forderte denn auch im Bereich des christlichen Kulturkreises schon sehr früh Kritik heraus.46 Wäre die Welterlösung tatsächlich ein Ereignis der Weltgeschichte, wandten die Kritiker an der Vergeschichtlichung des Mythos ein, dann bedürfe es keiner Vermittlung durch Priester mehr, denn eine göttliche Erlösungstat müsse wohl ebenso allumfassend sein wie es der Sündenfall der Menschen gewesen sei. Um nun das Dogma von der in der Geschichte stattgefunden habenden Welterlösung und damit auch die eigene Daseinsgrundlage zu retten, mussten es seine priesterlichen Verteidiger mit weiteren Geschichtsklitterungen stützen. Die dergestalt verfeinerte Lehre besagte dann, dass die Welt zwar grundsätzlich, aber nicht tatsächlich erlöst worden sei. Die tatsächliche Erlösung jedes Menschen sei eben die Aufgabe der Priester. Diese Aufgabe sei auch zugleich ein Auftrag, dem fallweise auch mit mehr oder weniger sanftem Nachdruck zum Erfolg verholfen werden müsse. „Zwingt sie, einzutreten!“, nämlich in die Kirche, forderte Aurelius AUGUSTINUS47 (354-430) bereits im Jahre 411 von den Vertretern der Staatsgewalt in bezug auf die Donatisten.
Damit ist der Weg jedweden Dogmas gewiesen. Da seine Annahme nicht durch Beweisführung und Begründung erwirkt werden kann, wird eher früher als später zur Gewalt als ultima ratio gegriffen, wenn es um seine Durchsetzung geht. Deshalb kann das Priestertum nicht auf die staatlichen Zwangsmittel verzichten, will es seine Machtstellung behaupten. Es entwickelt sich daher auch eine enge Symbiose zwischen weltlicher und geistlicher Macht. Die weltliche Macht stützt die geistliche, indem sie die religiösen Vorschriften zur Richtmaß ihrer Gesetzgebung nimmt, während die geistliche Macht die weltliche durch die Ableitung aller Obrigkeit von der Herrschergewalt Gottes legitimiert. Im Rahmen dieser Symbiose bleibt die geistliche Macht so lange die stärkere, wie ihr Zugriff auf das Gewissen der Menschen ungeschwächt ist. Denn dann hat es das Priestertum in der Hand, der weltlichen Macht die Legitimierung in den Augen der Menschen zu entziehen, sollte sie sich als störrisch erweisen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, sind die Bemühungen des Vatikans, der hierbei als Speerspitze für alle anderen Religionsgemeinschaften Europas handelt, um die Aufnahme eines Gottesbezuges in die künftige europäische Verfassung verständlich.
„Der Mythos begann zu entarten, als er in eine Doktrin umgewandelt wurde, das heißt in ein Gebilde, das eines Beweises bedurfte und einen Beweis suchte“, schreibt Leszek KOLAKOWSKI48 mit Blick auf die vorhin nachgezeichnete Entwicklung. Der Mythos ist, wie bereits gesagt worden ist, der Versuch des Menschen, der Welt einen Sinn zu unterlegen, das heißt sie so zu betrachten, als ob sie – in Analogie zu seinen eigenen Schöpfungen – einen Sinn hätte. Somit geht es dem Mythos auch gar nicht so sehr darum, im wissenschaftlichen Sinn wahr zu sein. Der Mythos erklärt die Welt, aber er erforscht sie nicht. Anders das Dogma. Es versucht sich – vor allem in der Konkurrenz zu der sich emanzipierenden Philosophie und den Wissenschaften – selbst den Anstrich einer Wissenschaft zu geben. Mit dem Zugriff des Dogmas auf den Mythos wurde dieser seiner Kraft, die Menschen zu ergreifen – ergriffen zu machen – beraubt. Dadurch wurde er dem menschlichen Verstand und der Kritik überantwortet, die sich an seinen Widersprüchen und Ungereimtheiten festbissen und ihren Spott über ihn ausgossen, wie es beispielsweise der Nobelpreisträger für Physik des Jahres 1979, Steven WEINBERG (geb. 1933),tat, als er der Einleitung zu seinem Buch über die Entstehung des Weltalls schrieb: „Eine Erklärung für die Entstehung der Welt finden wir in der ›Jüngeren Edda‹ [...] Am Anfang, so heißt es dort, gab es nichts. ‚Da war nicht Erde unten, noch oben Himmel, Gähnung grundlos, doch Gras nirgend.’ Nördlich und südlich des Nichts erstreckten sich eisige und feurige Welten, Nebelheim und Muspellheim. Die von Muspellheim ausgehende Hitze brachte das Eis von Nebelheim zum Schmelzen und aus den
42 2 Ko 10, 5-6: „et omnem altitudinem extollentem se adversus scientiam Die et in captivitatem redigentes omnem intellectum in obsequium Christi“ [Roger Gryson (Hg.): Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 41994, S. 1798.]
43 Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte. Tübingen: Mohr 131971. § 17e. Das geflügelte Wort „credo quia absurdum est“ – ich glaube es, weil es unsinnig ist – stammt in dieser Form nicht von TERTULLIANUS, sondern aus unsicherer Quelle. Es trifft aber den Sachverhalt.
44 Gal 1, 9: „si quis vobis evangelizaverit praeter id accepistis anathema sit“ [Roger Gryson (Hg.): Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 41994, S. 1802.]
45 2 Pe 2, 12: „hii vero velut inrationabilia pecora naturaliter in captionem et in perniciem in his quae ignorant blasphemantes in corruptione sua et peribunt” [Roger Gryson (Hg.): Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 41994, S. 1871.]
46 Die bedeutendsten dieser Kritiker waren die Philosophen KELSOS im zweiten und PORPHYRIOS im dritten Jahrhundert.
47 Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte. Tübingen: Mohr 131971. § 25k.
48 Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos (Obecność mitu, 1972). München, Zürich: Piper 1984. S. 15