Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins
feindseligen Welt. [...]; seinem Wesen nach ist er eher eine Arbeitshypothese, ein Versuch, aus der Ohnmacht, die unser Los ist, herauszukommen.30
Religion - Die Anwendung des Mythos
Denn in vielleicht unbewusster Ahnung dessen, dass die mythische Welt nach ihrem Ebenbild geschaffen ist, und ausgehend von ihren eigenen kindlichen Lebenserfahrungen sind die Menschen davon überzeugt, ein Mittel in der Hand zu haben, mit dem sie in diese Welt lenkend eingreifen können. Dieses Mittel ist die Magie.
Magie
Der Magie liegt die Überzeugung zu Grunde, Gedanken und Worte könnten andere Menschen, Geister, aber auch unbelebte Gegenstände der Umwelt im gewünschten Sinne beeinflussen. Dieser Glaube an die Allmacht des Gedankens geht auf frühkindliche Erlebnisse zurück, die auf durchaus wirklichen Erfahrungen beruhen. Wenn das Kind sprechen lernt, entdeckt es auch, dass es damit ein Mittel zur Kontrolle, ja teilweisen Beherrschung der Umwelt erlangt, das buchstäblich magisch ist. Mittels der Sprache kann das Kind gegenüber Mutter und Vater seine Wünsche zum Ausdruck bringen, und sie tun und bringen ihm, was es will. Diese Erlebnisse und Erfahrungen kommen dem Narzissmus des Kindes sehr entgegen. Mehr noch: nach seinen vielfachen Kränkungen, von denen bereits die Rede war, klammert er sich dermaßen an die Überzeugung von der Allmacht des Gedankens, dass es eines lange dauernden Erfahrungsprozesses bedarf, bis das Kind, lernt, dass selbst die inständigsten Wünsche an den harten Tatsachen der Wirklichkeit zerschellen. Nichtsdestoweniger bleibt der Glaube an die Allmacht der Gedanken, an die Zauberkraft von Worten bei den meisten Menschen mehr oder weniger stark das ganze Leben lang erhalten. Wer, beispielsweise, hat noch nicht seinem Auto oder seinem Computer gut zugeredet, doch so zu tun wie man es von ihm haben will. Auch der Brauch, jemandem Glück, Erfolg und Gesundheit zu wünschen, ist ein Ausfluss des magischen Denkens.
Die wohl bedeutendste und am weitesten verbreitete Erscheinungsform dieses ungebrochen Glaubens an die Allmacht des Gedankens ist das Gebet. Das Gebet ist von seiner Entstehung her im eigentlichen Sinn eine Beschwörungsformel, ein Zauber, der den Willen der Geister oder Götter lenken soll, ähnlich wie der geäußerte Wunsch des Kindes den Willen der Eltern in die Richtung seiner Erfüllung zu lenken vermag. Mit dem Gebet, der Verbindungsaufnahme des Menschen mit den überirdischen Mächten erhebt sich die Magie von der gewöhnlichen Zauberei zur Religion. Mit Hilfe der Religion will der Mensch auf die überirdischen Mächte beeinflussend einwirken. Man kann in der Religion die praktische Anwendung des Mythos31 sehen, wie etwa die Technik die praktische Anwendung der Wissenschaft ist.
In Analogie zu Beobachtungen von Religionsformen in gegenwärtig noch beste-henden urtümlichen Gesellschaftsformen kann angenommen werden, dass das Gebet anfänglich eine Sache der Gemeinschaft war. Die Familie, die Sippe, der Stamm trat unter Leitung eines Vermittlers, etwa des Ältesten, des Häuptlings oder des Zauberers, im Gebet vor die höheren Mächte. Dieses Gruppengebet hatte infolgedessen auch nur Anliegen und Vorhaben der betenden Gemeinschaft zum Inhalt. Dies konnte der Jagderfolg, der Erntesegen, das Gelingen eines Gemeinschaftswerkes, das Kriegsglück, der Eintritt der Jugend in die Welt der Erwachsenen und ähnliches sein. Bis in die heutige Zeit bieten Anlässe dieser Art, man denke hierbei nur an Fronleichnamsprozessionen oder Einweihungen öffentlicher Bauwerke, Gelegenheit zu öffentlicher Religionsausübung mit dem damit verbundenen Schaugepränge. Da die Zahl von derlei Anlässen begrenzt ist und diese auch mit einiger Regelmäßigkeit wiederkehren, erstarren die Gruppengebete zu bestimmten, streng reglementierten Formen, die oft über Generationen hinweg unverändert bleiben. Auf diese Weise entstehen Riten. Nicht zum geringsten Teil ziehen die solcherart zu kultischen Handlungen und Liturgien geronnenen Gruppengebete ihre Feierlichkeit und Erhabenheit aus der altertümlichen, manchmal auch unverständlichen, weil fremden Sprache32 und aus dem in langer Überlieferung verlorengegangenen Sinn der sie begleitenden rituellen Handlungen.
Neben dem Gruppengebet steht das freie persönliche Gebet.33 Das persönliche Gebet tritt in zwei Spielarten auf. Die eine weist noch große Ähnlichkeit mit dem formalisierten Gruppengebet auf. Es besteht in der Aneinanderreihung sich wiederholender Formeln und Wendungen, die keinen unmittelbaren Bezug zur jeweiligen Befindlichkeit des oder der Betenden haben. Beispiele hierfür sind die bekannten Gebete der katholischen Religion wie Glaubensbekenntnis, Vaterunser,
30 Pierre Grimal: Der Mensch und der Mythos (1963). In: Pierre Grimal (Hg.): Mythen der Völker (Mythologies, 1963). Bd 1: Ägypter – Sumerer – Babylonier – Hethiter – Westsemiten – Griechen – Römer. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1977, S. 13-14.
31 „Der Mythos erhebt gleich der Wissenschaft den Anspruch, die Welt zu erklären, ihre Phänomene verständlich zu machen. Gleich der Wissenschaft möchte er dem Menschen ein Mittel in die Hand geben, mit dem er, der Mensch, auf das Universum einwirken kann.“ [Pierre Grimal: Der Mensch und der Mythos (1963). In: Pierre Grimal (Hg.): Mythen der Völker (Mythologies, 1963). Bd 1: Ägypter – Sumerer – Babylonier – Hethiter – Westsemiten – Griechen – Römer. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1977, S. 12-13.]
32 Verballhornungen der unverständlichen Gebetsformeln lassen deren magischen Charakter im Volksglauben deutlich in Erscheinung treten. So wurde aus der Wandlungsformel der katholischen Messfeier „hoc es corpus Christi“ – dies ist der Leib Christi – die Zauberformel „hokus pokus“.
33 In Europa erreichte das persönliche Gebet erst mit dem Protestantismus, der eine Religion der individuellen Beziehung des Menschen zu seinem Gott ist, entstanden aus der Auflösung der strengen gesellschaftlichen Bindungen im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit, seine allgemeine Verbreitung.