Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

Ave Maria und Rosenkranz, die zu verschiedensten Anlässen gebetet werden. Diese Art des Einzelgebetes hat oft den Charakter einer Opferleistung. Die in dieser Art Betenden opfern einen Teil ihrer Zeit und nehmen die Mühe und Langeweile des Aufsagens langer Litaneien auf sich. Das Abbeten einer Anzahl formalisierter Gebete wird in der katholischen Religion auch tatsächlich als Bußübung absolviert. In indischen oder indisch beeinflussten Religionen kommt der beständigen Wiederholung eines „Mantras“ eine ähnliche Bedeutung zu.34

Die andere Spielart ist das persönliche Gebet im eigentlichen Sinn. Der Mensch trägt in ihm Anliegen und Wünsche, zu deren Erfüllung seine Kraft nicht ausreicht, seinem Gott, Heiligen oder Schutzgeist vor. Jedoch führen derartige Gebete nie zum Eintreten des Gewünschten. Die Gebetsbitten bleiben unerfüllt. Und dennoch beten die Menschen, obwohl sie sich der unmittelbaren Wirkungslosigkeit ihres Betens im allgemeinen durchaus bewusst sind. Die Erklärung für dieses scheinbar unsinnige Verhalten liegt darin, dass das andächtige, inbrünstige Gebet nicht ohne Wirkung auf die Empfindungen des oder der Betenden bleibt. Es können dies Erlebnisse der Tröstung, der geistigen Stärkung, der innerlichen Beruhigung sein. Diese subjektiven Erlebnisse, deren Echtheit nicht zu bestreiten ist, werden aus der Sicht derer, die sie haben, als Zeichen oder Antwort der jeweils angerufenen höheren Macht gedeutet, wodurch sich in den Augen dieser Menschen auch die Wirksamkeit der magischen Praktik erweist. Der sogenannte Psychoboom hat eine große Zahl von Techniken der Autosuggestion und von körperlichen Übungen populär gemacht, die gleichartige Wirkungen auch bei religiös ungebundenen Menschen hervorrufen können, sofern sie von deren Wirksamkeit überzeugt sind. Unter diesem Blickwinkel gesehen, kann auch das Gebet in die Reihe dieser psycho-physischen Techniken eingeordnet werden.

Priestertum

Doch zurück zum Gruppengebet. Die Neigung der Gebetsformeln und kultischen Handlungen zur Erstarrung, verbunden mit magischen Glauben an die Allmacht des Wortes, das, richtig gesprochen, sogar die Götter zwingen kann, war die Ursache zur Ausbildung des Priestertums. Auf die richtige Anwendung der Formeln kommt es im Bereich der Magie vor allem an. Ein Wort verfehlt, eine rituelle Bewegung unrichtig ausgeführt, und die magische Wirkung tritt nicht ein. Die unsichtbaren Mächte haben sich nur auf eine bestimmte Formel verpflichtet.35 Diese einzig richtige und daher einzig wirksame Formel wird von den Wissenden geheimgehalten. Die Erlangung ihrer Kenntnis erfolgt nur durch einen Aufstieg über verschiedene Weihestufen, im Zuge dessen die Würdigen von den Unwürdigen getrennt werden. Auf diese Weise konstituiert sich ein Stand, der die Ausübung der Religion für sich monopolisiert. Wie vielfältig die äußerlichen Erscheinungsformen des Priestertums in Geschichte und Gegenwart auch waren und sind, ihr gemeinsamer Wesenskern liegt in dem Anspruch, im Alleinbesitz des magischen Geheimnisses zu sein, tiefere Einsicht und umfassendere Kenntnis der Offenbarungen und des Willens ihrer jeweiligen Götter zu haben.

Wo immer in der menschlichen Kulturentwicklung das Priestertum auftritt, ist es nicht nur eine Macht, sondern strebt es auch nach Macht und sucht diese Macht auch mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu behaupten und auszudehnen. Wo es also eine Priesterschaft gibt, gibt es auch - mehr oder weniger verhüllt - eine Priesterherrschaft und einen priesterlichen Machtwillen.

Wie aus der Geschichte zu ersehen ist, ist das Priestertum der bevorzugte Tummelplatz des sadomasochistischen Charakters. Die Unterwerfung unter die als allmächtig und allwissend oder zumindest jede menschliche Macht turmhoch überragend vorgestellte Gottheit, lässt die Priester einen Herrschaftsanspruch über die Menschen erheben, der keine Beschränkung kennt. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür unter vielen ist etwa die Bulle »Unam sanctam« des Papstes BONIFATIUS VIII. (Benedetto GAETANI, 1225-1303, Papst seit 1294) aus dem Jahr 1302, worin ausgeführt wird: „So erklären, sagen und bestimmen Wir, dass jedes menschliche Geschöpf dem Bischof von Rom unterworfen sein muss und dass dies ganz und gar heilsnotwendig ist.“36 Dieser Satz ist der krönende Schlusssatz eines Dokuments, das als Musterbeispiel narzisstischer Größen- und Allmachtsfantasien gelten kann. BONIFATIUS VIII. erhebt sich darin selbst zur Göttlichkeit, wenn er über die Autorität der Kirche – und damit seine Autorität meinend – schreibt: „Diese Autorität aber, auch wenn sie einem Menschen gegeben ist und von einem Menschen ausgeübt wird, ist nicht menschlich, sondern vielmehr göttlich: aus göttlichem Munde wurde sie dem Petrus und seinen Nachfolgern gegeben [...]. Wer sich jedoch dieser von Gott gegebenen Gewalt widersetzt, widersetzt sich der Anordnung Gottes.“37 Ihr Sadismus beflügelt die Fantasie der Priester auch bei der Ausmalung der Strafen, welchen denen drohen, die sich den priesterlichen Machtansprüchen widersetzen. Die von den Priestern in düsteren Farben gemalten Bilder einer Unterwelt oder Hölle erwiesen sich immer wieder als brauchbares Mittel zur Einschüchterung der Gläubigen. Dass die Lehre von der Hölle im Katholizismus kein totes Holz ist, zeigt sich immer wieder. Hierzu nur zwei Beispiele: In den sechziger Jahren verfasste Georges PANNETON (1892-1978) ein zweibändiges Werk über Himmel und Hölle, in

 


 

34 Peter Stiegnitz: Sekten und Freikirchen; Religiöse Antworten auf psychologische Fragen und Bedürfnisse? Wien: hpt-Verlag 1989. S. 43.
35 In vielen Märchen und Sagen stehen die vergessene magische Formel und die Gefahren, die daraus erwachsen können, im Mittelpunkt. Man denke nur an die Geschichte vom Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird.
36 „Porro subesse Romano Pontifici omni humanae creaturae declaramus, dicimus et definimus, omnino esse de necessitate salutis.” (Carl Mirbt: Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus. Tübingen: Mohr – Siebeck 31922, S. 164.)
37 „Est autem haec auctoritas, etsi data sit homini, et exerceatur per hominem, non humana, sed potius divina potestas, ore divino Petro data, sibique suisque successoribus [...]. Quicunque igitur huic potestati a Deo ordninatae resistit, Dei ordinationem resistit […]”. (Carl Mirbt: Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus. Tübingen: Mohr – Siebeck 31922, S. 163-164.)

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