Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

Seelenregungen hat. Da derartige Erfahrungen nicht auf einzelne Menschen beschränkt, sondern allgemein sind, wird diese Instanz mit einer überirdischen Sphäre in Verbindung gebracht. In polytheistischen Religionen nimmt diese Projektion des Über-Ichs in den Himmel beispielsweise die Gestalten der Erinnyen oder Furien an. In monotheistischen Religionen wird das Über-Ich zu den Eigenschaften der Allgegenwart und Allwissenheit Gottes.

Das Über-Ich strebt nach Vergeltung. Es verlangt, dass ein Missetäter den gleichen Schaden erleiden müsse wie den, den er angerichtet hat. Diese primitive Gerechtigkeitsauffassung – primitiv einerseits, weil sie den Gerechtigkeitsvorstellungen eines Kindes entspricht, und primitiv andererseits, weil sie nur in primitiven Gesellschaften anwendbar ist – bleibt vielfach das ganze Erwachsenenleben hindurch bestimmend. Darum ist es auch eher möglich, Zustimmung für die Todesstrafe oder schwere Kerkerstrafen zu erhalten als für Maßnahmen zur Betreuung und Wiedereingliederung Straffälliger in die Gesellschaft.

Das Über-Ich hat die Neigung, sich Ansichten von führenden und einflussreichen Personen zu eigen zu machen. Hierin zeigt sich das Wesen des Über-Ichs als Verinnerlichung der den Eltern gegenüber untergeordneten Stellung des Kindes ganz besonders deutlich. Jede in der Gesellschaftsordnung höhergestellte Persönlichkeit tritt für die anderen unbewusst in die Rolle des Vaters oder der Mutter ein, wodurch ihre Ansichten und Meinungen an Bedeutung und Gewicht gewinnen. „Tatsächlich hat die analytische Erfahrung [...] ganz klar ergeben, daß jeder, zu dem man als Älterem, als einem in der Position überlegener Weisheit, Autorität oder Fähigkeit Befindlichem aufblickt, unbewußt eine Elternfigur darstellt. [...] Der Präsident einer Republik wird unbewußt genauso als ein Vater betrachtet – wie Gott oder ein Diktator oder ein von Gott gesalbter König oder ein kaiserlicher Halbgott als Vater gilt.“19 Die Bezeichnungen „Landesvater“ für einen führenden Spitzenpolitiker oder „Heiliger Vater“ für das Oberhaupt der katholischen Kirche kommen also nicht von ungefähr.

Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass die genannten Funktionen und Eigenschaften des Über-Ichs in aller Regel den Menschen unbewusst bleiben. Nur wenige durchschauen wie beispielsweise Bertrand RUSSELL (1872-1970), dass „es aus vagen Erinnerungen an Vorschriften besteht, die man in früher Kindheit gehört hat, sodass es niemals klüger sein kann als das Kindermädchen oder die Mutter seines Besitzers.“20 Für die meisten Menschen sind hingegen die Ausdrucksformen des Über-Ichs als gesundes Volksempfinden, Achtung vor den Eltern oder Respekt vor Höhergestellten durchaus achtenswerte Charakterzüge.

Einige Worte zur psychischen Struktur des Menschen

Nachdem nun schon so viel vom Über-Ich die Rede war, ist es an der Zeit, einige Worte über das psychoanalytische Modell der psychischen Struktur zu sagen, das den vorliegenden Ausführungen zu Grunde liegt. Gemäß diesem Modell besteht die Gesamtheit der menschlichen Psyche aus drei Gruppen oder Strukturen psychischer Inhalte oder Abläufe, die in gegenseitigem Wechselspiel zueinander stehen und dadurch das Verhalten des Menschen lenken. Sigmund FREUD nannte diese Strukturen das Es, das Ich und das Über-Ich.21

Das Es ist der Teil der Psyche, der alle Triebe beinhaltet. Das Es entwickelt sich bereits gegen Ende der vorgeburtlichen Entwicklung des Menschen und umfasst unmittelbar nach der Geburt die gesamte Psyche des Menschen. Da das Es aber gleichsam blind und taub ist, kommt es gleichlaufend mit der zunehmenden Verfeinerung der Sinneswahrnehmungen zur Herausbildung des Ich aus dem Es. Das Ich übernimmt unter dem Eindruck der vorhin beschriebenen narzisstischen Kränkungen, beginnend etwa ab dem sechsten bis achten Lebensmonat, gleichlaufend mit der Ausbildung der Sinnesorgane die Aufgabe, die Triebwünsche des Es auf ihre Erfüllungsmöglichkeiten unter den Bedingungen der Wirklichkeit zu überprüfen, um sie entweder zu befriedigen oder auf Ersatzbefriedigungen umzuleiten oder sie auch zu unterdrücken, wenn die Befriedigung unmöglich erscheint. Ab dem zweiten oder dritten Lebensjahr sind diese Funktionen des Ich am Verhalten des Kindes bereits deutlich erkennbar und sie entfalten sich in den folgenden Lebensjahren noch weiter. Je mehr sich das Ich jedoch entfaltet und die umgebende Wirklichkeit erkennt, um so mehr gerät es auch mit den nach unverzüglicher und unbedingter Erfüllung heischenden Triebwünschen des Es in Widerstreit.

Wie bereits beschrieben, legt sich als Folgewirkung der erzieherischen Einflüsse der Eltern und der Gesellschaft in Gestalt der Verwandten, später des Kindergartens und der Schule etwa ab dem fünften bis sechsten Lebensjahr über Es und Ich als weitere Struktur der Psyche das Über-Ich. Das Über-Ich verritt gleichsam gegenüber dem Ich wie auch dem Es die Ansprüche der Gesellschaft an das Verhalten des Menschen und setzt das Ich damit einem zusätzlichen Druck bei seinen Bemühungen um einen Ausgleich zwischen den Triebwünschen des Es und den Erfüllungsmöglichkeiten in der Wirklichkeit aus. Finden diese erzieherischen Einflüsse nun unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und familiären Begleitumständen statt, die auf die Unterdrückung der freien Entfaltung der Persönlichkeit des



19 Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 196.
20 Bertrand Russell: Warum ich kein Christ bin (Why I am not a Christian and Other Essays on Religion and Related Subjects, 1957). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968. S. 81.
21 Die Darlegungen über die psychische Struktur folgen Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 40-61. Neuere Auffassungen über die psychische Struktur vor allem aus evolutionstheoretischer Sicht bietet Christopher Badcock: Psychodarwinismus; Die Synthese von Darwin und Freud (PsychoDarwinism; The New Synthesis of Darwin & Freud, 1994). München, Wien: Hanser 1999, S. 119-150.

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