Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins
der oder die Verletzte im Kreis der letzten Endes immer in einer Enttäuschung endenden wunscherfüllenden Fantasien gefangen.85
Der andere Weg, Rache zu nehmen, ist der Weg des Helden. „Das vornehmste Ziel des Helden ist die Heilung“, führt Bernd NITZSCHKE (geb. 1944) in diesem Zusammenhang aus, „die allerdings gegen die Einsicht in die Unmöglichkeit einer Wiederherstellung der vortraumatischen Unverletztheit erreicht werden soll. Der Held besteht vielmehr auf der Verwirklichung seiner wunscherfüllenden Phantasien. Das heißt, der Held will nicht Heilung, er will das Heil. Er will keine Versöhnung, er will Erlösung. Also darf der Held auch kein Mensch bleiben, der seine Endlichkeit und Verletzlichkeit akzeptiert. Er muß vielmehr zum Übermenschen, zum Illusionisten werden, dem es scheinbar gelingt, die Realität zu korrigieren. So wird der Held zu Schöpfer einer illusionären Welt, in der er sich als unverletzter Mensch neu erzeugen will.“86Obwohl die allgemeine Lebenserfahrung jedem Menschen immer wieder vor Augen führt, dass der Weg des Helden letzten Endes ein Holzweg ist, bleibt der Zauber, den der Held auf die Menschen – vielleicht auch nur überwiegend auf die Männer – ausübt, ungebrochen. Von den Heldensagen der alten Mythen, über die Literatur und den Film bis zu den Comics spannt sich der Bogen der Heldendichtung über die Jahrtausende. Woran liegt das?
Einen Erklärungsansatz hierfür bot Sigmund FREUD im Jahr 1909 mit seiner kleinen Schrift »Der Familienroman der Neurotiker«. In diesem Aufsatz geht FREUD von dem Umstand aus, dass jedes Kind im Zuge der elterlichen Erziehungshandlungen Kränkungen seines Narzissmus hinnehmen muss. Das noch im primären Denken verhaftete Kind versucht nun, in wunscherfüllenden Fantasien seine darob „geringgeschätzten Eltern loszuwerden und durch in der Regel sozial höher stehende zu ersetzen. Dabei wird das zufällige Zusammentreffen mit wirklichen Erlebnissen (die Bekanntschaft des Schloßherrn oder Gutsbesitzers auf dem Lande, der Fürstlichkeit in der Stadt87 ausnützt. Solche zufälligen Erlebnisse erwecken den Neid des Kindes, der dann den Ausdruck in einer Phantasie findet, welche beide Eltern durch vornehmere ersetzt.88 Dabei geht es im Grunde dem Kind gar nicht darum, seine Eltern tatsächlich zu beseitigen oder zu ersetzen, denn es ist leicht erkennbar, „daß diese neuen und vornehmen Eltern durchwegs mit Zügen ausgestattet sind, die von realen Erinnerungen an die wirklichen niederen Eltern herrühren, so daß das Kind den Vater eigentlich nicht beseitigt, sonder erhöht. Ja, das ganze Bestreben, den wirklichen Vater durch einen vornehmeren zu ersetzen ist nur der Ausdruck der Sehnsucht des Kindes nach der verlorenen glücklichen Zeit, in der ihm sein Vater als der vornehmste und stärkste Mann, seine Mutter als die liebste und schönste Frau erschienen ist.“89
Während es bei einer durchschnittlich normal verlaufenden Entwicklung des Kinde zu einer schrittweisen Verarbeitung der unvermeidlichen Verletzungen des narzisstischen Größenselbst durch die Eltern und zur Ausformung und Annahme eines wirklichkeitsnahen Elternbildes kommt, bleiben bei dar nicht so wenigen Menschen Haftungen, Fixierungen, an die Fantasien über ideale Eltern zurück. Mit Hilfe dieser Fantasien und der Identifikation mit dem fantastischen Helden-Vater sollen dann die nicht bewältigten Gefühle der Hilflosigkeit, Ohnmächtigkeit und Minderwertigkeit überwunden und beseitigt werden. All das gelingt ja auch – aber nur in der Fantasie und nur für kurze Zeit. Darum bedürfen die Menschen – und das zeigen die dauernden Erfolge der Western-, Kriminal- und Fantasy-Literatur wie auch der „heldisch“ auftretende Politiker deutlich – immer neuer Heldengestalten, an deren Stärke, Größe und siegen sie in der fantasierten Identifikation teilhaben und damit selbst für einige Zeit stark, groß und sieghaft sein können.
Mit seinem großsprecherischen Auftraten macht sich der „heldische“ Politiker zum Identifikationsobjekt für die Unzufriedenen; die sich in ihrer Bedeutung verkannt sehen, für die Modernisierungsverliererinnen und Modernisierungsverlierer, deren zunehmend bedrohte gesellschaftliche Stellung von der Allgemeinheit mit mehr oder weiniger Bedauern zur Kenntnis genommen wird, und für die sich ausgegrenzt Fühlenden, weil sie treu bleiben, wenn alle untreu werden, für alle also, deren Lebensumstände es ihnen nicht gestatten oder geraten erscheinen lassen, selbst großsprecherisch zu sein. Alle die genannte fühlen sich von Umständen behindert, bedrängt und bedroht, gegen die anzukämpfen sie sich entweder zu schwach fühlen oder es bereits aufgegeben haben.
Der „heldische“ Politiker blickt seinerseits in der Regel auf eine ähnliche Lebensgeschichte zurück und kämpft einen ähnlichen Kampf. Meist hat er eine strenge Erziehung erfahren, die auf Traditionsverbundenheit, Mannestum und Härte ausgerichtet war und es ihm als Heranwachsendem verwehrt hat, zu einer selbstständigen und selbstbewussten Persönlichkeit zu werden. Er steht daher zeitlebens unter dem Druck der ihm zwar aufgezwungenen, aber auch verinnerlichten Wertvorstellungen, denen er in einer hassliebe verbunden ist, da er sie weder vorbehaltlos anerkennen noch endgültig verwerfen kann. Aus einer derartigen Spannungslage heraus entwickelt sich das Persönlichkeitsbild des
85 An dieser Stelle sei angemerkt, dass auch der Vollzug der Rache am Verursacher oder der Verursacherin einer Verletzung keine Lösung ist. Eine angemessene Vergeltung kann im Augenblick ihrer Übung vielleicht Genugtuung verschaffen, den eine vergoltene Verletzung bleibt anders in Erinnerung als eine, die man ohnmächtig hinnehmen hat müssen. Der Zustand der Unverletztheit kann aber nicht wieder hergestellt werden. Es ist lediglich eine neue Verletzung verursacht worden, die nun ihrerseits Vergeltung erheischt.
86 Bernd Nitzschke: Männerhelden, die einsamen Rächer; Über das Verhängnis, sein eigener Vater werden zu wollen und dabei zu scheitern. In: Anton Szanya (Hg.): Elektra und Ödipus; Zwischen Penisneid und Kastrationsangst. Wien: Picus Verlag 1995, S. 124-125.
87 In unserer Zeit liefern wohl Fernsehen und Film die Ersatzfiguren für die Eltern.
88 Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker (1909). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IV: Psychologische Schriften. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 224.
89 Sigmund Freud: Der Familienroman der Neurotiker (1909). In: Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey (Hg.): Sigmund Freud – Studienausgabe. Bd IV: Psychologische Schriften. Frankfurt am Main: S. Fischer 81997, S. 226.