Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

 

Hysterikers. in seiner tatsächlichen Ohnmacht sieht sich der Hysteriker „auf den ‚Willen zum Schein’ verwiesen [...]. Mehr scheinen als sein ist die Parole, [...] die [...] den Menschen nicht danach beurteilt, was er ist, sondern was er hat und was er vorstellt, und somit jedermann nahelegt, Selbst- und Fremdtäuschungen zur Eigenwertbestätigung zu benützen.“90

Der „heldische“ Politiker weicht daher der wirklichen Welt aus, indem er eine Scheinwelt mit Scheinbedrohungen schafft, die im politischen Kleid des Komplotts der vereinigten Linken, des Weltjudentums oder der Bonzen und Abkassierer daherkommen können. Gegen diese Scheinbedrohungen wendet er dann seinen Heldenmut, den er in der „großen Szene“, wie sie sich in Bierzelten, auf Massenkundgebungen oder auf Parteitagen bietet, breitenwirksam vorführt und wo ihn ein gläubiges und hingabebereites Publikum als den annimmt, der für es und an seiner statt den Kampf gegen die Unbill der Welt aufnimmt.

Die andere Rolle, die Politikerinnen und Politiker vor allem in Demokratien gerne annehmen, ist die des Magischen Helfers. Sie sprechen damit Menschen an, „deren ganzes Leben auf eine subtile Art an eine Macht außerhalb ihrer selbst gebunden ist. [...] Von ‚ihr’ erwarten sie Schutz, von ‚ihr’ möchten sie behütet werden, ‚sie’ machen sie aber auch verantwortlich für alles, was bei ihrem Tun und Treiben herauskommt. Oft ist sich der Betreffende dieser Abhängigkeit keineswegs bewußt. Wenn er sie auch irgendwie ahnt, hat er doch von der Person oder Macht, von der er abhängig ist, oft nur eine unbestimmte Vorstellung. Er hat kein deutliches Bild von ihr. Ihre Haupteigenschaft besteht darin, daß sie eine bestimmte Funktion erfüllt, nämlich den Betreffenden zu beschützen, ihm zu helfen und ihn voranzubringen, immer an seiner Seite zu sein und ihn nie zu verlassen. Man kann dieses ‚X’, das diese Eigenschaften besitzt als den magischen Helfer bezeichnen. Häufig ist der magische Helfer personifiziert: Mann stellt ihn sich als Gott vor, als ein Prinzip oder auch als wirkliche Personen, wie etwa seine eigene Eltern, seinen Mann, seine Frau oder seinen Vorgesetzten“91 oder eben auch als Politiker. Die Vorgänge im Seelenleben, die im Zusammenhang mit den Vorstellungen eines magischen Helfers ablaufen, wurden auch als „Goldene Fantasie“92beschrieben.

Politiker – Politikerinnen meiden auffälligerweise diese Art der Selbstdarstellung – schlüpfen nicht ungern in die Rolle des Magischen Helfers, ja mehr noch, diese Rolle scheint für sie richtiggehend maßgeschneidert zu sein. Sie erspart es ihnen nämlich, sich allzu offensichtlich in Widerspruch zum demokratischen Gleichheitsgrundsatz zu setzen. Sie begeben sich vielmehr in eine mehr väterliche Position, die das Machtgefälle zwischen ihnen und den andern Menschen nicht in seiner ganzen Schroffheit erkennen lässt. Gefördert wird die Erhöhung des Politikers zum Magischen Helfer durch seine fast allgegenwärtige Anwesenheit in der bildgeprägten Mediengesellschaft, die unterschwellig aber wirksam den primären Denkprozess anspricht. Dem Politikerporträt in den Zeitungen, auf Plakaten und im Fernsehen kommt die gleiche manipulative Wirkungsabsicht zu wie den Heiligenbildern auf den Bildstöcken am Wegesrand.

Das Ziel ist die Idylle

Ob Politiker nun als Strahlende Helden oder als Magische Helfer auftreten – Politikerinnen wählen für sich eher die Rolle der Großen Mutter –, sie versprechen immer die Erfüllung der narzisstischen Ursehnsucht nach der Idylle. Unterschiede gibt es lediglich in ihren Erscheinungsformen, die sich de nach Ideologie und Zeitgeschmack ergeben. Ob die Idylle als klassenlose Gesellschaft, als ständische Ordnung oder als freie Vereinigung der gleichen vorgestellt wird, hinter all diesen Bildern steht der Wunsch nach einem „Ende der Geschichte“93 und ihren Umwälzungen und Umstürzen. In dieser Sehnsucht treffen Religion und Ideologie wieder zusammen. Dem endzeitlichen Paradies in einem jenseitigen Himmelreich der Religionen entspricht das irdische Paradies einer gerechten menschlichen Gesellschaft. Das heißt, dass die Allmachtsfantasien und Harmoniewünsche des kindlichen Narzissmus in der „wissenschaftlichen“ Form der Religion beziehungsweise Ideologie ihren Ausdruck finden. Da diese Fantasien und Wünsche weder untereinander noch mit den Gegebenheiten der Umwelt in Einklang stehen, müssen sie zwangsläufig immer scheitern, wodurch immer neue Religionen und Ideologien hervorgerufen werden mit all den schlimmen Folgen für die Menschen, die in ihren auf einer kindlichen Entwicklungsstufe festgefahrenen, nur ein Entweder-Oder kennenden Denkmustern begründet sind. Aus diesem Kreislauf gilt es herauszutreten, wozu der Pädagoge Gustav WYNEKEN (1875-1964) mit den Worten aufforderte: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ward: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Ich aber sage euch: Wenn ihr nicht endlich aufhört, zu sein wie die Kinder, werdet ihr nicht das Reich des Menschen bauen.“94

 


 

90 Josef Rattner: Tiefenpsychologie und Politik; Einführung in die politische Psychologie. Freiburg im Breisgau: Rombach 1970, S. 125. Hervorhebungen im Original.
91 Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit (Escape from Freedom, 1941). Frankfurt am Main, Berlin: Ullstein 1987, S. 153. Hervorhebungen im Original.
92 Sidney Smith: The Golden Fantasy; A Regressive Reaction to Separation Anxiety. In: International Journal of Psycho-Analysis, 58. Jg. (1977), S. 311-324.
93 Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte; Wo stehen wir? (The End of History). München: Kindler 1992. In diesem Buch versucht FUKUYAMA (geb. 1952) im Anschluss an die Geschichtsphilosophie Georg Wilhelm Friedrich HEGELS (1770-1831) den Nachweis zu führen, dass mit der endgültigen Durchsetzung der liberalen Demokratie das Ende des von Kämpfen geprägten historischen Ablaufs eintreten würde.
94 Gustav Wyneken: Abschied vom Christentum; Ein Nichtchrist befragt die Religionswissenschaft (1963). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1970, S. 259.

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