Religionen und Ideologien – Zwei Erscheinungsformen falschen Bewusstseins

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von Dr. Anton Szanya

ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, dass sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz und Ordnung. Die Tatsache, dass sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert.“80 Wenn Günter GRASS (geb. 1927) einmal darüber spöttelte, dass so „viele vom Proletariat wie von einer Marienerscheinung schwärmen“81, so kritisierte er damit die Entwicklung der marxistischen Philosophie zu dem, was Irakli DSCHORDSCHADSE, der Präsident der Stalin-Gesellschaft, offen aussprach, als er Josef W. STALIN (eigentlicher Name DSCHUGASCHWILI, 1879-1953) als den Mann pries, der „den Leninismus geschaffen hat, die Leninsche Religion“.82 Damit hat sich der Kreis geschlossen. Die letzten Epigonen geben unumwunden, wenn auch wohl unbeabsichtigt zu, dass sie den Marxismus zu dem gemacht haben, das zu beseitigen sein Begründer angetreten ist – zu Opium.

Ideologie und Religion

Irakli DSCHORDSCHADSE hat damit aber auch ausgesprochen, dass zwischen Religion und Ideologie kein wesentlicher Unterschied besteht. Beide haben ihren Ursprung in den narzisstischen Kränkungen und den daraus erwachsenden Grundbedürfnissen nach der Gewissheit der Sinnhaftigkeit des eigenen Daseins und der Welt und nach der Gewissheit, dass die Welt geordnet und beherrschbar ist. ist die mythische Grundlage der Suche nach diesen Gewissheiten auf ein wie auch immer geartetes Jenseits ausgerichtet, nimmt sie die Formen der Religion an, steht hingegen die Bewältigung des Diesseits im Vordergrund, kleidet sie sich in die Denkmuster der Ideologie. So macht es vom tiefenpsychologischen Standpunkt aus betrachtet keinen Unterschied, ob eine Prozession mit Ikonen von Göttern oder Heiligen oder mit Bildern von Politikern durch die Straßen ziehen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass Menschen Bücher, mögen sie nun »Thora«, »Bibel«, »Koran« oder »das Kapital« oder »Worte des Großen Vorsitzenden« heißen, zum Fetisch erheben und meinen, nur in diesen die Wahrheit finden zu können.

Strahlende Helden und Magische Helfer

Auf den ersten Blick überraschend mag die Feststellung sein, dass die enge Verwandtschaft zwischen Religion und Ideologie auch in den Rollen, die Priester und Politiker in der Gesellschaft innehaben, zum Ausdruck kommt. „So wie die Religion den Glauben an einen väterlichen Beschützer lehrt, und dem Menschen damit erlaubt, sein aus der Kindheit stammendes Abhängigkeitsbedürfnis vom Vater zu befriedigen, so erspricht die Politik“ – oder im hier behandelten Sinne die Ideologie – „dem Bürger Ähnliches, indem der Spitzenpolitiker als Repräsentant der Vollkommenheit zur Projektionsfläche magischer Wünsche und zum Garanten für das Beseitigen jeglicher Gefahrenquelle und für das Bewerkstelligen von scheinbar Unmöglichem wird.“83 Religion und Ideologie rufen immer wieder die vergessenen und verdrängten Wünsche und Triebe der Kindheit wach und versuchen, die Familiensituation der Kindheit nachzubilden. „Tatsächlich hat die analytische Erfahrung [...] ganz klar ergeben, daß jeder, zu dem man als Älterem, als einem in der Position überlegener Weisheit, Autorität oder Fähigkeit Befindlichem aufblickt, unbewusst eine Elternfigur darstellt. Religiöse und atheistische politische Regierungssysteme stehen in dieser Hinsicht keineswegs allein da. Jede Bürokratie wird nicht bloß von oben aufgezwungen. Sie wird auch von unten gestützt [...] Der Präsident einer Republik wird unbewusst genauso als ein Vater betrachtet – wie ein Gott oder ein Diktator oder ein von Gott gesalbter König oder ein kaiserlicher Halbgott als Vater gilt.“84 Dass Priester gegenüber die Anrede „Vater“ gebraucht wird, ist ebenso ein Hinweis darauf, wie die Bezeichnung „Landesvater“ oder „Landesmutter“ für volkstümliche Politiker oder Politikerinnen. Dem kindlichen Selbstverständnis entsprechen denn auch die Rollen, in denen Politiker und Politikerinnen sich nur zu gern zeigen.

Eine dieser Rollen ist die des Strahlenden Helden. Die Gestalt des Helden ist ein Erzeugnis des Wunsches nach Rache. Rache ist der Wunsch, eine seelische oder körperliche Verletzung, die man in einem Zustand der Wehrlosigkeit hat hinnehmen müssen, zu vergelten. im Vollzug der Rache soll die Vergeltungshandlung, die im Augenblick der Verletzung angemessen gewesen wäre, aber unmöglich war, nachträglich ausgeführt werden. Dies kann etwa durch wunscherfüllende Fantasien geschehen, in denen die Situation der Verletzung und die Vergeltung, die ihr angemessen gewesen wäre, immer neu durchgespielt und in ein Erlebnis des Sieges umgewandelt werden. Durch diese Ersatzbefriedigung wird die Einsicht, dass die in Wirklich tatsächlich eingetretene Verletzung nicht ungeschehen gemacht werden kann, vorübergehend ausgeblendet. Ein anderer ersatzweiser Ausweg aus dieser Lage ist es, die Vergeltungshandlung an unterlegenen Dritten auszuüben. „Wenn man den Herren nicht prügeln kann, dann prügelt man eben seinen Hund“, beschreibt der Volksmund diese Art des Rachenehmens. Da aber durch derartige Ersatzhandlungen die Verletzung nicht ungeschehen gemacht werden kann, bleibt

 


 

80 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch; Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (The One-Dimensional Man; Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society, 1967). Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 201985. S. 267.
81 Günter Grass: Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand 1972. S. 52.
82 Stalin-Gesellschaft gegründet. In: Der Standard, 19.1.1990, S. 5.
83 Sigrun Roßmanith: Der magische Helfer; Der Spitzenpolitker in den Augen der Menschen. In: Anton Szanya (Hg.): Politik auf der Couch; Über die unbewußten Antriebe öffentlichen Handelns. Wien: Picus Verlag 1992, S. 88.
84 Charles Brenner: Grundzüge der Psychoanalyse. (An Elementary Textbook of Psychoanalysis, 1972). Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 201999, S. 196.

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