Anfänge bürgerlicher Ideologie

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von Dr. Anton Szanya

Umständen folgenschwer einzugreifen. Nur der neue Mensch, der Renaissancemensch, kann, darf und soll verantwortliche politische Entscheidungen treffen.

Die Bewertung des Staates bei Bruni

Da der Mensch allein auf sich gestellt schwach und unvollkommen sei, bedürfe er des Staates und der bürgerlichen Gemeinschaft, um zu einem vollwertigen Wesen zu werden, wurde BRUNI einige Absätze früher zitiert. Weil nun der Mensch in einem derart hohen Maß vom Staat abhängig ist, wäre nach Meinung Lionardo BRUNIS der Staat der einzige und alleinige Bezugspunkt und Inhalt des menschlichen Lebens. „Der Staat ist nämlich der Herr des Lebens und der Vervollkommner der menschlichen Talente. Er verteilt nämlich die Aufgaben unter den Bürgern, er sorgt für alle Notdurft, er weist alles Schädliche ab und er führt aus der Gemeinschaft den Schwächen der einzelnen Unterstützung zu, sodaß schließlich jene Pflichten der Menschen, die durch seine Anordnung und seinen Befehl bestehen, als angemessen anzusehen sind.“84

Es lag somit für BRUNI in jedermanns Interesse, sich am staatlichen Leben zu beteiligen und sich damit selbstverständlich dem Dienst am Staat zu widmen, wenn man Vollkommenheit strebte. Ja, es ließe sich sogar sagen, daß derjenige, der sich von allem menschlichen Umgang zurückzieht, dem Staat und der Gemeinschaft schadete, weil er ihnen seine Begabungen und Fähigkeiten vorenthielte, mit welchen die Mängel anderer ausgeglichen werden könnten.

Das Vorbild dieses Staates, dem der Mensch sich so vorbehaltlos verschreiben mußte, war der Staat der alten Römer, die römische Republik. Das Lob ihrer großen Männer, allen voran und in erster Linie eines M. TULLIUS Cicero zu singen, wurde BRUNI nicht müde. In diesem Staat war, um ein geflügeltes Wort abzuwandeln, ein Mann noch etwas wert, und die Männer von Florenz, dieser ruhmreichen Tochter Roms, sollten ihnen nacheifern. Jeder Bürger sollte die politischen Bücher der alten Philosophen lesen, damit er ausreichend vorbereitet in das politische Leben treten konnte. Jeder Bürger mußte aber auch, da ihn BRUNI so vollständig den Herrschaftsansprüchen des Staates unterwarf, jederzeit bereit sein, ein Staatsamt zu übernehmen, wenn der Staat ihn rufen sollte. Einen persönlichen Eigenbereich, der dem Zugriff des Staates entzogen wäre, kannte BRUNI nicht. Vielmehr mußte ein Bürger seine privaten Interessen stets den staatlichen Erfordernissen unterordnen.

Nicht mehr Gott, den BRUNI nur mehr in stehenden Redewendungen erwähnte, nicht mehr die Kirche, deren Papst in seinen Augen nicht viel mehr war als ein Fürst unter Fürsten85, schon gar nicht Kaiser und Reich, sondern der Staat, insbesondere der bürgerliche Stadtstaat seiner italienischen Heimat stand für BRUNI im Mittelpunkt seiner Lebensanschauung. Welche gefährlichen Weiterungen ein folgerichtiger Ausbau dieser Gedanken für den Einzelmenschen nach ziehen könnte, hat BRUNI wohl nicht weiters erwogen. Die republikanische Staatsform seines in Ansätzen doch totalitären Idealstaates war ihm offenbar Garantie genug, daß die Freiheit seiner Bürger nicht beschnitten würde. Noch zu seinen Lebzeiten aber hat BRUNI erleben müssen, wie die Republik Florenz, die er so gern als Muster seines idealen Staates ansah, zur Domäne einer einzigen Familie, nämlich der MEDICI, werden konnte, ohne daß diese einen gewaltsamen Staatsstreich durchgeführt hätte.

Der Zwiespalt zwischen einer jenseitigen Berufung des Menschen und seiner politischen Tätigkeit, den Coluccio SALUTATI noch in vielen Briefen und langen Traktaten abgearbeitet hatte, kannte BRUNI nicht mehr. Indem er das Jenseits ganz in den Hintergrund drängte, setzte er dem Menschen nur ein Ziel und eine Berufung - den Staat. Diese Auffassung BRUNIS lebte, abgesehen von einigen geringfügigen Änderungen, die aber nie ihren Kern berührten, weiter und diente zuletzt auch noch als Stütze der totalitären Staatssysteme des Kommunismus und Faschismus. Nach dem Zusammenbruch dieser Staatsformen beeinflußt sie in der Gegenwart immer noch die Einstellungen vieler in Gestalt der Forderung, sich den Erfordernissen der Wirtschaft - was immer das ist und welche immer das sein mögen - zu unterwerfen.

Ausblick

In den vorangehenden Ausführungen ist überblickshaft dargestellt worden, wie m 14. Jahrhundert in Nord- und Mittelitalien Ereignisse eingetreten und Entwicklungen abgelaufen sind, die in vielen Menschen die Gewißheit, daß die Welt ein Kosmos in Gottes Hand sei, erheblich erschütterten. Damit schwanden, um in psychoanalytischen Begriffen zu reden, die väterlichen Dimensionen von Macht und Autorität, wie sie in einem über den Völkern und Reichen - super gentes et regna - thronenden Papst, dessen Titel und Anrede nicht zufällig Vater lauten, verkörpert waren. Angesichts dieses damit aufgetretenen Wertevakuums gewann zunehmend das narzißtische Streben nach einer mütterlichen, harmonischen, anheimelnden Welt die Oberhand. Ausdruck dieses Strebens ist das Auftreten säkularisierter Religionen, eben von Ideologien, die den Menschen versprechen, die Widerwärtigkeiten der Welt beseitigen zu können. Ideologien sind demnach verschiedene Arten einer narzißtischen Himmelfahrt.86 Diese Himmelfahrt kann auf zweierlei Art vonstatten gehen, entweder als Gruppenreise oder als Einzelunternehmung.

KOLLEKTIVISTISCHE IDEOLOGIEN

Kollektivistische Ideologien kommen dem narzißtischen Bedürfnis nach der Entgrenzung des Ichs und seinem Zusammenfließen mit der Welt sehr entgegen. Sie manifestieren sich demnach auch in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Sekten, in denen der einzelne seine Persönlichkeit an eine übergeordnete Autorität delegiert und zum Ausgleich dafür eine Gruppenidentität zurückerhält, die ihm Sicherheit und Stärke verleiht.

Auf der Ebene der rationalen Begründungsversuche für kollektivistische Ideologien stehen unter anderem auch die vielfältigen Versuche, Staatsmodelle zu entwerfen, in denen eine harmonische, konfliktfreie Gesellschaft beschrieben wird. Die ersten Vordenker in dieser Richtung waren bereits Coluccio SALUTATI und Lionardo BRUNI. SALUTATI hat sich in langem Bemühen aus der individualistischen Ethik der christlichen Barmherzigkeit, nach der individuelles Wohltun an individuellen Empfängern dieser Wohltaten die Übel der Welt

 


 

84 „Civitas enim totius vite cunctorumque humanorum munerum princeps est et perfectrix. Hec enim officia inter cives distribuit, necessaria providet, aliena repellit ac ex multorum cetu singulorum defectui supplementum inducit, ut illa demum sint recta hominum officia existimanda que ab illius ordine institutoque processerint.“ (Leonardo Aretini de militia ad Rainaldum Albicium libellus. In: Charles C. Bayley: War and Society in Renaissance Florence; The „De militia“ of Lionardo Bruni. Toronto: University Press 1961. S. 370.)
85 „... ad te, maximum videlicet optimumque gubernatorem, qui et spiritualiter universos regis et temporaliter multis civitatibus et populis et provinciis paterno regioque imperio dominaris.“ (Hans Baron: Leonardo Bruni, a.a.O. S. 70.)
86 Janine Chasseguet-Smirgel: Zwei Bäume im Garten; Zur psychischen Bedeutung der Vater- und Mutterbilder. Wien: Verlag Internationale Psychoanalyse 1988. S. 18.

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