Anfänge bürgerlicher Ideologie
anderen Möglichkeiten seiner Befriedigung suchen. Die Rückbesinnung auf die klassische Antike brachte für die Angehörigen der damals führenden Schichten denn auch eine recht zufriedenstellende Lösung dieses Problems zustande, nämlich den „Mythos vom Ruhm“11. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts begannen vereinzelte Machthaber, ihre Grabmale aus den Kirchen hinaus ins Freie zu verlegen. Das bekannteste Beispiel dafür lieferten die Herren von Verona CANGRANDE (gestorben 1329), ALBERTO und MASTINO II. (gestorben 1351) aus der Familie della SCALA, deren prunkvolle Grabstätten neben der Kirche Santa Maria Antica stehen und zu einer das Stadtbild prägenden architektonischen Einheit zusammengewachsen sind. Eine andere Ausdrucksform des Mythos vom Ruhm war der Aufschwung der Porträtmalerei und Porträtskulptur, weil viele bedeutende oder sich für bedeutend haltende Männer mit ihrer Hilfe ihre leibliche Erscheinung über die Zeiten hinweg bewahrt sahen.
DER BÜRGERHUMANISMUS
Der Blick zurück in die Antike hatte jedoch in dem Maße auch unmittelbar politische Auswirkungen, indem er sich vom Glanz des römischen Imperatorentums nicht mehr blenden ließ und der republikanischen Staatsform Roms und mit zunehmender Kenntnis der griechischen Geschichte auch des demokratischen Athens ansichtig wurde. Es waren vor allem die besonderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse Nord- und Mittelitaliens, die den Blick für diesen frühen Abschnitt der antiken Geschichte schärften. Seit dem 11. Jahrhundert erlebten diese Regionen Italiens einen stetigen Bevölkerungszuwachs. In seiner Folge kam es einerseits zu einem verstärkten Zuzug von Menschen in die Städte, von denen viele ihren Ursprung bis in die Antike zurückführen konnten, und zu umfangreichen Bodenverbesserungs- und Rodungsmaßnahmen, die von diesen Städten in ihrem Umland durchgeführt wurden, um dem steigenden Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten nachzukommen. Die daraus erwachsende Notwendigkeit, allfällige Überschußgüter auszuführen beziehungsweise in Mangelzeiten anderswoher die erforderlichen Güter zu bekommen, bewirkte die Ausgestaltung eines regen Handelsverkehrs, der im Verein mit dem Fernhandel zwischen dem Nahen Osten und Westeuropa, für den die italienischen Städte besonders seit den Kreuzzügen des 12. und 13. Jahrhunderts wichtige Umschlagplätze wurden, zur Ausbildung zweier Gesellschaftsschichten führte, deren Lebensinteressen zunehmend um irdische Dinge kreisten. der Kaufleute und der Juristen.12 Zur Bedeutung der Juristen der Juristen, die für die Beurkundung der Handelsgeschäfte und die Regelung von Streitfällen unentbehrlich waren, schrieb Denys HAY: „Die Wichtigkeit des Juristenberufs bedeutet auch, daß das Hauptinteresse in Italien auf das Konkrete gerichtet war, eher auf die praktischen Probleme der Regierung und Verwaltung als auf metaphysische und theologische Fragen. Das heißt auch, daß der Unterricht an den Universitäten auf ältere Studenten abgestimmt war und daß er sich zur praktischen Anwendung für die Erlernung der Redekunst vor Gericht eine Verknüpfung von Grammatik und Rhetorik zum Ziel gesetzt hat. Das bedeutet auch, daß die meisten dieser Studenten nicht einmal eigentlich Geistliche waren ... Die Betonung der Rechtsstudien begünstigte einen weltlichen Zug im geistigen Leben der Halbinsel, wenn nicht gar umgekehrt diese Betonung daraus entsprungen war.“13
Die Weiterentwicklung des allgemeinen Bildungs- und Wissensinteresses an der Antike zur politischen Ideologie erfolgte dann in Florenz, als die Stadtrepublik in den Jahren von 1397 bis 1402 fast allein auf sich gestellt den Angriffen des Giangaleazzo VISCONTI (1351 - 1402; Herr von Mailand seit 1378, Herzog seit 1395) standhielt und damit die Aufrichtung eines norditalienischen Königreiches vereitelte. Unter dem Eindruck dieser Kriegsjahre entstand die Ideologie des Bürgerhumanismus14, derzufolge allein die klassische Bildung und die daraus abgeleitete Staatsbürgertugend des Bürgertums zur Übernahme eines politischen Amtes und zur Ausübung von Macht berechtigten.
Coluccio Salutati - ein Mann zwischen Mittelalter und Neuzeit
Mit Coluccio SALUTATI (1331 - 1406) wurde die Hinwendung zur Antike für das politische Denken des 14. Jahrhunderts nachhaltig und für lange Zeit fruchtbar. Nach seinen juristischen Studien in Bologna schlug SALUTATI wie die meisten Männer seines Faches die politische Laufbahn in der Art ein, daß er in verschiedenen Orten Ober- und Mittelitaliens Notariatsstellen, Richterposten und Kanzlerämter bekleidete. Im Jahre 1375 wurde er zum Kanzler der Republik Florenz bestellt und hatte diese Stelle bis zu seinem Tode inne. Aus dem umfangreichen Schrifttum, das Coluccio SALUTATI hinterlassen hat, läßt sich sein Weg von der christlich-mittelalterlichen Lebensauffassung zu den neuen Bildungsinhalten beispielhaft nachvollziehen.
Von der „vita contemplativa“ zur „vita activa“
Coluccio SALUTATI war sich des Widerspruchs zwischen seinem Leben in der Öffentlichkeit und dem Leitbild eines Lebens in klösterlicher Weltabgeschiedenheit, wie es der nach dem Grundsatz des „vacare Deo“, des Freiseins für Gott, lebende, sich als „status perfectionis“, als der Stand der Vollkommenheit, verstehende Mönchsstand vorzeigte, bewußt. Immer wieder kreisten daher seine Gedankengänge auf der Suche nach einer sittlichen Begründung für sein politisches Wirken um diesen Widerspruch.
In seinen diesbezüglichen Überlegungen ging SALUTATI von einem idealen Urzustand aus, den er sowohl im Alten Testament als auch bei den antiken Schriftstellern beschrieben fand: dort ist es das Paradies, hier das Goldene Zeitalter. Trotz aller Unterschiede in der Darstellung dieser glücklichen Urzeit des Menschengeschlechts fand er zwei Gemeinsamkeiten: Die Menschen ernährten sich von den Früchten der Natur und sie mußten infolgedessen nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Die Menschen folgten in dieser fernen Vergangenheit daher noch ihrer gottgewollten Bestimmung und widmeten sich der Betrachtung der ewigen Dinge. Die Anachoreten der frühchristlichen Zeit, von denen wahre Wunder an Weltentsagung berichtet werden, und die Einsiedler in seiner Gegenwart strebten daher nach SALUTATIS Ansicht richtigerweise danach, diesem Idealzustand wieder möglichst nahe zu kommen, denn eine Lebensführung, die über eine Beschränkung auf das Notwendigste hinausgeht, ist vom Bösen.15
11 Ruggiero Romano, Alberto Tenenti: Die Grundlegung der modernen Welt; Spätmittelalter, Renaissance, Reformation. Frankfurt am Main: Fischer 1967. S. 124/125. (= Fischer Weltgeschichte, Bd 12.)
12 Ausführlicher über diese Entwicklung Daniel Waley: Die italineischen Stadtstaaten (The Italian City Republics). München: Kindler 1969. S. 13 - 56.
13 Denys Hay: Geschichte Italiens in der Renaissance (The Italian Renaissance in Its Historical Background, 1961). Stuttgart: Kohlhammer 1992. S. 66/67.
14 Dieser Begriff wurde in englischer Sprache („civic humanism“) geprägt von Hans Baron: The Crisis of the Early Italian Renaissance; Civic Humanism and Republican Liberty in an Age of Classicism and Tyranny. Princeton, NJ, 2 Bde 1955.
15 „Quicquid ultra est a malo.“ [Coluccio Salutati: De seculo et religione, ed. B. L. Ullman. Firenze o.J. S. 80. (= Nuova collezione di testi umanistici inediti o rari, Bd 12.)]