Anfänge bürgerlicher Ideologie
SALUTATI hing in dieser Hinsicht einer kulturfeindlichen Haltung an, da ohne Arbeit, die auf mehr als die kärglichste Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse abzielt, keine Kultur möglich ist. Arbeit, die über dieses Mindestmaß hinausgeht, ist zwangsläufig auf irdische Ziele gerichtet und darum auch eine Verfallserscheinung im Vergleich zur idealen Urzeit, weil sie die Menschen von ihrer alleinigen Sorge um ihr Seelenheil ablenkt und, indem sie Eigentum und Besitz schafft, auch noch voneinander trennt. „Damals wurden die früher nicht bekannten streitbehafteten Wörter eingeführt, die den Frieden der Sterblichen stören und auch den Menschen den Weg in den Himmel versperren, die Wörter, die die Urheber der Ruhmsucht und Streitsucht sind, nämlich ‘mein’ und ‘dein’.“16
Wenngleich der glückliche Urzustand ein für allemal vorbei ist und nicht mehr wiederhergestellt werden kann, sah sich SALUTATI als Christ dennoch verpflichtet, der ursprünglichen Berufung des Menschen nachzukommen. Diese liegt in der jedweder irdischen Tätigkeit abgewandten Betrachtung der ewigen Ding, in der „vita contemplativa“: „Ich weiß ..., daß das Leben jener, die die göttlichen Dinge, die über alles und vor allem zu schätzen wir angehalten und verpflichtet sind, betrachten, erhabener und vollkommener ist als das derer, die von Geschäftigkeit erfüllt sind. Weil jene Gott schauen und betrachten, diese aber ... dem Geschaffenen dienen und fronen ... Das beschauliche Leben ist vollkommener, ja es ist sogar von ununterbrochener Dauer, weil, wie die Wahrheit sagt, Maria den besten Teil gewählt hat, der nicht von ihr genommen werden wird ..., es ist erhabener durch die Höhe der Gedanken, es ist lieblicher durch die Süße der Ruhe und Meditation ..., es ist göttlicher, da es ja Göttliches eher als Menschliches zum Inhalt seiner Betrachtungen hat, es ist auch edler, da es den Verstand, den edleren Teil der Seele, übt, der einzig und allein dem Menschen zukommt unter den Lebewesen ...“17 SALUTATI gab sich dementsprechend auch sehr zerknirscht darüber, daß er nicht das bessere Leben gewählt hatte. „Ich schäme mich daher, ich schäme mich ..., das Unsterbliche dem Sterblichen zu unterwerfen, dem Fleische zu verfallen und der Vernunft nicht zu glauben. Ich schäme mich deswegen, weil es die Art der Tiere ist, von den Sinnen gelenkt zu werden, es aber eine Eigenschaft des Menschen ist, dessen erhobenes Antlitz in den Himmel blickt, die Sinne zu besiegen, der Welt zu entsagen und den Himmel zu erstreben.“18 Ganz in der Tradition der christlichen Weltanschauung war für Coluccio SALUTATI die „vita contemplativa“ die vollkommene Lebensform des Menschen, die ihm allein angemessen wäre. Er erhob sie in die Sphäre der Engelsgleichheit: „Wenn aber der Trieb ohne Zwang widerstandslos mit dem Verstande zusammenwirkt, dann geht dieses Leben über das Maß des Menschen hinaus und es muß engelsgleich genannt werden und nicht menschlich.“19
Unversehens klang da in SALUTATIS Hohem Lied der „vita contemplativa“ ein falscher Ton an. Hier, an dieser Stelle, setzte auch die Wende in SALUTATIS Denken ein. Denn welcher Mensch kommt schon der Seelenstärke und Erkenntnisfähigkeit eines Engels nahe? Keiner. Somit erscheint auch kein Mensch zum kontemplativen Leben berufen. Wenn diese Lebensform ein so hohes, so unerreichbares Ideal ist, dann ist es letzten Endes auch unvernünftig, seine Bemühungen auf die Erreichung dieses Zieles zu richten. So kam SALUTATI denn auch zu dem Schluß: „Ich gebe zu, daß das beschauliche Leben wohl besser, doch nicht immer und für alle annehmbarer ist. Von geringerem Wert ist das tätige Leben, aber für den, der vor die Wahl gestellt ist, viel öfter vorzuziehen.“20
Wenn nun das Ideal der „vita contemplativa“ fragwürdig zu sein schien, mußte die tatsächliche Bestimmung des Menschen doch in der „vita activa“ liegen. Ja mehr noch, es schien SALUTATI auch gar nicht wünschenswert, daß sich jemand in so vollkommenem Maß der Kontemplation verschreibt. „Wird nicht ein in Betrachtung Versunkener“, so fragte er, „ein ganz Gott Zugewandter, so sein, daß ihn das Unglück seines Nächsten nicht bewegt, daß er über den Tod seiner Angehörigen nicht trauert, daß er über den Untergang des Vaterlandes nicht klagt? Wer schließlich so wird und sich so vom Umgang mit den Sterblichen fernhält, der kann nicht als Mensch angesehen werden, sondern nur mehr als ein Baumstamm und unnützes Holz, als steinige Klippe und härtester Fels ...“21
Dieser Zweifel SALUTATIS am Wert der „vita contemplativa“ wurde aus zwei Quellen gespeist. Die eine war die christliche Nächstenliebe, die eine Weltabgewandtheit, die zur Gleichgültigkeit gegenüber dem Los der Nächsten führt, für bedenklich halten mußte. Die andere entsprang der antiken Philosophie, die den Menschen als gesellschaftsverbundenes Wesen ansah, dem das Schicksal der Gemeinschaft, in der er lebt, ein Anliegen sein muß. Auf diesen beiden Ebenen entfaltete SALUTATI seine Verteidigung der „vita activa“:
Von christlicher Warte aus gesehen, wäre die Entscheidung eines Menschen für die „vita contemplativa“ nur zu billigen, wenn das beschauliche Leben dem Seelenheil wirklich dienlich wäre. Dies wäre aber nicht der Fall, wenn man sich aus unrechten Motiven aus der
16 „Sublata tunc erant, imo nondum reperta, illa duo litigiosa vocabula que mortalium pacem perturbant queve claudunt hominibus viam in celum, que sunt avaricie famites et contentionum autores, scilicet ‘meum’ et ‘tuum’.“ (Coluccio Salutati: De seculo, a.a.O. S. 81)
17 „scio ... sublimiorem et perfectiorem esse vitam contemplantium illud divinum obiectum, quod super et ante omnia debemus et iubemur diligere, quam eorum qui sunt in actionibus occupati. Siquidem illi Deum contemplantur et amant; isti vero ... ministrant et serviunt creature, .,.. sit contemplativa perfectior, quoniam sit adeo durationis continue, quod, sicut inquit Veritas, Maria optimam partem elegit, que non auferetur ab ea; ... sit sublimior altitudine cogitationum; sit suavior dulcedine tranquillitatis et meditationis; ... sit divinior, quoniam divina potius quam humana consideret; sit et nobilior, quoniam intellectum, nobiliorem anime partem, exerceat, qui singulariter inter animantia soli convenit homini, ...“ [Coluccio Salutati: Epistolario, ed. Franceso Novati. Roma 4 Bde 1891 - 1911. Bd III. S. 305. (= Fonti per la storia d’Italia, Bde 15 - 18)] Mit „Veritas“ meint SALUTATI Jesus Christus, mit Maria meint er die Schwester der Martha aus dem Evangelium nach Lukas (Lk 10; 38-42). Die Episode der Begegnung Jesu mit den Schwestern Maria und Martha wurde vorzugsweise als Allegorie für das Verhältnis des beschaulichen und des tätigen Lebens zueinander gedeutet. Die Stelle lautet: „Als dies geschehen ist, gingen sie weg und er kam in ein Dorf. Eine Frau, eine gewisse Martha mit Namen, nahm ihn in ihr Haus auf. Dort war auch ihre Schwester mit Namen Maria, die, während sie zu seinen Füßen saß, seinem Wort lauschte. Martha aber, die von der Bedienung ziemlich in Anspruch genommen war, stellte sich hin und sagte: ‘Herr, kümmert es dich nicht, daß es meine Schwester ganz mir überläßt, zu bedienen? Sage ihr, daß sie mir helfen möge.’ Und antwortend sagte ihr der Herr: ‘Martha, Martha, du bist geschäftig und sorgst dich um vieles, aber eines nur ist notwendig. Maria hat den besten Teil gewählt, der nicht von ihr genommen werden wird.’“ („factum est autem dum irent et ipse intravit in quoddam castellum et mulier quaedam Martha nomine excepit illum in domum suam et huic erat soror nomine Maria quae etiam sedens secus pedes Domini audiebat verbum illius Martha autem satagebat circa frequens ministerium quae stetit et ait Domine non est tibi curae quod soror mea reliquit me solam ministrare dic ergo illi ut me adiuvet et respondens dixit illi Dominus Martha Martha sollicita es et turbaris erga plurima porro unum est necessarium Maria optimam partem elegit quae non auferetur ab ea“ Lk 10; 38-42)
18 „Pudeat igitur, pudeat ... mortali immortale subicere, cedere carni, et non credere rationi. Pudeat quidem quia bestiarum est sensibus trahi, hominis vero, cuius facies in celum erecta conspicitur, proprium est vincere sensus, dimittere mundum, petere celum.“ (Coluccio Salutati: De seculo, a.a.O. S. 101/102.)
19 „Si autem imperio rationis ocioso appetitus cooperetur sine resistentia rationi supra statum hominis hec vita est et que angelica dici debeat, non humana.“ Coluccio Salutati: De laboribus Herculis, ed. B. L. Ullman. Turici 1951. S. 217. (= Thesaurus mundi; Bibliotheca scriptorum Latinorum mediae et recentioris aetatis)
20 „melior est contemplativa, fateor; non tamen semper nec omnibus eligibilior. inferior est activa, sed eligendo multotiens preferenda.“ (Coluccio Salutati: Epistolario, Bd III, a.a.O. S. 305.)
21 „eritne taliter contemplativus, totus conversus in Deum, quod super calamitate proximi non commoveatur, quod de morte coniunctorum non doleat et super excidio patrie non fremiscat? qui profecto talis foret et in hac conversatione mortalium se talem exhiberet, non homo reputandus esset, sed truncus et inutile lignum, lapidea rupes et durissimum saxum ...“ (Coluccio Salutati: Epistolario. Bd III, a.a.O. S. 306/307.)
.